Zusammenfassung
Das Erstarken regionalistischer Bewegungen in Westeuropa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung sehr häufig als die „dritte Welle“ nationaler Bewegungen begriffen — nach der „ersten Welle“ der Vereinigungsnationalismen im 19. Jahrhundert und der „zweiten Welle“ der Befreiungsnationalismen, die ihren Höhepunkt im Zusammenhang mit den Dekolonialisierungsprozessen zwischen den 30er und 60er Jahren dieses Jahrhunderts erreichten. Diese Einordnung trug zum einen zu der oftmals beklagten Verzögerung bei, mit der sich die Soziologie dieses Themas annahm. Zum anderen hat sie teilweise bis heute einen großen Einfluß darauf, wie sich Sozialwissenschaftler1 diesem Forschungsbereich annähern. „Nation“, „Nationalismus“ und „nationale Identität“ sind Konzepte, die in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zu zentralen Annahmen der modernen Sozialwissenschaften stehen: zu ihrem universalistisch ausgerichteten wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis und zu ihren modernisierungstheoretisch begründeten Prognosen über die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften. Dieses Spannungsverhältnis führte nicht nur dazu, daß die Soziologie vergleichsweise lange zögerte, dieses Thema als wichtigen Forschungsbereich anzuerkennen. Darüber hinaus konzentriert es die Diskussion immer wieder auf die Frage danach, ob und inwiefern „Nation“ als ordnungstheoretische Kategorie bzw. „nationale Identität“ als handlungstheoretische Kategorie für moderne Gesellschaften noch eine relevante Rolle spielen können.
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Literatur
Wie P. Anderson feststellt: „For forty years, the Federal Republic has combined the most farreaching regionalization of any West European state with perhaps the least regionalism as a public issue…“ (1994, 17).
Regional devolution in France, with its powerful tradition of uniform civil administration, so far seems rather to have ineffectually mimicked, than counteracted, Parisian centralism. (P. Anderson 1994, 29 )
Manche Autoren sind der Ansicht, daß die Bilanz soziologischer Forschung hier immer noch sehr mager ausfàllt. So behauptet z.B. Hondrich in seiner Kritik am Zustand des Faches vor dem Soziologentag 1992: „Was immer man den verschiedenen Soziologen-Schulen an Erkenntnis abgewinnen kann, am Ende stünde Ernüchterung: Sie haben zu dem, was die Welt heute bewegt, nichts zu sagen. Krieg und Gewalt, Volker und Nationen, die leidenschaftlichen Wir-Gefühle von Wertgemeinschaften kommen in ihnen nicht vor. “ (ZEIT vom 25. 09. 1992 )
Die derzeit wohl umfassendste Darstellung der Genese moderner Konzepte des Selbst und der damit verbundenen Probleme gibt Taylor (1989).
Ein Beispiel dafür, daß auch Systemtheoretiker diese Einschätzung mittlerweile nicht mehr uneingeschränkt teilen, sind z.B. Luhmanns Bemühungen, die folgenreiche Differenz von Inklusion und Exklusion verstärkt zu thematisieren (z.B Luhmann 1994 ).
Zu nennen wären hier z.B. Carlton Hayes, Hans Kohn, Friedrich Meinecke oder auch E. Kedourie. Ein Überblick über diese historische Forschungstradition findet sich bei Eley (1981).
Nicht zu vernachlässigen ist nach Tiryakian auch ein forschungspragmatischer Grund fur das wachsende Interesse der Sozialwissenschaftler an westeuropäischen „Nationalismusformen“: Sie eröffneten neue Möglichkeiten der Feldforschung fur Wissenschaftler, denen die Länder der Dritten Welt aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) zugänglich waren — sei es aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse, mangelnder Finanzierung oder auch, weil sie in vielen Ländern unter Neo-Kolonialismusverdacht fielen und zur persona non grata wurden (Tiryakian 1988).
Daß dieser Punkt für seine Theorie ein Problem darstellt, wird auch von Gellner selbst eingeräumt: „The emergence… of new regional nationalisms, not always fed by any genuine cultural differentiation, has on occation made me think my theory may be incomplete — but this remains an open question.“ (Gellner 1987, 144)
Eine Begriffsgeschichte sowie einen einftihrenden Überblick Ober Ethnizität als Forschungsgegenstand geben Glazer und Moynihan (1975, 1–26). Eine begriffsanalytische Auseinandersetzung mit Ethnizität gibt Connors Aufsatz A Nation is a Nation, Is a State, Is an Ethnic Group, Is a… (erstmals erschienen 1978, abgedruckt in Connor 1994, 90–117).
Die entscheidende Frage, die man sich angesichts dieser Entwicklungen stellen müsse, lautet seiner Meinung: „How many examples come to mind of a strong,state-nationalism` being manifested among a people who perceive their state and their nation as distinct entities?“ (Connor 1994, 42)
So stellt Connor in kritischer Distanz zu Vertretern der Theorien ungleicher Entwicklung fest: „Most states, as noted, reflect sharp regional variations in income. But autonomist and separatist movements, which have truly deserved being described as regionalist rather than nationalist, have been scarce indeed.“ (Connor 1984, 150)
Für Connor ist es geradezu das Definitionsmerkmal ethnischer bzw. nationaler Gruppen, daß sie in Fällen von Loyalitätskonflikten letztendlich doch auf die Solidarität ihrer Mitglieder bauen können, da diese auf eine besondere Weise miteinander verbunden sind. „The essence of the nation is a psychological bond that joins a people and differentiates it, in the subconscious conviction of its members, from all nonmembers in a most vital way.“ (Connor 1994, 197)
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Mordt, G. (2000). Regionalismus als Gegenstand der Nationalismusforschung. In: Regionalismus und Spätmoderne. Forschung Politikwissenschaft , vol 93. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95159-5_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-95159-5_1
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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