Zusammenfassung
Die Auffassung, daß die moderne Soziologie als „Krisenwissenschaft“ (René König) entstanden sei, kann wohl als opinio commuais gelten. Nun sind opiniones communes nicht immer bloße Vorteile oder nützliche Fiktionen, und nicht immer führt eine genauere und voraussetzungslose Untersuchung zu ihrer Destruktion und zu ungeahnten neuen Einsichten. Im gegebenen Falle glaube ich tatsächlich, daß die überkommene Auffassung sehr viel Wahrheit enthält, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Entstehungskontext der Soziologie, sondern auch hinsichtlich ihres Rechtfertigungskontextes: Die Soziologie ist nicht nur als faktische Folge und Funktion einer tiefreichenden Krisenerfahrung aufzufassen, sie hat ihre Notwendigkeit und ihre spezifischen Aufgaben vielmehr nur durch einen expliziten und sehr betonten Bezug auf jene Krisenerfahrung aufweisen und rechtfertigen können. Nur als Krisenerscheinung konnte sich die Soziologie durchsetzen, und dies gilt ganz unabhängig von der Frage, ob und in welchem Maße die behauptete Krise tatsächlich existierte oder aber — völlig oder zumindest in ihrer radikalisierten und dramatisierten Auffassung — als Artefakt der Sozialtheoretiker verstanden werden muß. Keineswegs nur in der Frühgeschichte der Soziologie, sondern auch in ihrer weiteren Entwicklung bis in die Gegenwart hinein läßt sich beobachten, daß sowohl das Selbstbewußtsein und das Selbstvertrauen als auch die öffentliche Resonanz und Wirksamkeit der Soziologie an die Annahme gebunden sind, diese Wissenschaft werde für die Erforschung und Überwindung einer umfassenden „Krise der Gesellschaft“ dringend gebraucht. Auf diese große Aufgabe bezieht sich die Deutung der Soziologie als Schlüssel- und Führungswissenschaft des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, und offenbar ist es sehr schwierig, die Soziologie auf der Basis bescheidenerer und weniger dramatischer Ansprüche und Erwartungen zuverlässig und dauerhaft als Wissenschaft eigenen Rechts zu erhalten. Die vielgenannte neueste „Krise“ der Soziologie hat ganz offensichtlich damit zu tun, daß sich die Soziologie nicht mehr überzeugend als „Krisenwissenschaft“ in diesem Sinne interpretieren läßt, weil ihr die Kompetenz oder aber die Krise selbst abhanden gekommen ist (vgl. Kap. XVIII).
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© 1993 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Weiß, J. (1993). Die Soziologie und die Krise der westlichen Kultur. In: Vernunft und Vernichtung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94241-8_19
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-94241-8_19
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-12475-9
Online ISBN: 978-3-322-94241-8
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