Zusammenfassung
Ich beginne die hier auszubreitende Analyse der Modernität der modernen Gesellschaft mit der Unterscheidung von Sozialstruktur und Semantik. Meine Präferenz für diesen Anfang — eine Präferenz, die am Anfang nicht schon gerechtfertigt sein kann — hat mit einer verwirrenden Eigenschaft dieser Unterscheidung zu tun, nämlich damit, daß sie sich selber enthält. Sie ist selbst eine semantische Unterscheidung. So wie ja auch die Unterscheidung von Operation und Beobachtung, von der sie abstammt, selbst die Unterscheidung eines Beobachters ist. Ich muß es bei diesem Hinweis belassen und bei der schlichten Behauptung, daß diese logische Form die Grundlage der Fruchtbarkeit von Analysen ist, die ihre Paradoxie entfalten.1 Außerdem enthält dieser Ausgangspunkt im Kern schon die gesamte Theorie der Moderne. Denn die Analyse beginnt nicht mit der Anerkennung bewährter Naturgesetze, auch nicht mit Vernunftprinzipien, auch nicht mit bereits festgestellten oder unstrittigen Tatsachen. Sie beginnt mit einer Paradoxie, die dann auf die eine oder andere Weise aufzulösen ist, will man unendliche auf endliche Informationslasten reduzieren. Die Analyse reklamiert damit für sich selbst die Merkmale ihres Gegenstandes: Modernität.
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Literatur
Diese Annahme entspricht dem Formenkalkül von George Spencer Brown, das mit einer verdeckten Paradoxie beginnt, nämlich mit der Anweisung, ein „distinction“ zu setzen, das aus distinction und indication besteht, aber als ein einziger Operator zu handhaben ist; und mit der offenen Paradoxie eines „re-entry” der Unterscheidung in das Unterschiedene endet. Siehe: Laws of Form (1969), Neudruck New York 1979.
Siehe als ein bekanntes Beispiel: Jürgen Habermas, Die Moderne — ein unvollendetes Projekt, in: dors., Kleine politische Schriften I-IV, Frankfurt 1981, S. 444–464; oder jetzt Stephen Toulmin, Cosmopolis: The Hidden Agenda of Modernity, New York 1990, dt. Übers. Frankfurt 1991.
So in „Lautre cap“, Liber 5 (1990), S. 11–13 (11), zit. nach der Ausgabe Le Monde vom 29. Sept. 1990.
Siehe die Diskussion in: Terence Ball/James Farr/Russell L. Hanson (Hrsg.), Political Innovation and Conceptual Change, Cambridge England 1989.
Vgl. für dies Programm das Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart seit 1972; ferner Joachim Ritter, Metaphysik und Politik: Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969.
Siehe speziell für das Bewußtsein Werner Bergmann/Gisbert Hoffmann, Selbstreferenz und Zeit: Die dynamische Stabilität des Bewußtseins, Husserl Studies 6 (1989), S. 155175 (166 ff.).
Insofern kann Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität, in: Johannes Berger (Hrsg.), Die Moderne — Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonderband 4, Göttingen 1986, S. 283–307 (292)
Hierzu auch Niklas Luhmann, General Theory and American Sociology, in: Herbert J. Gans (Hrsg.), Sociology in America, Newbury Park Cal. 1990, S. 253–264.
Siehe: The Consequences of Modernity, Stanford Cal. 1990.
Die entscheidenden Aufsätze sind gesammelt in: Ronald H. Coase, The Firm, the Market and the Law, Chicago 1988.
Siehe nur Aaron Wildaysky, Searching for Safety, New Brunswick 1988.
Social Epistemology, Bloomington Ind. 1988, S. 81.
Siehe, von der Schizophrenieforschung ausgehend, auch Jacques Miermont, Les conditions formelles de l’état autonome, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 295–314.
Siehe hierzu das Kapitel „Vielfältige Versionen der Welt“ in: Gregory Bateson, Natur und Geist: Eine notwendige Einheit, dt. Übers. Frankfurt 1982, S. 86 ff.
Moderne informationstheoretische Analysen behandeln genau diese Unendlichkeit als Ausgangspunkt für dann „kreativ“ wirkende, aber zeitlich instabile Einschränkungen. Siehe nur Klaus Krippendorff, Paradox and Information, in: Brenda Dervin/Melvin J. Voigt (Hrsg.), Progress in Comniunication Sciences Bd. 5, Norwood N.J. 1984, S. 45–71.
Vgl. z.B. Dean MacCannell/Juliet F. MacCannell, The Time of the Sign, Bloomington Ind. 1982. Eine bekanntere Darstellung dieser Erosion aller Referenz (oder: „Repräsentation“) ist Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979.
Siehe besonders den einflußreichen Aufsatz The Two Dogmas of Empiricism (1951), neu gedruckt in Willard van O. Quine, From a Logical Point of View, 2. Aufl. Cambridge Mass. 1961, S. 20–46.
So Charles Bazerman, Shaping Written Knowledge: The Genre and Activity of the Experimental Article in Science, Madison Wisc. 1988, S. 187 ff. Diese von der Rhetorik her kommende Untersuchung, die auf Referieren referiert und sich daher selbst als Text betrachtet (S. 291), eröffnet auch den Zugang zur parallellaufenden soziologischen Forschung.
Siehe W. Ross Ashby, Principles of the Self-Organizing System, in: Heinz von Foerster/George W. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organization, New York 1962, S. 255–278; neu gedruckt in: Walter Buckley (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcehook, Chicago 1968, S. 108–118.
Siehe Louis H. Kauffman, Self-reference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10 (1987), S. 53–72.
Speziell zu dieser Entwicklung Ian Hacking, Why Does Language Matter to Philosophy, Cambridge Engl. 1975. In diesen Zusammenhang gehören auch Versuche, die Einseitigkeit von entweder rationalistischen oder konsensualistischen Wahrheitskriterien durch deren Kombination im Sinne rationaler Akzeptierharkeit abzuschwächen. Siehe etwa Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt 1982, oder Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt 1981.
Vgl. z.B. Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid: Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt 1989, oder für die Kontroversen unseres Jahrhunderts die Polemik von Eduard Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik — Alternativen der Rechtsgewinnung? Juristenzeitung 43 (1988), S. 1–12, 67–75.
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988.
Auch Giddens a.a.O. (1990), insb. S. 149 f. stellt dem Konzept der Postmoderne ein Konzept der radikalisierten Moderne gegenüber und optiert für das letztere.
Vgl. hierzu Jacques Derrida, De l’esprit: Heidegger et la question, Paris 1987, dt. Übers. Frankfurt 1988; aber auch die etwas simple Art, wie Marxisten vor kurzer Zeit noch ihr Erstaunen darüber äußerten, daß „bürgerliche“ Theorien nicht zugehen, daß sie für Kapitalismus optieren.
Vgl. Gregory Bateson, Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, Frankfurt 1982, S. 122.
Vgl. auch Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, Bern 1988; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990.
formuliert im Anschluß an die linguistische Unterscheidung von markiert/unmarkiert. Siehe z.B. John Lyons, Semantics Bd. 1, Cambridge Engl. 1977, S. 305 ff.
Siehe mit Beispielen aus der Mathematik Heinz von Foerster a.a.O., insb. S. 207ff. Zur Anwendung auf das Wissenschaftssystem vgl. auch Wolfgang Krohn/Günter Köppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, Frankfurt 1989, S. 46 ff., 134 ff.
Vgl. E.T.A. Hoffmann, Klein Zaches, genannt Zinnober.
Fragment Nr. 2167 nach der Zählung der Ausgabe von Ewald Wasmuth, Fragmente II, Heidelberg 1957.
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Luhmann, N. (1992). Das Moderne der modernen Gesellschaft. In: Beobachtungen der Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93617-2_1
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