Zusammenfassung
In Wiederaufnahme der Diskussion um ein angemessenes Verständnis psychischer Störungen soll nachfolgend eine eindeutigere Klärung der konkurrierenden theoretischen Positionen zur Grundlegung eines „psychosozialen Erklärungsmodells“ vorgenommen werden. Trotz aktueller Bestrebungen, die Modellkontroverse mit der Konstruktion multifaktorieller bzw. biopsychosozialer Konzepte zu beenden, soll an der Notwendigkeit von Modellkritik und eindeutigen Positionsmarkierungen festgehalten werden. Gegen die Unzulänglichkeiten und Risiken einer vorschnellen, da vorgängig gewollten Modellintegration, die nur allzu leicht im Sinne einer „Immunisierungsstrategie“1) (Keupp 1974b) oder eines Komplementaritätsarguments” (ebd.) die dimensionale Aufbesserung eines überkommenen Erklärungsansatzes bewußt oder selbstmißverständlich mit der Konstruktion eines integrativen, „problemorientierten“ Modells verwechselt, soll „modellrigoristisch“ (ebd.) an der grundlagentheoretischen Bestimmung eines „psychosozialen Modells“ festgehalten werden, die als unabdingbare Voraussetzung etwaiger Integrationserfordernisse anzusehen ist, ja diese als reflektierte Auseinandersetzung mit entwickelten Positionen erst möglich macht. Die Abstraktheit der Argumentation ist dem unentwickelten Diskussionsstand um ein psychosoziales Erklärungsmodell zuzurechnen, auch ‚Einseitigkeiten‘ müssen in Kauf genommen werden. „Das Recht der einseitigenAnalyse der Kulturwirklichkeit unter spezifischen ‚Gesichtspunkten‘ ... ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstand, daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwendung des gleichen begrifflich — methodischen Apparates alle Vorteile der Arbeitsteilung bietet. Sie ist solange nicht ‚willkürlich‘, als der Erfolg für sie spricht, d.h., als sie die Erkenntnis von Zusammenhängen liefert, welche für die kausale Zurechnung konkreter historischer Vorgänge sich als wertvoll erweisen“ (Weber 1968, 23)2).
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Anmerkungen zu Kapitel 3
Keupp (1974b, 134 ff.) benennt vier idealtypische Reaktionsmuster auf eine Paradigmakrise: Die Immunisierungsstrategie mit Abschottung des angegriffenen Paradigmas, das Pluralismusargument mit agnostizistischer Zulassung verschiedener “Kommunikationswege”, das Komplementaritätsargument mit kompromißbereiter Konstruktion einer “fiktiven Ergänzungsreihe” und schließlich der Modellrigorismus als eine gegen voreilige Integration gerichtete “gewollte Einseitigkeit”.
Nach Scheff (1973, 20), der in der Einführung in sein Abweichungsmodell die dialektische Qualität der Modellkonkurrenz betont: “Auch in unserer Diskussion psychischer Störungen wird das Sozialmodell nicht etwa als etwas Endgültiges vorgeschlagen, sondern als Antithese zum Individualmodell. Wenn man die explizite Erörterung dieser antithetischen Modelle zuläßt, könnte der Weg zu ihrer Synthese geklärt werden, zu einem Modell mit den Vorzügen beider, des sozialen und des individualen Systems, doch ohne deren Nachteile” (ebd.,21). In diesem Sinne läßt sich das in Kap. 4 vorgeschlagene psychosoziale Modell durchaus als integratives Modell höherer Vereinheitlichung verstehen.
Auf den Kuhnschen Paradigma-Ansatz, der vor allem aufgrund seiner unzureichenden Berücksichtigung sozioökonomischer Determinanten der Wissenschaftsentwicklung und seiner letztlich uneindeutigen Begrifflichkeit (vgl. Mastermann 1974 ) Anlaß zur Kritik bietet, soll hier nur insoweit rekurriert werden, als er die Begründung für einen modellkontroversen Wissenschaftsfortschritt bietet.
nach Hörmann (1985a, 11)
Vgl. zur Differenzierung von “Paradigma”, “Perspektive” und “Forschungsprogramm” Falk (1979).
Das “moralisch - religiöse” Störungsmodell wird nicht gesondert dargestellt, da ihm in der fachlichen Diskussion keine Bedeutung mehr zukommt.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verzichtete in ihrer International Classification of Diseases (ICD) jedoch auf die “ursächliche Klassifikation” Kraepelins zugunsten einer Gliederung nach Syndromen.
Die Ausführungen orientieren sich vor allem an den Arbeiten Keupps (1972a; 1972b; 1974b; 1979; 1986) und v. Kardorffs (1978).
Es lassen sich darüber hinaus Vorteile spezifizieren, die die beteiligten Professionen aus der “’pathologischen’ Definition ihrer Adressaten” (Peters 1973) ziehen.
Eine systematische ‘Labeling-Theorie’, die auch strengeren methodologischen Ansprüchen genügt, wurde bisher nicht formuliert. Wir wollen daher nur von einem Theorieansatz oder einer Theoriekonzeption sprechen. Die Aspekte dieses neuen Ansatzes sind so vielfältig und werden von Autoren so unterschiedlich wahrgenommen, daß mehrere Bezeichnungen der neuen Konzeption entstanden sind und derzeit verwendet werden“ (Keckeisen 1974, 1).
Zur Diskussion der Bestimmung von psychischer Normalität vgl. Wetzel 1980.
In einzelnen Veröffentlichungen zur Krankheitskarriere wird allerdings auf die Beeinflußbarkeit bzw. Reversibilität ihres Verlaufs hingewiesen, die dem Patienten die Chance eines “karrierebrechenden” Bewältigungsverhaltens einräumt (Gerhardt 1976, Forster & Pelikan 1977 u.a.).
nach Keupp (1976, 89)
nach Ferchhoff & Peters (1981, 84)
nach Parin & Parin — Matthèy (1986, 78)
Allerdings wird Wert darauf gelegt, Unterschiede zur traditionellen psychiatrischen Krankheitslehre deutlich zu machen: “Mehrere psychoanalytische Autoren, die sich aus Anlaß der Einbeziehung der ‘analytischen und tiefenpsychologischen Psychotherapie’ in die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung eingehend mit dem ’Krankheitsbegriff der Psychoanalyse’ auseinandergesetzt haben, distanzieren sich zu Recht vom somatisch definierten Krankheitsbegriff K. Schneiders” (Häfner 1983, 237 ).
So etwa von Marcuse (1980, 188): “Der Biologismus Freuds erscheint… in einem anderen Licht: Er bezeichnet die Entdeckung, daß die Gesellschaft bis in die Tiefendimension des Organismus hineinreicht, in die des Triebes.” Es finden sich so durchaus auch Hinweise auf eine historisch — soziale Fassung des Triebbegriffs, die seiner Reifizierung entgegenstehen (vgl. Gerhardt 1977). “Auch der Trieb ist geschichtlich ” (Lorenzer 1974, 120 ).
Der Ursprung der klinischen Psychologie geht auf die Gründung der ersten psychologischen Klinik durch den Amerikaner L. Witmer im Jahre 1896 zurück (Pongratz 1973). Ihre schwerpunktmäßig psychotherapeutische Ausrichtung entwickelte sich in der BRD Ende der 60er Jahre.
Die empirisch — behavioristische Prägung der Verhaltenstherapie nahm einen — wenn auch vielleicht nicht den entscheidenden — Einfluß auf die empirisch — analytische Grundlegung der Psychologie in der BRD. “Auch wenn der Behaviorismus als Therapieprogramm in der BRD nie eine dominierende Anhängerschaft hat finden können, so führte die Übernahme des Primats experimentell-statistischer Verfahren, begünstigt durch das Fehlen übergreifender Theoriekonzepte, doch zu einem dem behavioristischen Subjektmodell entsprechenden impliziten Gegenstandsverständnis der Psychologie” (Gummersbach 1986, 22).
Einen Überblick über verhaltenstherapeutische Standardmethoden geben Fliegel u.a. (1981).
Die theoretische Abbildung psychotherapeutischer Interventionen nach den jeweils angezielten Dimensionen individueller Subjektivität hat zu berücksichtigen, daß vor allem in der Ganzheitlichkeitsideologie humanistischer Psychologie die Beeinflussung weiterer Individualitätsdimensionen beabsichtigt ist und auch Methoden unterschiedlicher Zielgerichtetheit verwendet werden (vgl. Zygowski 1988).
Eine kritische Auseinandersetzung mit den gängigen einzel - und gruppentherapeutischen Verfahren findet sich u.a. bei Hörmann (1975; 1986; 1987) und Zygowski (1986; 1987a).
Ein “Beispiel für die medizinische Denkweise auf dem Verhaltenssektor ist das (von D. Meichenbaum entwickelte; H.Z.) Konzept der ‘Streß-Impfung’ analog zur Impfung gegen eine Krankheit. Man geht davon aus, daß die Verabreichung von etwas Streß der Person in Zukunft über unerwünschte Auswirkungen hinweghelfen wird, wenn sie mit Schwierigkeiten konfrontiert wird” (Ullmann 1979, 147).
Obwohl Cooper die “Dialektik der Befreiung” im Zusammenhang der Befreiung von psychischen Zwängen und gesellschaftlicher Unterdrückung sieht (Cooper 1972), spricht er sich gegen eine Ausschließlichkeit der Veränderung nur politischer Strukturen aus (vgl. Bopp 1980).
s. Anm. 13 in Kapitel 2
Die Enquete ruft allerdings zu einem “kontrollierten” und “limitierten” Einsatz von Psychopharmaka auf (Bericht 1975, 268).
Ein weiteres “Karrieremodell” psychischer Störungen wurde von Oppl (1986) angeboten. Da sein Flußdiagramm Parallelen zum medizinsoziologischen Modell von Forster und Pelikan (1977) aufweist — ohne allerdings explizit darauf bezogen zu sein —, und zugleich in der Analyse der Ebenen und Faktorenbündel weniger differenziert ausfällt, soll es hier nicht zusätzlich dargestellt werden.
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Zygowski, H. (1989). Darstellung und Kritik zentraler Modelle der Erklärung psychischer Störungen. In: Grundlagen psychosozialer Beratung. Beiträge zur psychologischen Forschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94172-5_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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