Zusammenfassung
Prousts A la recherche du temps perdu sei, schreibt Jean-Yves Tadié, „le dernier grand rêve du XlXieme siècle et le premier roman moderne du XXieme“1. Da die Proustforschung im Zeitalter der Moderne entstand, ist es kaum verwunderlich, daß sie die eine Seite dieses janusköpfigen Werkes, die moderne, weitaus stärker betonte als jene andere, traditionelle und passeistische.2 Doch das — wenngleich nur partielle — Vergessen hat seinen Preis, nicht nur für das Verständnis eines Erinnerungsromans. Dem Bestreben der Forschung, Prousts Modernität als die bestimmende Signatur seines Werkes zu verstehen, sei die Mutmaßung entgegengehalten, daß Proust auf den Spuren der verlorenen Zeit die Relativität der Moderne entdeckt, und zwar gerade dadurch, daß er Züge der Modernität ins Werk setzt — welche, wird zu zeigen sein.
il tire l’éternel du transitoire. (Baudelaire)
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Anmerkungen
A la recherche du temps perdu: vol. I, Paris 1987, Introduction générale, S. X.
Cf. Anne Henry: Aspects de la modernité proustienne, in: Avant-garde et modernité (- Littérature moderne, 1), Paris/Genève 1988, S. 87–103; Karl Hölz: Die Recherche im Spiegel einer Ästhetik der Modernität, in: Marcel Proust: Motiv und Verfahren, hrsg. von Edgar Mass, Frankfurt/M. 1986, S. 116–132. Zu einer zwischen Tradition und Modernität abwägenden Deutung gelangt Michel Raimond: Proust romancier, Paris 1984, conclusion. Das Werk von Ramon Fernandez: Proust ou la généalogie du roman moderne (Paris 1979) hat trotz seines griffigen Titels mit der Modernität Prousts allenfalls implizit zu tun.
Die für Proust typische Verbindung von Lesen und Schreiben kennzeichnet Volker Roloff wie folgt: „Entscheidend ist für Proust (…) der Versuch, die ästhetische Erfahrung der Lektüre vor allem in ihrer Funktion für die Komposition des eigenen literarischen Werkes darzustellen.“ Werk und Lektüre. Zur Literarästhetik von Marcel Proust, Frankfurt/M. 1984, S. 224.
Correspondance de Marcel Proust: éd. P. Kolb, vol. IX (1909) 5.163 (16. Aug. 1909).
Maintenant, je peux mourir“, berichtet Céleste Albaret: Monsieur Proust, Paris 1973, S. 403.
Zur Begriffsgeschichte von ‘modern’ vgl. den instruktiven Artikel von H.-U. Gumbrecht: Modern. Modernität. Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache und Deutschland, hrsg. von O. Brunner, W. Conte u.a., Stuttgart 1972ff.
Baudelaire etwas ungenau paraphrasierend, spricht Jauß davon, daß die Moderne „im unaufhörlichen Umschlag vom Aktuellen zum Klassischen sich selbst zur antiquité wird.“ Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: Aspekte der Modernität, hrsg. von Hans Steffen, Göttingen 1965, S. 150–197, hier S. 183.
Die Recherche bestehe, so Adorno, aus ineinandergewachsenen Einzeldarstellungen; vgl. Kleine Proust-Kommentare, in: Noten zur Literatur II, Frankfurt/M. (2)1973, S. 95–109, hier S. 95.
Die unter dem Titel „Contre-Sainte-Beuve“ bekannt gewordenen Vorstudien zur Recherche enthalten einen Baudelaire-Essay; cf. Contre Sainte-Beuve, precede de Pastiches et Mélanges et suivi de Essais et articles, éd. Pierre Clarac und Yves Sandre, Paris 1971, S. 243–262.
Unter dem Titel „Contre l’obscurité“ veröffentlichte Proust 1896 in der Revue Blanche einen Artikel gegen die ‘Dunkelheit’ in der Poesie; vgl. Contre-Sainte-Beuve, op. cit. S. 390–395.
Berühmt wurde die Äußerung, die der Direktor des 011endorf-Verlages, Humblot, nach der Lektüre des Romananfangs tat: „Ich bin vielleicht strohdumm, aber ich kann nicht verstehen, wie ein Herr dreißig Seiten darauf verwenden kann, um zu beschreiben, wie er sich in seinem Bett dreht und wendet, bevor er einschlafen kann.“ Der Bericht stammt von L. de Robert (Comment débuta Marcel Proust, Paris 1925) und wurde zitiert nach: Jean-Yves Tadié: Proust, Frankfurt/M. 1987, S. 376.
Im folgenden wird Prousts Recherche, falls es nicht auf sprachliche Feinheiten ankommt, nach der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens zitiert: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: 3 Bde., Frankfurt/M. 1967 - unter Angabe der Seite, denn der Text ist durchnumeriert. Diese Übersetzung verändert oftmals ohne Not das Original und enthält nicht wenige Mißverständnisse. Um den Leser durch die Übersetzung nicht irrezuführen, gebe ich hinter der Übersetzung immer auch die Originalstelle an - mit der römischen Ziffer für den Band, der arabischen für die Seite, zitiert nach: A la recherche du temps perdu, éd. P. Clarac und Y. Sandre, Paris 1954, 3 vols.
Zur Bedeutung der Architektur für das Proustsche Werk, die uns hier nicht weiter beschäftigen kann, cf. K. Bourlier: Proust et l’architecture, Montreal 1980.
Insofern ist, was bei Proust wie ein Beitrag zur Ruinenpoesie erscheinen könnte - als Einsicht in die vanitas mundi und als Appell an die Imagination (vgl. Roland Mortier: La poétique des ruines en France, Genève 1974) - nur ein rudimentäres Überleben des Vergangenen ohne den Erinnerungswert wiedererlebter Totalität.
Das ist heute eindrucksvoll belegt durch die Werke, vor allem die Prosaschriften, von Thomas Bernhard, dessen Beziehung zu Proust unlängst von Rainer Moritz herausgestellt wurde; vgl. Landmarken der Erinnerung. Proust und die deutsche Gegenwartsliteratur in: Proustiana VIII/IX, Frankfurt/M. 1991, S. 55–58, hier S. 57.
Diese Problematik erkannt zu haben, ist das große Verdienst der Dissertation von Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, Heidelberg 1955; vgl. bes. Kap. II.
Eine Theorie des ‘Kurzschlusses’ für die Proustsche Metapher entwickelt Jean Ricardou: ‘Miracles’ de l’analogie (Aspects proustiens de la métaphore créatrice), in: Etudes proustiennes II (- Cahiers Marcel Proust, 7), Paris 1975, S. 11–42.
Volker Roloff hat unlängst dargelegt, daß die Matinée Guermantes in den Kontext einer generellen Theatralisierung des Romans bei Proust gehört; vgl. Theater und Theatralisierung des Romans in Prousts Recherche, in: Jaarboek van de Nederlandse Vereniging van Vrienden van Marcel Proust, 1989/90, S. 16/17, 34–52.
Aus solchen Wendungen in den Innenraum bezieht die Proust-Rezeption bei Beckett wesentliche Impulse; vgl. Hans-Hagen Hildebrandt: Becketts Proust-Bilder. Erinnerung und Identität, Stuttgart 1980, bes. Kap. Wiederholung.
Cf. K. Stierle: Aspekte der Metapher, in: Id.: Text als Handlung, München 1975, 5.152–185, bes. S. 163f.
An diesem Punkt schlägt Prousts Modernität in eine Kritik der Moderne um, da ein Sich-Abfinden mit der Vergänglichkeit auch der Kunst hier so wenig statthat wie in der ‘klassischen Moderne’ Frankreichs generell. Baudelaires Theorie des Schönen enthält zwar die Modernität als konstitutives Element, aber eben nur als die eine Seite der Kunst, deren andere das Ewige ist: “La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.” Oeuvres complètes, éd. C. Pichois, 2 vols., Paris 1976, hier II, S. 695.
Das schwierige Verhältnis von Tradition und Modernität bei Proust wird an dieser Stelle besonders anschaulich. Auf der einen Seite greift der Gedanke einer ‘konservatorischen’ Funktion des Buches auf die alte mundus-liber-Tradition zurück, andererseits aber konnotiert er jene Transzendenz des Buches, die auch Mallarmés’livré -Projekt kennzeichnet. Dadurch ergibt sich die Frage, ob das am Ende der Recherche konzipierte Werk mit dem bereits geschriebenen identisch sei. Vgl. hierzu Gérard Genette: Discours du récit, essai de méthode, in: Figures III, Paris 1972, S. 235ff.
Vgl. hierzu Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977.
Dies ist das Verständnis der Moderne, wie es Schiller, freilich ohne den Begriff in signifikanter Weise zu verwenden, in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung entfaltet.
Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Darstellung der Beschreibung bei Proust; vgl. Vf.: Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objekts im Werk Marcel Prousts, Stuttgart 1980.
Vgl. U. Link-Heer: Prousts „A la recherche du temps perdu“ und die Form der Autobiographie, Amsterdam 1988. Bruchlos läßt sich die Recherche gewiß nicht der Autobiographie zuordnen, da diese ein empirisches Ich voraussetzt; inwieweit sie es auch zur Darstellung bringen kann, ist eine andere Frage; vgl. Rebecca M. Pauly: Le berceau et la bibliothèque. Le paradoxe de l’écriture autobiographique, Saratoga/Calif. 1989.
Vgl. Alain de Lattre: La doctrine de la réalité chez Proust, Paris 1978, S. 16 und V. Roloff: op. cit. S. 8.
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Corbineau-Hoffmann, A. (1994). Marcel Proust. In: Piechotta, H.J., Wuthenow, RR., Rothemann, S. (eds) Die literarische Moderne in Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93604-2_11
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-93604-2_11
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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