Zusammenfassung
In der Einleitung seines zuerst 1936 erschienenen Buches über die Geschichte des Sozialvertrags entschuldigt sich John W. Gough dafür, eine Gedankenfigur zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht zu haben, die allenthalben als „the most outworn, the most derided by critics“ gelte.1 Und noch 1965 heißt es in Alfred Voigts Quellensammlung über den Herrschaftsvertrag: „Der Gegenstand dieser Quellensammlung wird Befremden hervorrufen oder Lächeln über eine längst abgetane Sache“.2 Zu solchen Entschuldigungen besteht heute kein Anlaß mehr. Vertragstheoretische Argumentationen sind wieder en vogue — und das nicht nur in der Staatsphilosophie, sondern auch in Fragen der Grundlegung von Moral überhaupt.3 In der amerikanischen Philosophie spricht man vom „neo-contractarianism“, und es ist für unser Thema interessant, daß sich einer seiner Hauptvertreter, James Buchanan, gerade über Hobbes mit einem anderen, John Rawls, zu verständigen sucht: „A Hobbesian Interpretation of the Rawlsian Difference Principle“ lautet das 14. Kapitel von Buchanans Buch „Freedom in Constitutional Contract“.4 Ich werde auf diesen „Einigungsversuch“ später noch eingehen, denn ich möchte mich in diesem Referat nicht auf eine Erörterung des Vertrags bei Hobbes beschränken, sondern einige Überlegungen zu der Frage anstellen, was das Vertragsmodell für die Staatsphilosophie leistet, ob es die Ableitung normativer Aussagen gestattet und ob es eindeutige Kriterien für das Maß erlaubter Herrschaft liefert.
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Anmerkungen
J.W. Gough, The Social Contract, Oxford 1936, S. VII (vgl. den Nachdr. der 2. Aufl. von 1957, Westport, Conn., 1978, S. 1).
A. Voigt (Hrsg.), Der Herrschaftsvertrag (Übersetzungen von P. Badura u. H. Hofmann) Neuwied 1965, S. 7.
Vgl. G.R. Grice, The Grounds of Moral Judgement, Cambridge 1967.
J. Buchanan, Freedom in Constitutional Contract, London 1977.
Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Hrsg. v. I. Fetscher, übers. v. W. Euchner, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1976, S. 5 (im folgenden abgek. „Lev.“). Hobbes’ übrige Schriften werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Th. Hobbes, Vom Menschen/Vom Bürger, hrsg. v. G. Gawlick, Hamburg 1959, abgek. „DC“; Th. Hobbes, Elements of Law Natural and Politic, dt.: Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, hrsg. v. F. Toennies, Neudruck Darmstadt 1976, abgek. „El.“.
Sheldon S. Wolin, Politics and Vision, London 1960, S. 48.
Es ist daher irreführend, wenn Hobbes in den Elements den institutionellen (durch „freiwillige Konstituierung“ entstandenen) Staat eine „Schöpfung aus Nichts durch den menschlichen Geist“ nennt, den „Patrimonialstaat“ dagegen eine „Erzeugung durch Naturkraft“ (vgl. El. 132).
Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258 (Werke in 20 Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, S. 400).
Vgl. Gough, The Social Contract, Nachdr. 1978, (s.o. Anm. 1), S. 112.
Zum Verhältnis von biblischer Bundesidee und Vertragstheorie vgl. G. Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag. In: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für H. Herzfeld, hrsg. v. W. Berges und C. Hinrichs, Berlin 1958 (erneut abgedruckt in: Die Entstehung des modernen souveränen Staates, hrsg. v. H.H. Hofmann, Köln/Berlin 1967, S. 137–151). Zur Bedeutung der Bundesidee für Hobbes vgl. W. Förster, Thomas Hobbes und der Puritanismus, Berlin 1969, vor allem S. 186ff., und K.M. Kodalle, Thomas Hobbes — Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens. München 1972, S. 70-104.
Die privatrechtliche Differenz zwischen Tausch-und Kaufverträgen ist für den Modellcharakter, auf den es hier ankommt, nicht von Bedeutung. Wichtig ist aber, daß es sich um eine abgeschlossene Übertragung bzw. Entäußerung handelt, kein „ich leiste, solange du gegenleistest“.
Die Dominanz der drei genannten Formen könnte allerdings auf die drei Hauptquellen der Vertragstheorie zurückgehen: die „jüdisch-christliche Theologie“, das „römische Privatrecht“ und das „fränkisch-europäische Lehnrecht“ (vgl. Oestreich, 1967, S. 150).
Vgl. Gough, op. cit. (Nachdr. 1978) S. 21f.
Jedenfalls hinsichtlich des christlichen Herrschers. Einen Bruch des Bundes könnte man nach dem 18. Kap. des De Cive allenfalls im Falle eines vom Herrscher ausgeübten Zwanges zur Leugnung des Glaubens an Jesus Christus sehen. Aber selbst dieser Bruch entbindet nicht vom Gehorsam — auch nicht dem nicht-christlichen Herrscher gegenüber —, sondern zwingt zum Martyrium.
G. Oestreich (op. cit., 1967, S. 138) kommt sogar zu dem Schluß, daß Hobbes „Föderaltheologie“ und „Vertragstheorie“ bewußt voneinander trenne und einen „geheimen Kampf gegen die demokratisch politischen Folgerungen der presbyterianischen und puritanischen Lehren vom alt-und neutestamentlichen Bündnis Gottes mit den Menschen“ führe. Kritisch dazu Kodalle, a.a.O., S. 96.
Bezüglich der Monarchie und Aristokratie benutzt Hobbes im De Cive das umgekehrte Argument: die „Menge“ ist eine Person, hört aber mit der Einsetzung des Herrschers „sofort auf, eine Person zu sein; mit dem Untergange der Person erlischt jede Verbindlichkeit gegen sie“ (DC 154). Zugrunde liegt der Gedanke, daß der institutionelle Staat bis zur Wahl des Herrschers „Demokratie“ ist — mit Gewaltmonopol und Entscheidungskompetenz bei der Mehrheit der versammelten Menge (vgl. DC 151ff.).
Vgl. DC 146. Auch in den „Elements“ steht diese Konstruktion bereits im Vordergrund (vgl. El. 142, 144). An einer Stelle (128) scheint Hobbes aber einen — zusätzlichen? — „Gehorsamsvertrag“ zwischen den Individuen und dem eingesetzten Souverän zu erwägen. Zu den Differenzen in den Vertragskonzeptionen der Hobbesschen Schriften vgl. jetzt R. Brandt, Rechtsverzicht und Herrschaft in Hobbes’ Staatsverträgen. Philos. Jahrbuch, 87. Jg., 1980, S. 41-56.
An einer Stelle des De Cive (DC 148) nennt Hobbes diese Rechtsübertragung geradezu eine Schenkung. Er kann aber nicht an einen Schenkungsvertrag gedacht haben. Zudem widerspricht dieser Terminus auch dem vor allem im Leviathan betonten Autorisierungsgedanken. Selbst eine unbegrenzte Vollmacht ist keine Schenkung.
Nach F. Toennies, (op. cit. S. 20f.) und R. Brandt, op. cit. (s.o. Anm. 16) S. 49ff., gehört der Autorisierungsgedanke erst dem Leviathan an. Man muß aber den früheren „Verkörperungs“-gedanken zumindest als eine Vorstufe betrachten. (Vgl. El. 133: „... dem Willen irgendeines einzelnen Menschen gestatten, für den Willen jedes einzelnen genommen zu werden und ihn zu verkörpern“).
Vgl. Toennies’ Einleitung in die dt. Ausgabe der „Elements“ (El. 28) sowie dort sein Hinweis auf Jellinek und Gierke.
Vgl. C. Schmitt, Die vollendete Reformation. In: Der Staat IV, 1965, S. 60.
Vgl. A. Glucksmann, Die Meisterdenker (Les Maîtres Penseurs) übers. v. J. Hoch, Hamburg 1978.
Im § 258 der Rechtsphilosophie behauptet Hegel mit ausdrücklichem Bezug auf Rousseau, der Vertrag mache den Staat von „Willkür, Meinung und beliebiger ausdrücklicher Einwilligung“ der Individuen abhängig. Vgl. Werke Bd. 7 (s.o. Anm. 8) S. 400. Ohne solche Einwilligung kann man aber nach Rousseau nicht menschlich, vernünftig und frei zusammen leben.
J.J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, übers. u. hrsg. v. H. Brockard, Stuttgart 1977, S. 15 (im folgenden abgek. CS).
Vgl. J.J. Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, übers. u. hrsg. v. K. Weigand, Hamburg 1971, S. 291.
Vgl. Immanuel Kant, Werke in 6 Bänden, hrsg. v. W. Weisschedel, Darmstadt 1956, Bd. VI, S. 144 (im folgenden wird nach dieser Ausgabe mit römischen Bandzahlen zitiert). Nach der Metaphysik der Sitten liegt es an der „Kugelfläche“ der Erde, daß die Gemeinschaft der Menschen untereinander eine „notwendige Folge von ihrem Dasein auf der Erde“ ist (IV, 373).
Im Zusammenhang dieser Frage, wie die Natur dem vernünftigen Willen „zur Hülfe“ kommt, steht Kants berühmtes Diktum, das „Problem der Staatserrichtung“ sei sogar für ein „Volk von Teufeln“ lösbar. Kants Teufel sind indessen wesentlich harmloser als Hobbes’ menschliche Wölfe. Sie wollen nicht Genuß und Macht um jeden Preis, sondern verlangen „allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung“ (VI, 224). Von „Engeln“ (223) unterscheiden sie sich im Grunde nur durch die allzu menschliche Neigung, sich von den für alle geltenden Gesetzen „im Geheim... auszunehmen“ (224). Die Auffassung, man könne auch „Schwarzfahrern“ (free riders) den Vorteil legalen Verhaltens klarmachen, teilt Kant mit der modernen Entscheidungstheorie. Sie hat aber bei ihm nichts mit der philosophischen Begründung des „ursprünglichen Kontrakts“ zu tun.
Ich übergehe hier Kants Einschränkung der aktiven Staatsbürgerrechte auf wirtschaftlich Unabhängige. Vgl. dazu M. Riedel, Die Aporie von Herrschaft und Vertrag in Kants Idee des Sozialvertrags. In: Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen und Handeln, hrsg. v. G. Prauss, Köln 1973, S. 337-349.
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, dt. v. H. Vetter, Frankfurt/M. 1975, S. 142.
Kritisch dazu E. Tugendhat, Comments on some Methodological Aspects of Rawls’ „Theory of Justice“. In: Analyse und Kritik. Zeitschrift für Sozialwissenschaften, hrsg. v. Baurmann, Leist, Mans, 1. Jg. (1979) Heft 1.
Vgl. dazu vom Verf., Eine exakte Lösung des Gerechtigkeitsproblems? Bemerkungen zur Rawls-Diskussion. In: Zeitschrift für Politik, 24. Jg. (1977), H. 4, S. 342-349.
Das bei Rawls vorausgesetzte moralische Fairneß-Prinzip entwickelt H. Spiegelberg, A Defence of Human Equality, Philos. Review, Bd. 53 (1944), S. 101–123.
Vgl. Das 14. Kap. aus Buchanans Buch „Freedom in Constitutional Contract“ (s.o. Anm. 4).
Vgl. J. Buchanan, The Limits of Liberty. Chicago—London 1975, vor allem Kap. 2-5.
Vgl. zum folgenden vom Verf., Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg—München 1979.
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Siep, L. (1982). Vertragstheorie — Ermächtigung und Kritik von Herrschaft?. In: Bermbach, U., Kodalle, KM. (eds) Furcht und Freiheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94334-7_9
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