Zusammenfassung
Selten haben sich Hoffnungen und Illusionen, Analysen und Spekulationen über Deutschlands Zukunft so sehr an einem Punkt verdichtet, wie in der Kontroverse über „den Tag danach“im letzten Vorkriegssommer in Paris. In die Debatte unter deutschen Emigranten hatten sich Publizisten des Gastlandes unmittelbar eingeschaltet. Denn die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges zwischen Deutschland und Frankreich — an einer Niederlage des deutschen Angreifers wurde nicht gezweifelt — verlieh dem Problem, was „nach Hitler“aus Deutschland werden solle, erstmals Aktualität. Aus den „querelles d’allemands“, den für die Mehrheit der französischen Kommentatoren bis dahin folgenlosen Diskussionen unter Exilanten, war ein Thema von nationalem, wo nicht weltpolitischem Interesse geworden.1
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Anmerkungen
Auf die Bedeutung dieser Debatte, in der das Ensemble der Argumente, Positionen und Frontstellungen späterer Kontroversen über Deutschlands Zukunft schon vorgeprägt ist, hat Hans Albert Walter in einer Rundfunksendung hingewiesen: „Deutschland nach Hitler“, WDR III, 27.10.1978. — Die Debatte wurde gleichsam überrollt durch die aktuellen Ereignisse im August und September 1939: den Hitler-Stalin-Pakt und den Kriegsausbruch. Zum Jahresende wurde sie in der französischen Presse kurzfristig wiederbelebt, da die Übersetzungen zweier Bücher Hermann Rauschings Aufsehen erregten: „La Révolution du Nihilisme“und „Hitler m’a dit“. —
Die fieberhafte Atmosphäre dieses Sommers 1939 erlebten die meisten der etwa 30 000 deutschen und österreichischen Emigranten in Frankreich als unmittelbare Bedrohung. Spätestens seit dem Frühjahr galt als sicher, daß es zu einem neuen Krieg kommen würde. Die Aufenthaltsbedingungen hatten sich rapide verschlechtert; die Ängste und Depressionen der Exilierten wuchsen proportional mit den hysterischen Reaktionen im Gastland: die französische Rechtspresse — sie war, nach dem Scheitern der Volksfront, wieder unangefochten tonangebend — stimulierte Xenophobie und Spionagefurcht. Zwar wurde zur Genugtuung der Emigranten Ribbentrops Beauftragter für deutsch-französische Beziehungen, der künftige Besatzungs-Botschafter Otto Abetz, als angeblicher Chef einer „Fünften Kolonne“ausgewiesen; aber zugleich schwand in der opinion publique das Unterscheidungsvermögen, wurden Nazis und Antifaschisten als feindliche Deutsche in einen Topf geworfen. Und ebenfalls gleichzeitig reduzierten die Überseestaaten die Einreisemöglichkeiten für europäische Flüchtlinge.
Vgl. d. Verf., Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der Dreißiger Jahre, München 1986.
Deutsche Volkszeitung (DVZ) vom 16.4.1939.
Wiederabdruck in: H. Mann, Verteidigung der Kultur, Berlin und Weimar 1971, S. 331342, v. a. S. 340.
H. Mann, Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus, Hamburg 1964, S. 143 f.
Rede Hitlers vor der deutschen Presse (10. Nov. 1938. Abgedruckt — mit einer Vorbemerkung Wilhelm Treues — in: Deutsche Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Sonderheft zum Jubiläum des SDS, Paris, November 1938, S. 2 ( H. Mann, Die größere Macht ).
Dépêche du Midi, Toulouse, 5. 7. 1939, S. 1.
L. Schwarzschild, Die Priorität, NTB Nr. 27, 1.7. 1939, S. 635.
Der Tag danach, NTB Nr. 29, 15.7. 1939, S. 682 ff.
Detailliert nachgezeichnet ist diese Entwicklung bei: Lieselotte Maas, „Verstrickt in die Totentänze einer Welt“. Die politische Biographie des Weimarer Journalisten Leopold Schwarzschild, dargestellt im Selbstzeugnis seiner Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 2, München 1984, S. 56)85.
L’Epoque, 18.5. 1939, S. 1. Abdruck der Übersetzung unter dem Titel: Nie mehr Illusionen über Deutschland, in: NTB Nr. 31, S. 737 f.
C. Geyer, Neuer Vorwärts (Paris) Nr. 321, 13.8.1939, Beilage.
L. Blum, Racisme à rebours, Le Populaire, 19.7.1939, S. 1; Abdruck der Übersetzung (Titel: Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen) in: NTB Nr. 31, S. 738f.
Nach Hitlers Fall, in: Neue Weltbühne, 35. Jg., Nr. 31, 1.8. 1939, S. 959.
Unter dem Pseudonym Jan Heger, in: Die Zukunft, 25.8.1939, S. B.
Ein ernstes Wort, in: DVZ Nr. 33, 13.8.1939, S. 1.
H. Mann, Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus, S. 143 (datiert v. 21.8.1939 aus Nizza).
Les „Deux Allemagnes“, contre: Emil Ludwig — pour: Heinrich Mann, in: L’Ordre, 18.8. 1939, S. 1.
A. Zweig, Einwand gegen ein Buch (1945), wiederabgedruckt in: Essays, Bd. II, Berlin und Weimar 1979, S. 263–266, hier S. 265.
Daß die Vorstellung einer Zerteilung Deutschlands bei den künftigen Siegermächten aufzukommen vermöge, erwähnte bereits Schwarzschild, ohne weiter darauf einzugehen: sie schien ihm indiskutabel — während er die Umerziehung der Deutschen durch ein Okkupationsregime herbeisehnte. Daß die politische Emigration — ebenso wie die Opposition im Reich (sofern sie überleben würde) — damit von einer Einflußnahme auf die nationalen Geschicke ausgeschlossen würde, schien er in Kauf zu nehmen, vermutlich aus Aversion gegen deren politische Orientierung.
In Münzenbergs „Zukunft“(vom 4.8.1939) gelangte der Linkssozialist Alexander Schifrin, der Schwarzschild polemisch ad absurdum zu führen suchte, in „Fortführung des abenteuerlichen Gedankenexperiments“zu einer erstaunlichen Vorhersage: „Unter den Siegermächten wird sich auch die Sowjet-Union befinden und ihr Anteil am Sieg wird groß, sehr groß sein. Wo steht es geschrieben, daß die,Erziehungsadministration‘in Deutschland allein durch die Westmächte ausgeübt werden würde? Sollte dann das nach Schwarzschild zur Demokratie noch nicht reife deutsche Volk in Köln und Frankfurt am Main durch die englischen und französischen Okkupationsbehörden zur Selbstverwaltung,erzogen‘werden, in Breslau durch die polnischen und in Berlin und Stettin durch die sowjet-russischen?“
Dagegen versicherte Gustav Regler in einer Tarnschrift mit dem Titel „Der letzte Appell“(Paris 1939), die an die deutschen Intellektuellen gerichtet war: „In dem Krieg, den Hitler der Welt aufzwingen will gegen den Willen des deutschen Volkes, wird an der Seite der Demokratien und wachend über das Schicksal der Freiheit auch die Union der sozialistischen Republiken stehen; sie wird keine Zerstückelung Deutschlands zulassen.“(S. 29).
Den im Rückblick abwegigsten Beitrag zur Debatte lieferte, mit österreichischer Optik, Franz Werfel. In Schwarzschilds Neuem Tage-Buch (v. 16.9.1939, S. 882 ff.) forderte er — gedacht als „organische Erbin der vielhundertjährigen Donaumonarchie“— eine neue „Ost-Union“: sie solle aufnahmefähig auch für deutsche Provinzen sein. „Die Rettung Europas, das Organon der neuen Pax mundana wird diese neue große Ost-Union sein. Sie wird sich über ein gewaltiges Gebiet erstrecken (…) Die nicht-deutschen Völker werden die überwiegende Mehrheit bilden. Was aber außer Österreich von deutschen Stämmen zu diesem Bunde tritt, wird sich schon aus Ekel über die schmachvolle Vergangenheit leidenschaftlich selbst entpreußen und austrisieren.“
H. Mann, Rettung der Zivilisation, in: Verteidigung der Kultur, S. 421–425, hier S. 422 f.
M. Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. VIII, (Paris) 1939, S. 115–137, hier S. 115 f., 128, 133. A. a. O. (S. 132) heißt es: „Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des 19. Jahrhunderts sich berufen, heißt an die Instanz appellieren, durch die er gesiegt hat. Die Parole „freie Bahn dem Tüchtigen“kann der Sieger für sich in Anspruch nehmen. Er hat den nationalen Konkurrenzkampf so gut bestanden, daß er ihn abschaffen kann (...) Die Hoffnung (...) die sich an den Zweiten Weltkrieg heftet, ist armselig. Wie er auch enden mag, die lückenlose Militarisierung führt die Welt weiter in autoritär-kollektivistische Lebensformen hinein (...) Schon (...) im Frieden war (...) Stellungskrieg. Ob Krieg ist, bleibt heute den Kämpfenden selbst zuweilen verborgen.“
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Betz, A. (1987). „Der Tag danach“. In: Koebner, T., Sautermeister, G., Schneider, S. (eds) Deutschland nach Hitler. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94354-5_4
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