Zusammenfassung
Das Wandlungsdrama, das hier charakterisiert wird, ist eine Neuentwicklung des Expressionismus, aber seine traditionellen Wurzeln sind unverkennbar. Wandlung und Läuterung erinnern an den religiösen Weg von der Reue und Buße zur Besserung; die Stationen der Entwicklung und die Ausrichtung auf ein Ziel zudem an das klassische Konzept der Bildung. Neu ist aber der Bildungsgang als antibürgerlicher Auf- und Ausbruch in eine abstrakte Utopie und seine Funktion als eindringlicher Appell an den Zuschauer zur Nacheiferung. Die Expressionisten wollen „bekennen und verkünden, auffordern und aufreizen, bewegen und verändern mit Hilfe ihrer Dramen“, und zwar „die Wandlung des Einzelnen als Auftakt für die Änderung der Welt“.2 Im Protagonistendrama sind die anderen Figuren und die Handlung der Hauptfigur untergeordnet, an der die Wandlung oder die Unfähigkeit zur Wandlung demonstriert wird, die letztlich zum Menschheitsparadies oder zum Untergang führt. Hier gibt der einzelne am eindrücklichsten in Monolog und Dialog Kunde von sich selbst, deshalb handelt es sich meist um „Sprechdramen“, die aber Geste und Raum einbeziehen. Um den im Innern verlaufenden Prozeß sichtbar zu machen, wird meist eine „Stationenkette“ oder ein „Bilderstreifen“ vorgeführt. Dieser muß sich um der Suggestivwirkung willen des Pathos und der Rhetorik der Allegorese und Symbolik und des Theatereffekts bedienen.
Das expressionistische Theater war sicherlich das Theater der Avantgarde, der jungen Schauspieler und Regisseure.... Es läßt sich als opernhaftes Verkündigungsdrama bezeichnen, das im appellati-ven Pathos der Mittelpunktsfigur jeweils bestimmte Erfahrungsabschnitte als Stationen einer Seelenwandlung darstellt, an deren Ende zumeist die Verkündigung des neuen Menschen, die Anrufung einer abstrakten Utopie, steht.1
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Manfred Durzak: Expressionistisches Drama, in: Glaser: Deutsche Literatur, S. 327–339, hier S. 327.
Horst Denkler: Das Drama des Expressionismus, in: Rothe: Expressionismus, S. 127–152, hier S. 141.
Denkler (Drama, S. 143) spricht auch von der „Tragikomödie eines Wandlungssimulanten,“ August Stramms Einakter gestalten ebenfalls einen vitalistischen Ausbruch ohne Familienkonstellation, sind aber v.a. wegen der experimentellen Sprachbehandlung interessant.
Denkler: Drama, S. 142f.
Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt/M. 1968, S. 105ff.
Da die Kategorien in Denklers Dissertation (Drama des Expressionismus. Programm — Spieltext — Theater, München 1972.) aber keine Strukturdifferenzen, sondern nur Anleihen bei Nachbargattungen bezeichnen, z.B. dem Konversationstück, dem Film und der Oper, können sie nur bedingt die radikalen Änderungen des modernen Dramas beschreiben.
Paul Pörtner (Expressionismus und Theater, in: Rothe: Expressionismus, S. 194–214) unterscheidet das expressionistische „Wort-Theater“ vom politischen Regietheater (S. 207).
Paul Schuhes (Expressionistische Regie. Dissertation Köln 1981, S. 51, vgl. S. 60) betont die „expressionistische Lichtregie“, „die mit Hilfe der Scheinwerfer ein visionäres Spiel aus kurzen Szenen, eine rasche kinohafte Bildfolge bezweckte, einzelne Figuren blitzartig herausleuchtete und andere auslöschte“.
Vgl. Manfred Durzak: Das expressionistische Drama. Carl Sternheim — Georg Kaiser, München 1978, S. 87: „Aber gerade dadurch, daß Sternheim seine Programme überspielt und die These von der eigenen Nuance parodistisch und selbstkritisch widerlegt, erreicht seine Komödie eine Geschlossenheit und Überzeugungskraft“.
Vgl. Franz Mennemeier: Modernes Deutsches Drama. Kritiken und Charakteristiken, Bd. 1, München 1973, S. 108ff. Wolfgang Emrich entwickelt seine These im Vorwort zu seiner Sternheim-Ausgabe.
Vgl. Winfried Freund: Die Bürgerkomödien Carl Sternheims, München 1976, S. 69: „In allen herangezogenen Komödien gibt es jeweils einen absolut Situationsmächtigen, von dessen geschicktem Einsatz suggestiver und machtpolitischer Mittel es abhängt, ob er sein Ziel erreicht. Keinesfalls liegt es aber im Bereich des Möglichen, den Situationsmächtigen im Rededuell zu überzeugen, da dieser von vornherein für jede ideelle Argumentation unzugänglich ist“.
Vgl. Durzak: Drama. Sternheim-Kaiser, S. 116. Noch unglaubhafter und unrealistischer ist das späte Drama Hölle Weg Erde, wo eine individuelle Wandlung einen kollektiven Aufbruch ins Unbekannte auslöst. Überzeugender ist Reinhard Goerings Seeschlacht, die ein ähnlich geschlossenes Modell einer zugespitzten Entscheidungssituation, nämlich im isolierten Panzerturm während einer Schlacht, entwirft.
Die Hauptfigur inszeniert mit den Nebenfiguren „ein didaktisches Lehrstück, um die Opferbereitschaft der sechs völlig zu entschlacken“. Durzak: Drama. Sternheim-Kaiser, S. 149. Das darin enthaltene elitäre Moment, das Kaiser von Nietzsche und George übernommen hat, ist nicht untypisch für den Expressionismus.
Denkler spricht in seiner Dissertation S. 98 von einer „‘kubistischen’ Struktur“ der Dramen, Schultes (Regie, S. 64) von einem „kubistischen Darstellungsstil“.
Durzak: Drama. Sternheim-Kaiser, S. 107. Peter Uwe Hohendahl (Das Bild der bürgerlichen Welt im expressionistischen Drama, Heidelberg 1967, S. 99f.) weist auf die Diskrepanz zwischen der Mikrostruktur des individuellen Aufbruchs und der Makrostruktur der fortdauernden kapitalistischen Gesellschaftsordnung hin.
Vgl. Horst Meixner: Drama im technischen Zeitalter — die expressionistische Innovation, in: Expressionismus. Sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung, hrsg. von H. Meixner und S. Vietta, München 1982, S. 30–40.
Vgl. Klaus Petersen: L. Rubiner. Eine Einführung mit Textauswahl u. Bibliographie, Bonn 1980, S. 86: „Die Handlung demonstriert den Erneuerungsprozeß einzelner /der ‘Erweckten’// zeigt, wie er sich auf andere auswirkt, immer weitere Kreise zieht, die Bevölkerung einer ganzen Stadt erfaßt und sich schließlich in die Menschheit ausweitet.“ Vgl. Kolinsky: Expressionismus, S. 61ff.
Nach Denkler (Dissertation, S. 177) ist Tollers Wandlung das letzte einpolige Wandlungsdrama. Durzak (Das expressionistische Drama. E. Barlach — E. Toller — Fritz v. Unruh. München 1979.) sieht in der Sonja von Masse Mensch den neuen Menschen (S. 135), dagegen in Hoppla, wir leben „Gegen-Wandlung“ gestaltet (S. 149).
Gerhard F. Knapp: Die Literatur des deutschen Expressionismus. Einführung — Bestandsaufnahme — Kritik, München 1979, S. 127.
Durzak: Drama. Barlach — Toller — Unruh, S. 123.
Annalisa Viviani: Das Drama des Expressionismus. Kommentar zu einer Epoche, München 1970, S. 61.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1994 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Esselborn, H. (1994). Das Drama des Expressionismus. In: Piechotta, H.J., Wuthenow, RR., Rothemann, S. (eds) Die literarische Moderne in Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93605-9_16
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-93605-9_16
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-12512-1
Online ISBN: 978-3-322-93605-9
eBook Packages: Springer Book Archive