Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird sich zeigen, daß die vorhergehenden Ausführungen über die Gefühle kein Umweg, sondern eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis von Gesellschaft waren. Wir schauen nur aus einer anderen Perspektive auf den gleichen Gegenstand. Für das Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft hat Norbert Elias einen sinnvollen theoretischen Rahmen vorgeschlagen. Er bezeichnet die Zusammenhänge und Ereignisse des physikalischen Naturgeschehens als Vorgänge auf der relativ einfachsten Integrationsebene (Elias 1971, 100ff). Davon abgesetzt könne die Ebene der Organismen als nächsthöhere Integrationsebene bezeichnet werden, von der sich als wiederum nächsthöhere Ebene diejenige der menschlichen Gesellschaften abhebt. Diese Unterteilung beruht auf der Einsicht, „das höher organisierte Geschehenszusammenhänge gegenüber weniger organisierten relativ autonom sein können“ (Elias 1971, 111). Das bedeutet, daß die als Pflanzen, Tiere, Menschen organisierten Organismen Gesetzmäßigkeiten und Struktureigenschaften eigener Art besitzen, die sich nicht auf physikalisch-chemische Zusammenhänge reduzieren lassen. Menschliche Gesellschaften wiederum sind gegenüber den nächstniederen Integrationsstufen relativ autonom, insofern sich ihre Zusammenhänge nicht auf biologischphysikalische Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen. Obwohl die Einheiten, aus denen die menschlichen Gesellschaften bestehen, für sich betrachtet nichts als biologische Organismen sind, sind sie doch in spezifischen Funktionszusammenhängen miteinander verbunden, die von denen der niedrigeren Integrationsstufen völlig verschieden sind.
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Literature
Ein sehr gutes, wenn auch historisch einmaliges Beispiel ist die Auflösung der DDR. Ein eben noch übermächtiger Machtapparat und eine komplette moderne Volkswirtschaft mit ihren unendlich vielen arbeitsteiligen und verschachtelten Abhängigkeiten ist nicht mit Gewalt zerschlagen oder aus innerer Dynamik in ein anderes System übergegangen, sondern dieses System ist im Grunde deshalb in kurzer Zeit untergegangen, weil die es tragenden Menschen ihre inneren Bindungen, ihre Wir-Identität von diesem System abgezogen haben.
Mit Identitätsfiguration ist eine Form sozialer Beziehungen angesprochen, die Frey/Haußer „Identitätsräume“ nennen (vgl. Frey/Haußer 1987, 14ff.).
Der Eintrag im Geburtsregister legt weiter die Zugehörigkeit (oder Nichtzugehörigkeit) zu einer Glaubensgemeinschaft fest, so daß das Neugeborene soziale Existenz als Gemeindemitglied gewinnt. Die Glaubensgemeinschaft vollzieht in der Regel später noch einen spezifischen Initiationsakt. Dieser Komplex wird später erörtert.
Aus soziologischer Perspektive beschreibt E. Goffman, daß die Geschlechtsidentität die wichtigste Quelle der Selbstidentifikation ist und erläutert ihre Wirkung auf die soziale Ordnung (vgl. Goffman 1977).
Eine nähere Untersuchung des alltäglichen Umgangs mit Gesundheits- und Schönheitsbildern unter diesem Aspekt wäre sehr aufschlußreich. Ein guter Teil von Fitnesstraining, Diäten und bestimmte Aspekte der Mode und des Schön-heits- und Jugendkultes sind Angebote an Identitätsfindung durch die Gestaltung des Körpers (dazu auch: ...the return to the body initiates a new search for ident-ity“ Giddens 1991, 218). Dieser Trend betrifft Männer und Frauen in vergleichbarer Weise, können doch auf dem Territorium des Körpers die unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten am deutlichsten markiert werden.
Zur Geschichte der Familie vgl. Shorter (1975), Sieder (1987), Rosenbaum (1978) und Rosenbaum (1982).
Vgl. hierzu Voy/Polster/Thomasberger (1991).
Zu Begriff und Geschichte der Nation vgl. Meinicke (1922), Sulzbach (1959), Gellner (1983), Balibar/Wallerstein (1988), Hobsbawm (1991), Giesen (1991).
Zur deutschen Identität vgl. Elias (1989), Harold James (1989) und Blomert/Kuz-mics/Treibel(1993).
Vgl. die aufschlußreiche Analyse der Amerikanischen und Französischen Revolution von H. Arendt (1963).
Vgl. Teil 4: Moderne Identität
Mit dem weltweiten Modernisierungsprozeß werden diese Möglichkeiten der menschlichen Gattung reduziert und vernichtet, wie Claude Lévi-Strauss (1955) so eindringlich beschrieben hat.
Vgl. dazu Weber (1920), Heiler (1959), Berger (1967), Luckmann (1967), Sey-farth/Sprondel (1973), Riesebrodt (1990), Kalischeuer (1991).
Luckmanns Arbeit bietet einen Weg zum Verständnis der in Deutschland viel zu oft völlig ausgeblendeten Tatsache, daß die Abnahme der Kirchlichkeit kein allgemeines Modernisierungsphänomen ist. In den USA hat das kirchliche Gemeindeleben eher steigende Bedeutung. Dort hat sich die institutionalisierte Religion den gewandelten sozialen Beziehungen angepaßt (im übrigen auch jene Denominationen, die sich diesem Prozeß in Europa eher entzogen haben, also vor allem die evangelisch-lutherische und die katholische Kirche). In den USA ist zudem der Vorstellungskomplex einer Zivilreligion wirksam, der eben nicht auf dem in Europa so unausweichlichen Gegensätzen von Religion und Gesellschaft und Kirche und Modernität beruht. Vgl. Tocqueville (1848), Bellah (1985), Kodalle (1988, 19ff.), Lasch (1991).
„A good test for whether an evaluation is ,strong’ in my sense is whether it can be the basis for attitudes of admiration and contempt“ (Taylor 1989, 523).
Zu einzelnen Aspekten vgl. auch McIntyre (1981) oder Toulmin (1991).
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© 1995 Leske + Budrich, Opladen
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Lohauß, P. (1995). Identitätsfigurationen. In: Moderne Identität und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93695-0_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-93695-0_6
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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