Zusammenfassung
Zu Recht wird das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ bezeichnet. Verharrt man in einer eurozentrischen Betrachtungsweise, läßt sich dies insbesondere an den Flucht- und Vertreibungswellen, die im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg standen, veranschaulichen. Als Effekt des Krieges fanden in Mittel- und Osteuropa die zahlenmäßig größten Massenzwangswanderungen der Menschheitsgeschichte statt. Das Völkerrecht kannte dafür seit 1913 den Begriff der (freiwilligen) „Umsiedlung“.1 Diese Bezeichnung war euphemistisch und verschleierte den Blick auf die Realität. In Wirklichkeit beugten sich die Menschen in aller Regel einem staatlichen Zwang und verließen ihre Heimat nicht aus freien Stücken. Die Flüchtlinge der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts waren Opfer mißbrauchter staatlicher Herrschaft und menschenverachtender Ideologie und Machtpolitik, die sich in Rückführungen, staatlichen Zwangsansiedlungen, vertragsmäßigem Bevölkerungsaustausch, Ausweisungen und Verdrängungsprozessen äußerten. Angesichts des Ausmaßes der Zwangsmigration — Schätzungen zufolge verloren durch die Vorgeschichte, den Verlauf und die Folgegeschichte des Zweiten Weltkriegs rund 50 Millionen Europäer ihren Wohnsitz2 — tritt nicht nur das Einzelschicksal, sondern gar das Schicksal ganzer Gruppen in den Hintergrund.
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Literatur
Zur Geschichte des Begriffs vgl. Klaus-Dietmar Henke: Der Weg nach Potsdam — Die Alliierten und die Vertreibung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/M. 1985, S. 50.
Franz Nuscheler: Das Jahrhundert der Flüchtlinge, in: Rainer Schulze/Doris von der Brelie-Lewien/Helga Grebing (Hrsg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, Hildesheim 1987, S. 11.
Detlef Brandes: Die Deutschen in Rußland und der Sowjetunion, in: Klaus J. Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland — Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 85–134.
Propagandaschriften der Vertriebenenverbände beweisen die Langlebigkeit dieser Traditionen. Vgl. z.B.: Bund der Vertriebenen (Hrsg.): Deutsche Ostsiedlung. Zur Geschichte Ostdeutschlands und der deutschen Siedlungsgebiete in Ost-und Südosteuropa, Bonn 1985.
Wolfgang Benz: Der Generalplan Ost. Zur Germanisierungspolitik des NS-Regimes in den besetzten Ostgebieten 1939–1945, in: ders., Vertreibung der Deutschen, S. 39.
Hilde Kammer/Elisabeth Bartsch: Nationalsozialismus. Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933 — 1945, Reinbek 1992, S. 220. Vgl. auch: Wolfgang Benz: Fremde in der Heimat: Flucht — Vertreibung — Integration, in: Bade, Deutsche im Ausland, S. 375–376.
Gerd R. Überschär: Hitler und Finnland 1939–1941. Die deutsch-finnischen Beziehungen während des Hitler-Stalin-Paktes (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 16), Wiesbaden 1978, S. 151.
Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches, Berlin, Bonn 1986, S. 132.
Theodor Schieder: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten als wissenschaftliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1960), S. 11.
Alfred M. de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1985, S. 199.
Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945–1951 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 65), Göttingen 1985, S. 24.
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Boldorf, M. (1994). Massenzwangsmigrationen in Mittel- und Osteuropa (1933–1950). In: Tessmer, C. (eds) Deutschland und das Weltflüchtlingsproblem. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93628-8_3
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