Zusammenfassung
Mit der Überwindung der Grenzen moderner Staatlichkeit greift die Europäische Union eine zur politischen Struktur geronnene Vorstellung des Mittelalters auf: Die Aufteilung von Souveränitäten auf verschiedene Instanzen und konkurrierende Formen der Machtausübung unter dem Dach einer einheitlichen politischen Ordnung knüpft an das Herrschaftsgefüge und Symbolsystem des Sacrum Romanum Imperium an, das Europa dominiert hat, bevor in Spätmittelalter und Renaissance die christlich-universalistische Idee der Einheit von Kaiser und Reich verblasste, eine weitgehend homogene Kultur sich zunehmend aufspaltete und im Westfälischen Frieden von 1648 das moderne Verständnis von ebenbürtigen Flächenstaaten sowie der territorialen Souveränität ihrer Herrscher besiegelt wurde. Das friedenspolitische Ziel Richelieus, nach dem grausamen Schlachten des Dreißigjährigen Krieges in den Verträgen von Münster und Osnabrück ein von allen europäischen Mächten garantiertes und dauerhaft tragfähiges „System kollektiver Sicherheit“ in Europa zu etablieren, scheiterte letztlich an kultureller Distinktion: an dem konfessionell begründeten Beharren Schwedens auf einem Interventionsrecht zugunsten der protestantischen Seite (vgl. Mann 1991, 226). Mit dem Prinzip der Vielfalt in der Einheit in Form der Konstellation „kulturelle Differenz vs. politische Einheit“ verbindet das Projekt der europäischen Integration in gewissem Sinne Mittelalter und Postmoderne (Güsgen 1998). Indem in den gegenwärtigen Prozessen einer Denationalisierung politische Macht aus den Mitgliedstaaten auf eine übergeordnete Ebene verlagert wird bzw. in komplexe supranationale Verhandlungssysteme und parastaatliche Netzwerke diffundiert, schrumpft die Kongruenz von politischem Verband und kultureller Gemeinschaft, die in den nachmittelalterlichen Nationalstaaten als systemstabilisierende Notwendigkeit angesehen und angestrebt wurde. Die Frage ist nun, inwieweit das „Identitätsexperiment Europa“2 auf ein Mindestmaß an kultureller Integration angewiesen ist, um über einen Wirtschaftsraum hinaus eine politische Gemeinschaft begründen zu können. Trägt die von Politikern häufig nur beschworene europäische Wertegemeinschaft die Legitimation supranationaler Herrschaft? Wodurch ist jene Konsenskultur definiert und kann sie Solidarität innerhalb der Union stiften? Entsteht im Prozess einer „Staatswerdung Europas“ (Wildenmann 1991 und Zellentin 1993) ein europäisches Staatsvolk mit einer gemeinsamen Identität und würde diese Entwicklung Frieden stabilisieren?
„Wenn ich heute den Aufbau Europas in Angriff nähme, würde ich bei der Kultur ansetzen.“1
Jean Monnet
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© 1999 Leske + Budrich, Opladen
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Bergem, W. (1999). Friedenspolitik und europäische Identität. In: Bergem, W., Ronge, V., Weißeno, G. (eds) Friedenspolitik in und für Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95181-6_1
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