Anthropologische Reflexion im Kontext sozialwissenschaftlicher Theorien

Zusammenfassung

Um die Beziehung zwischen Anthropologie und sozialwissenschaftlicher Theorie zu charakterisieren, möchte ich die Erinnerung an einen Vortrag von Fuchs in Princeton benützen, einem Mathematiker von Rang, der zugleich ein ausgezeichneter Musikkenner war. Er führte aus, daß zwar die Musik durch und durch von mathematischen Gesetzmäßigkeiten durchsetzt sei, daß aber das für die Musik Essentielle sich zumeist als mathematische Trivialität erweise, während umgekehrt das mathematisch Interessante meistens für das Verständnis der Musik nichts hergäbe. Ganz ähnlich möchte ich über den Zusammenhang zwischen anthropologischen Gesichtspunkten und sozialwissenschaftlicher Theorie argumentieren. Gewiß werden mit jeder sozialwissenschaftlichen Theorie — meist immanent — auch anthropologische Annahmen gesetzt. Aber diese anthropologischen Gehalte sind eher unbestrittenes Hintergrundwissen als tragende Pfeiler der Sozialtheorien selber. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den wichtigsten sozialwissenschaftlichen Theorien ergeben sich weniger aus ihren impliziten oder expliziten anthropologischen Voraussetzungen als aus Konstruktionsprinzipien und Betonung von Problemen. Umgekehrt ließe sich auch nicht behaupten, daß sozialwissenschaftliches Räsonieren zu einem erheblichen Teil in die Entwicklung anthropologischer Vorstellungen eingegriffen hätte.