Zusammenfassung
Daß Peter Weiss’ Verhältnis zu seinem eigenen Judentum problematisch war, daß er darunter litt, den Konzentrationslagern entkommen zu sein, und um seine eigene potentielle Bereitschaft zur Teilnahme am Genozid wußte, ist bekannt. Wie sehr die ungelösten Fragen, die mit seinem Judentum zusammenhingen, gleich einer schwelenden Wunde den deutschschwedischen Autor beunruhigten und schmerzten, hat Irene Heidelberger-Leonard erst kürzlich überzeugend dargelegt.1 In bezug auf die Ästhetik des Widerstands stellt sie fest, daß der Gestalt der Mutter im Zusammenhang mit einer poetischen Erinnerung der Shoah eine überragende Bedeutung zukommt, weil die Mutter sich freiwillig zur Jüdin erklärt und durch dieses „Wahljudentum“ 2 in freier Entscheidung einen Tod erleidet, der als höchster Akt der Solidarität mit den ermordeten Juden verstanden werden kann. Die Visionen der Mutter, die den dritten Teil des Romans in eindrucksvoller Weise bestimmen, stellen in poetologischer Hinsicht für Klaus Briegleb das Paradigma eines Schreibens nach Auschwitz dar, von dessen „absoluter Prosa“ er sagt: „Auch hat sie sich aus dem Zirkel einer Aufklärung, die die Marter verdrängt, indem sie über das Material den endlichen Diskurs legt, konsequent verabschiedet.“3 Weiss’ „Figurenversuch, eine Identität in der negativen ‚deutsch-jüdischen‘ Symbiose im Zentrum des Romans vorzustellen“4, ist — und dies möchte mein Beitrag zeigen — die Konsequenz aus einer bedeutsamen Wandlung seines Faschismusverständnisses, die sich im Laufe der siebziger Jahre vollzogen hat und die wichtige poetologische Konsequenzen zeitigt. Zur Verdeutlichung dieser Wandlung sind Beobachtungen von Jean Michel Chaumont hilfreich, der im Zusammenhang mit Edward Youngs jüngst erschienener heftiger Kritk an Weiss’ Auschwitzdrama Die Ermittlung von einem Paradigmenwechsel im Erinnerungsdiskurs der Shoah spricht.5 Der antifaschistische Erinnerungsdiskurs läßt sich nach Chaumont wie folgt charakterisieren:
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Anmerkungen
Vgl. Irene Heidelberger-Leonard: Jüdisches Bewußtsein im Werk von Peter Weiss. In: Michael Hofmann (Hrsg.): Ästhetik, Literatur, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. St. Ingbert 1992, S. 49–64.
Klaus Briegleb: ‘Aufbruch 1968’. Der Mythos vom Neuanfang. In: Ders. und Sigrid Weigel (Hrsg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München, Wien 1992, S. 19–150, hier S. 142.
Vgl. Jean Michel Chaumont: Der Stellenwert der “Ermittlung” im Gedächtnis von Auschwitz. Ins Deutsche übertragen von Michael Hofmann. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hrsg.): Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte. Opladen 1994 (in Vorbereitung).
Vgl. zur Kritik an der Ermittlung James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Frankfurt/Main 1992, S. 110–134.
Peter Weiss: Rekonvaleszenz. In: Werke in sechs Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Gunilla Palmstierna-Weiss. Frankfurt/Main 1991. Bd. 2, S. 345–546, hier S. 352. Vgl. Heidelberger-Leonard: Jüdisches Bewußtsein, S. 50f.
Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt/Main 1988. Erster Band, S. 128. Künftig im laufenden Text zitiert mit der Sigle “ÄdW” und römischer Band-sowie arabischer Seitenzahl.
Peter Weiss: Notizbücher 1960–1971. Frankfurt/Main 1982, 2 Bde. [durchgehend paginiert], S.342.
Dieser Titel wird künftig im laufenden Text zitiert mit der Sigle “NB 60”; entsprechend die Notizbücher 1971–80. 2. Bde [durchgehend paginiert]. Frankfurt/ Main 1981 mit der Sigle “NB 70”.
Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt/Main 1968, S. 113–124, hier S. 114.
Vgl. zuletzt Jan Knopf: Ästhetik und Destruktion. Vom Ende der Geschichte und der Geschichten in der “Ästhetik des Widerstands”. In: Hofmann (Hrsg.): Ästhetik, Literatur, Geschichte, S. 133–145, hier S. 141f.
Briegleb: ‘Aufbruch 1968’, S. 141.
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Hofmann, M. (1994). Antifaschismus und poetische Erinnerung der Shoah. In: Koch, R., Rector, M., Rother, R., Vogt, J. (eds) Peter Weiss Jahrbuch 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94250-0_5
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