Entsagungslieder

Zusammenfassung

Carl Pietzckers Verdacht, daß die triadischen Deutungsmuster, in denen sich die Menschen Jahrhunderte hindurch Geschichte ausgelegt haben, insgeheim angetrieben wurden von unbewußten narzißtischen Phantasien, scheint eine durchaus brauchbare und vielversprechende heuristische Hypothese zu sein, nahegelegt durch deren strukturelle Übereinstimmungen mit dem Muster narzißtischen Phantasierens. Um diesen Verdacht zu erhärten, müßte freilich an den konkreten Gegenständen, den einzelnen Geschichtsbildern also, gezeigt werden, daß es tatsächlich die phantasmatischen Antriebe sind, die sie hervorgebracht haben und denen sie ihre dreigliedrige Struktur verdanken. Herauszuarbeiten wäre, wie »unbewußte Antriebe«, diskursive Strukturen, objektive Interessenlagen und gesellschaftliche Erfahrungen der Menschen bei der Produktion beziehungsweise Rezeption und Reproduktion solcher Geschichtskonzeptionen ineinandergreifen.

Meine These dazu würde lauten, daß im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. [...] Und wenn heute die Menschen universal das sagen, was in harmloseren Zeiten nur den ausgepichten Spießbürgern vorbehalten war: ›Ach, das sind ja Utopien, ach, das ist ja nur im Schlaraffenland möglich; im Grunde soll das auch überhaupt gar nicht sein‹, dann würde ich sagen, das kommt davon, daß die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, daß sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen.

Theodor W. Adorno