Zusammenfassung
In diesem Essay möchte ich den inneren Zwiespalt zwischen zwei Werten, die viele unserer Zeitgenossen hoch schätzen, untersuchen: Es handelt sich um die Werte der nationalen Selbstbestimmung und der weltweiten Gerechtigkeit. Um die Größe des Problems vor Augen zu führen, möchte ich es erst einmal mit einfachen Begriffen umreißen. Globale Gerechtigkeit soll hier als distributive Gerechtigkeit im weltweiten Maßstab verstanden werden (genauso, wie soziale Gerechtigkeit Gerechtigkeit innerhalb der Grenzen einer bestimmten Gesellschaft bedeutet). Wenn Gerechtigkeit global aufgefaßt werden soll, dann müssen — so wird häufig angenommen —, die Rechte und Ressourcen, die jemandem zur Verfügung stehen, nur von Eigenschaften dieser bestimmten Person abhängen.2 Zum Beispiel verlangt Gerechtigkeit, daß, wenn jemand in Not ist, ihm Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um seine Not zu lindern. Wie viele Ressourcen ihm zur Verfügung gestellt werden, hängt vom Ausmaß seiner Not ab. Dies bedeutet nun, daß geographische Faktoren, wie Ort und politische Mitgliedschaft, aus der Perspektive der globalen Gerechtigkeit als irrelevant angesehen werden müssen. Wenn jemand ein bestimmtes Medikament braucht, um sein Leiden zu lindern, dann hängt sein Anspruch auf dieses Medikament nicht davon ab, ob er in Land A oder B oder unter dem politischen Regime X oder Y lebt. Allgemeiner ausgedrückt, bedeutet das, die Gerechtigkeit verlangt, daß jede Person das erhält, was ihr zusteht. Was einer Person zusteht, hängt lediglich von persönlichen Umständen ab, wie zum Beispiel Handlungen, die jemand ausgeführt hat, oder getroffenen Entscheidungen oder den physischen Bedingungen — die exakte Spezifikation ändert sich dabei von einer Gerechtigkeitstheorie zur anderen. Aber es scheint keine Theorie zu geben, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft zu einem relevanten Kriterium für Ansprüche macht, da die Mitgliedschaft in einer solchen Gesellschaft meistens keine bewußte Entscheidung darstellt. Die meisten Einwohner Bangladeschs wurden einfach dort geboren und aufgezogen. Wie kann es dann gerecht sein, ihren Zugang zu Ressourcen auf diese, moralisch gesehen, willkürliche Tatsache zu gründen?
Frühere Versionen dieses Essays wurden in einem Rechercheseminar am All Souls College in Oxford und auf dem Symposium “Wohlfahrtsrechte und Internationale Pflichten” auf der Jahresversammlung der Hauptabteilung der Amerikanischen Philosophenvereinigung in New Orleans vom 6. bis 8. Mai 1999 vorgetragen. Ich bin dem Publikum in beiden Fällen dankbar für ihre Kommentare. Besonders Jerry Cohen, Cecile Fabre, Richard Miller, Thomas Pogge und Michael Rosen für die weitere Diskussion von angesprochenen Themen.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
B. Barry: Humanity and Justice in Global Perspective. In: B. Barry: Democracy, Power and Justice. Oxford: Clarendon Press 1989;
T. Pogge: An Egalitarian Law of Peoples. In: Philosophy and Public Affairs. 23 (1994), S. 195–224;
S. Caney: Nationality, Distributive Justice and the Use of Force. In: Journal of Applied Philosophy. 16 (1999), S. 123–138;
C. Jones: Global Justice: Defending Cosmopolitanism. Oxford: Oxford University Press 1999
B. Pascal: Pensées. A. J. Krailsheimer (Hrsg.). Harmondsworth: Penguin 1966, S. 46.
Zu den neueren Versuchen, dieses Problem anzugehen, gehört H. Shue: Basic Rights: Subsistence, Affluence and U.S. Foreign Policy. Princeton: Princeton University Press 1980;
R. J. Vincent: Human Rights and International Relations. Cambridge: Cambridge University Press 1986;
J. Nickel: Making Sense of Human Rights. Berkeley: University of Califoria Press 1987;
J. Donnelly: Universal Rights in Theory and Practice. Ithaca, London: Cornell University Press 1989, Teil 1 bis 3;
J. R. Bauer, D. Bell (Hrsg.): The East Asian Challenge for Human Rights. Cambridge: Cambridge University Press 1999.
Siehe auch zur Illustration dieses Punktes den Gedankenaustausch zwischen Liam Murphy und Tim Mulgan über das, was Güte bedeutet in einer Situation, in der das Ziel (die Verminderung der Armut der Dritten Welt) die gemeinsame Verantwortung von vielen Individuen ist. L. Murphy: The Demands of Beneficence. In: Philosophy and Public Affairs. 22 (1993), S. 267–292;
T. Mulgan: Two Conceptions of benevolence. In: Philosophy and Public Affairs. 26 (1997), S. 62–79;
L. Murphy: A Relatively Plausible Principle of Benevolence:Reply to Mulgan. In: Philosophy and Public Affairs. 26 (1997), S. 80–86.
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2001 Katholische Universität Eichstätt
About this chapter
Cite this chapter
Miller, D. (2001). Nationale Selbstbestimmung und globale Gerechtigkeit. In: Ballestrem, K.G. (eds) Internationale Gerechtigkeit. Otto-von-Freising-Tagungen der Katholischen Universität Eichstätt, vol 2. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94926-4_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-94926-4_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-8100-3039-9
Online ISBN: 978-3-322-94926-4
eBook Packages: Springer Book Archive