Zusammenfassung
Seit mehr als zwanzig Jahren hat die Debatte um den Etikettierungsansatz in der Kriminologie zu einer heilsamen Beunruhigung eingefahrener Sanktionspraxen im Bereich nicht nur des Jugendstrafrechts geführt. Der “labeling approach” hat mit seiner phänomenologischen Grundorientierung und seinem stetigen Beharren auf dem konstruktiven Charakter aller kriminologischen Daten nicht nur das konventionelle Vertrauen in die Häufigkeit und das Vorkommen von Straftaten heilsam geschwächt, sondern darüber hinaus mit seinem Hinweis auf die kulturelle Einbettung unserer moralischen und juristischen Maßstäbe die normative Grundlage zumal des Strafrechts erschüttert. Vor diesem Hintergrund erscheint der größte Teil jeder strafrechtlichen Sanktion als Ausdruck einer unreflektierten, barbarischen Selbstgerechtigkeit, die sich im Lauf der Geschichte der Moderne zum Funktionszusammenhang eines Herrschaftssystems zusammenschließt, das die Individuen über allgemeine Rechtsnormen zunächst ihrer Konflikte enteignet, um sie dann psychisch zu brechen und physisch zu schwächen. Mit solchen Argumenten wurde der “labeling approach” auch systematisch zu dem, als was er genetisch Mitte der 60er Jahre entstand: zu einer Partisanenwissenschaft im Interesse der Ausgegrenzten, Eingesperrten, der Abweichler und Aufrührer. Mit Durkheims Vermutung gewappnet, daß Abweichung nicht nur normal ist, sondern die Abweichler von heute oft genug die Schöpfer moralischer Werte von morgen sind, konnten die Verfechter des “labeling approach” somit ein zentrales Thema romantischer Sozialkritik aufnehmen und mit guten Gründen auch wissenschaftlich untermauern: Das Unrecht des gesellschaftlichen Zwangszusammenhanges verkörpert sich im Abweichler, der — gerade in jenen Taten, die die Konformisten als Verbrechen brandmarken — in seiner Tat die Wahrheit über jenen Zwangszusammenhang zutage fördert. Die Abweichler: Als Opfer und Märtyrer der bürgerlichen Gesellschaft wurden sie zum Lieblingsobjekt nicht nur einer phänomenologischen Betrachtung von Asylen, Karrieren von ’peers und queers’ und Subkulturen, sondern auch zu Kronzeugen wider die Menschenfeindlichkeit formal-abstrakten Rechts, objektivierender Wissenschaft und einer auf unsichtbarer Herrschaft und disziplinierenden Praktiken beruhenden Gesellschaft, der nicht mehr durch Revolution, sondern nur noch durch beharrliche negative Reformen, durch Abolitionismen beizukommen sei.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
BETTMER, F., Ausweg aus der Pädagogisierungsfalle, in: Neue Praxis 2 u. 3, 1991.
BRUNKHORST, H., Sozialtherapie, Schuld, Strafe - Vorüberlegungen zu einer vergeltungstheoretischen Begründung des Abolitionismus, in: S. Müller/ H.U. Otto, Damit Erziehung nicht zur Strafe wird, Bielefeld 1986.
CHRISTIE, N., Limits to Pain, Oslo 1981.
COLBY, A./KOHLBERG, L., The Measurement of Moral Judgement I, Cambridge 1987.
DRIEBOLD, R Muß jetzt auch die Konfliktschlichtung professionalisiert werden? in: Neue Praxis 6, 1990.
FELDMAN, R.E., The Promotion of Moral Development in Prisons and Schools, in: R.W. Wilson/G.J. Schochet (Eds.), Moral Development and Politics, New York 1980.
GARZ, D., Sollten wir vielleicht doch eingreifen? - Abolitionismus - Gerechtigkeit - Just-Community, in: Kriminologisches Journal 3, 1987.
GILLIGAN, C., Die andere Stimme, München 1982.
GILLIGAN, C. et al., Mapping the moral domain, Harvard 1988.
HANAK, G. u.a., Ärgernisse und Lebenskatastrophe. Über den alltäglichen Umgang mit der Kriminalität, Bielefeld 1989.
HICKEY, J.E./SCHARF, P.L., Toward a Just Correctional System, San Francisco 1980.
JENNINGS, W.S., The juvenile delinquent as a moral philosopher: The effects of rehabilitation programs on the moral reasoning and behavior of male youthful offenders, Ann Arbor 1979.
JENNINGS, W.S./KOHLBERG, L., Effects of a Just community Programme on the Moral Development of Youthful Offenders, in: Journal of Moral Education 12, 1983.
JENNINGS, W.S. et al., Moral Development - Theory and Practice for Youthful and Adult Offenders, in: W.S. Laufer/J.M. Day (Eds.), Personality Theory, Moral Development and Criminal Behavior, Lexington 1983.
KÖHLER, M., Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, Heidelberg 1983.
KOHLBERG, L., The Cognitive Developmental Approach to Behavior Disorders: A Study of the Development of Moral Reasoning in Delinquents, in G. Serban (Ed.), Cognitive Effects in the Development of Mental Illness, New York 1978.
KOHLBERG, L. et al., The Just Community Approach to Corrections: A Theory, in: Journal of Moral Education 3, 1975.
KUHN, A./RÖSSNER, D., Konstruktive Tatverarbeitung im Jugendstrafrecht: Handschlag statt Urteil, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1987.
MARKS, E./RÖSSNER, D. (Hg.), Täter-Opfer-Ausgleich, Bonn 1989.
POTHAST, U., Die Unmöglichkeit der Freiheitsbeweise, Frankfurt/M. 1979.
RAWLS, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975
SANDEL, M.J., Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982.
SCHILD, W., Der Strafrichter in der Hauptverhandlung, Heide lberg 1983.
TAYLOR, C., Wie ist der Mechanismus vorstellbar? in: ders., Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/M. 1975.
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 1993 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Brumlik, M. (1993). Kriminologie, Jugendstrafe und Gerechtigkeit. In: Peters, H. (eds) Muß Strafe sein?. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 122. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94252-4_12
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-94252-4_12
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-12449-0
Online ISBN: 978-3-322-94252-4
eBook Packages: Springer Book Archive