Zusammenfassung
Hatten in der Novemberrevolution liberaldemokratisches Verfassungsverständnis und — auf Seiten des linken USPD-Flügels- Aufforderung, die Machtfrage zu stellen, miteinander konkurriert, so begünstige die permanente Bedrohung der Weimarer Verfassung zunehmend die Übernahme der Marx’schen Konzeption von der Verfassung als Ausdruck eines labilen Klassengleichgewichts. Die Kategorie des „Gleichgewichts“ wurde geradezu ein Topos sozialdemokratischer Verfassungsanalyse.150 Die Verfassung vom 11. August 1919 gab der liberal orientierten, pluralistischen sozialdemokratischen Grundüberzeugung einen angemessenen Ausdruck. Sie versuchte, die klassischen Verfassungsfunktionen zu realisieren — dies unter Anerkennung der Eigentumsordnung. Der erste von Preuß vorgelegte Entwurf erschöpfte sich weitgehend in der organisationsbezogenen Normierung von Regierungsstruktur und Entscheidungsprozessen. 151 Auf Initiative der Sozialdemokratie, insbesondere Eberts, wurde in den zweiten Verfassungsentwurf ein Grundrechtskatalog aufgenommen, der sich an der Paulskirchenverfassung von 1849 orientierte und damit die Kontinuität der demokratischen Bewegung dokumentierte und gleichsam den Auftag der „bürgerlichen Revolution“ erfüllte. 152 Im weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen erfolgte jedoch insofern eine epochale Ausweitung des liberalen Grundrechtskatalogs, als auf Initiative des sozialliberalen Abgeordneten Friedrich Naumann und des sozialdemokratischen Arbeitsrechtlers Hugo Sinzheimer den persönlichen und politischen Grundrechten, die traditionelle Rechte der Bürger gegenüber dem Staat berührten, Freiheit im liberalen Sinne konstituierten und politische Kommunikation und Willensbildung zu sichern hatten, ein Katalog sozialer Grundrechte beigesellt wurde, der innergesellschaftliche Handlungsräume als grundlegende Voraussetzungen politischer Mündigkeit reflektierte. Die Stellung des Individuums sollte nicht allein in der politisch-bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung geregelt und gesichert werden.153
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Literatur
Der Gleichgewichts-Topos macht sich dabei sowohl in der Faschismustheorie Thalheimers wie in der Verfassungstheorie von Ernst Fraenkel bemerkbar.
Vgl. dazu die von Miller u. Potthoff, Regierung der Volksbeauftragten, dokumentierten Beratungen über den Verfassungsentwurf von Preuß. Der Entwurf ebda., S. 249 ff.
Vgl. allg. Karl Dietrich Erdmann, Der Rat der Volksbeauftragten: Rätestaat oder parlamentarische Demokratie?, in: ders., Die Zeit der Weltkriege, Stuttgart 1976, S. 154 — 169.
Ebda., S. 211 — 218: Huber, Verfassungsgeschichte Bd. 5, S. 1178 ff. So- wohl Erdmann als Huber verzeichnen die wichtige Literatur vollständig.
M.E. liegt in dieser Kondifizierung der Zukunftsgestaltung der wichtige Unterschied zur Reichsverfassung von 1871, weniger im Fehlen bzw. der Aufnahme eines Grundrechsteils, der während des Kaiserreichs in der Regel in den einzelstaatlichen Verfassungen niedergelegt war.
Dazu Peter Steinbach, Grundwerteverfall und Systemstabilität: Das Ende von Weimar im Licht der aktuellen Grundwertediskussion, in: Politische Bildung 3/1979 (im Druck); ders., Grundwertekonsens in der Weimarer Republik?, in: Heinrich Oberreuter, Hg., Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1980 (im Druck).
Walter Bussmann, Politische Ideologien zwischen Monarchie und Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 190, 1960, S. 55 — 77; die Konzentration auf die monarchische Komponente des politischen Denkens in der Weimarer Republik scheint mir spezifischer und deshalb sinnvoller als die allgemeine Konstatierung eines obrigkeitsstaatlichen Bewußtseins, welches die deutsche politische Kultur charakterisieren soll.
Unübertroffen ist weiterhin Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik: Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1913 und 1933, München 19682; vgl. einführend auch Erdmann, Zeit der Weltkriege (Anm. 152), S. 287 ff.
Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, in: Friedrich, Hg., Verfassung (Anm. 12), S. 77 — 99, hier S. 86.
Der Begriff der,adoptierten Revolution’ stammt von Ernst Troeltsch, Spektator-Briefe: Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, Tübingen 1924.
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Steinbach, P. (1983). Die Weimarer Kompromiß — Verfassung. In: Sozialdemokratie und Verfassungsverständnis. Kleine politische Texte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95470-1_12
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