Zusammenfassung
Nach dem Niedergang marxistischer und neomarxistischer Theorien ist die politikphilosophische Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte wesentlich durch zwei Kontroversen bestimmt worden. Zum einen die Debatte um den Stellenwert der praktischen Vernunft. Hier stehen sich Positionen, die sich mehr oder weniger stark auf Kant berufen und nach einer neutralen Fundierung der liberalen Demokratie streben, solchen gegenüber, die derartigen Versuchen, ein einheitliches, allgemeingültiges Prinzip praktischer Vernunft als Grundlage verbindlicher Normen und Institutionen zu formulieren, mit großer Skepsis begegnen. Insbesondere sehen die Vertreter dieser, gemeinhin als postmodern charakterisierten, Theorien in jenem Unterfangen die Gefahr der Eskamotage von Machtmechanismen angelegt. Praktische Vernunft, so deren hier etwas grob zusammengefaßte Überzeugung, konstituiert sich auf Kosten eines anderen, das sie immer und notwendig ausschließt. Daher gäbe es auch keine allgemeingültigen Prinzipien praktischer Vernunft, und die von ihr abgeleiteten Normen und Institutionen seien lediglich Ausdruck von gesellschaftlichen Konventionen, mithin von Machtverhältnissen, deren Wirkmächtigkeit gerade durch die Postulierung vermeintlich allgemeiner Prinzipien verschleiert werde.
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Ein dritter Strang der Diskussion der letzten Jahrzehnte betrifft die Frage nach der staatlichen Wohlfahrtspolitik. Inwieweit ist eine Umverteilung der materiellen Ressourcen legitim? Stellt eine hohe Besteuerung zum Zwecke der Gewährleistung annähernder Chancengleichheit, wie sie etwa Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit vertritt, einen zulässigen Eingriff in die Freiheitsrechte der Vermögenden dar? Oder ist nicht vielmehr Robert Nozick (1974) recht zu geben, für den dies auf eine Art Zwangsarbeit hinausläuft? Die Kontroverse um solche und ähnliche Fragen der sozialen Gerechtigkeit soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter thematisiert werden, da sich bei Dewey neben den bereits skizzierten politischen Forderungen — etwa nach der Sozialisierung des Bodens, der Banken und der Schlüsselindustrien — keine Auseinandersetzung mit diesem Thema finden läßt, die sich mit der derzeitigen Diskussion messen lassen könnte. Sein Konzept der ‘effective freedom’ weist aber Parallelen zum Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen auf (Sen 1987, 1992). Zur neueren Diskussion vgl. u.a. Kersting (2000, 2000a), Nullmeier (2000) und Krebs (2000). Auf die aktuelle Debatte zu den Chancen und Risiken einer ‘deliberativen Demokratie’ werde ich dagegen im achten Kapitel eingehen.
„In saying that a conception is moral, I mean, among other things, that its content is given by certain ideas, principles and standards; and that these norms articulate certain values, in this case political values“ (Rawls 1993: 11).
In diesem Punkt unterscheidet sich die politische Konzeption von der Kantschen Moralphilosophie. Rawls zufolge beansprucht Kant nämlich die Gültigkeit seiner moralischen Prinzipien auch in der Sphäre des Privaten. Eine solche ‘Tugendlehre’ lasse sich aber nicht mit der geforderten Anerkennung des ‘fact of reasonable pluralism’ vereinbaren (Rawls 1993: 99 f.).
Einen guten Überblick über die Kontroverse zwischen Rawls und Habermas, gleichsam aus der Perspektive eines jüngeren Familienmitglieds, bietet Forst (1999).
Eine ähnliche Kritik der politischen Philosophie findet sich bei Arendt (1993), einen Überblick über die Debatte bietet Reese-Schäfer (1997: 637 ff.).
Zum Vorwurf der substantialistischen Verunreinigung bei Rawls vgl. auch Forst (1994: 156).
Neben Rorty sind hier insbesondere Mouffe (1993, 2000) und Kohn (2000) zu nennen.
Konkretere Ausführungen hierzu finden sich indes bei den Vertreterinnen der feministischen Universalismuskritik; vgl. für viele Okin (1989), Minow (1990) und Young (1990); eine Metakritik findet sich bei Phillips (1993). Ich werde in 8.4 im Anschluß an Dewey eine ähnliche Kritik entwickeln, die sich gegen die Rigiditäten der politischen Theorie Habermas’ richtet. Dabei wird auch auf dem Zusammenhang von Habermas’ diskurstheoretischen Begründungszusammenhang und dessen institutioneller Umsetzung einzugehen sein.
Indes stellt sich hier, worauf Richard Bernstein zu Recht insistiert, die Frage, was denn genau unter ‘liberalen Gewohnheiten’ zu verstehen sei (Bernstein 1987). Denn mit Rortys Hinweis auf ‘unsere’ politische Kultur ist angesichts der innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Ausbuchstabierung dieser liberalen Demokratie zunächst einmal nicht allzu viel gewonnen. Bernstein macht auf die Koexistenz eines individualistischen und eines republikanischen Stranges aufmerksam, also auf zwei politische Traditionen, die nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Welche von beiden ist dann aber der adäquate Ausdruck unserer politischen Überzeugungen und Praktiken? „For Rorty writes as if we all know what theses practices are. Given Rorty’s constant appeal to history and historicism, he ignores the historicalfact that we are confronted with conflicting and incompatible practices — even in socalled liberal democracy” (Bernstein 1987: 548, Herv.i.O.).
Eine gute Übersicht über den aktuellen Stand seines Begründungsprogramms hat Habermas jüngst in Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft (2001) geliefert; vgl. auch die Aufsätze in Habermas (1999). Eine detaillierte Darstellung findet sich im Abschnitt 8.4, dort werde ich seine Konzeption einer ‘kommunikativen Rationalität’ und die daraus gewonnene Theorie des demokratischen Rechtsstaats mit Deweys pragmatistischer Demokratietheorie kontrastieren.
Daß sich hinter dem Streben nach einer Fundierung politischer Institutionen eine Suche nach Gewißheit verbirgt, wird — ohne direkten Bezug auf Dewey — auch von Don Herzog unterstrichen: „I mean only to suggest that foundationalism is indeed the symbol of the quest for certainty.“ (Herzog 1985: 220); vgl. Ripstein (1987).
Eine Einschätzung, die im übrigen von einer ganzen Reihe von Dewey-Interpreten geteilt wird; vgl. u. a. Stuhr (1992), MacGilvray (1999, 2000), Putnam (1994a, 1997), Shusterman (1995).
Hans Joas spricht von einer ‘Sakralisierung der Demokratie’ bei Dewey (Joas 1997), in eine ähnliche Richtung zielt auch Sleeper (1988), der von einer Metaphysik der amerikanischen Demokratie spricht. Auf die hiermit lediglich angedeutete Problematik von Deweys Demokratieverständnis wird zurückzukommen sein; vgl. unten S. 168.
Insofern handelt es sich um das Unterfangen einer ‘rationalen Rekonstruktion’, wie sie in der Einleitung vorgestellt worden ist.
Zu Rortys Gegenüberstellung von metaphysischen und historistischen Werken Deweys vgl. oben S. 63.
Ähnlich argumentiert auch John Stuhr (1993a: 49).
Auf den hier angedeuteten Zusammenhang von Demokratie und Selbstentfaltung werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.
Vgl. die Abschnitte 2.2 und 2.4.2. Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch bei Westbrook, der den Zusammenhang von Deweys Naturalismus und dessen Demokratietheorie hervorhebt: “Experience and Nature was, for the most part, a rich and original philosophic anthropology that fell short of a ‘wholehearted’ investigation of the generic traits of nature. But for his democratic theory, it was enough” (Westbrook 1991: 346).
Vgl. Abschnitt 3.2 des ersten Teils.
Für den jungen Dewey besitzt dieses „ethical postulate“ einen analogen Status wie die Axiome der Naturwissenschaften: „All science rest upon the conviction of the thoroughgoing and permanent unity of the world of objects known [...] Moral experience makes for the world of practice an assumption analogous in kind to that which intellectual experience makes for the world of knowledge“ (EW 3: 323). Und er fügt hinzu, daß diese Postulate weder durch die Wissenschaften selbst noch von der Logik gerechtfertigt werden könnten; dies sei allein Aufgabe der Metaphysik.
Hier offenbart sich nicht zufällig eine Nähe zu evolutionstheoretischen Annahmen. Wie eingangs gezeigt (S. 29), hat die Lektüre von Thomas H. Huxley bereits in jungen Jahren einen tiefen Eindruck in Dewey hinterlassen; es ist vor allem das Organismus-Konzept, die Vorstellung von einem harmonischen Zusammenspiel der Elemente, das er sich zu eigen gemacht hat und hier auf die menschliche Gesellschaft überträgt.
Die Relevanz dieser neuen Erfahrung für die Entwicklung von Deweys Denken wird von Westbrook (1991: 83 ff.) und Rockefeller (1991) betont.
Henry Richardson (1995) hat dieses zentrale Motiv der Ethik Deweys wieder aufgenommen.
Hieraus eine unlösbare Spannung zwischen einer teleologischen und einer deliberativen Moraltheorie abzuleiten, wie dies bei Honneth (2000) der Fall ist, schießt insofern über das Ziel hinaus, als die Verfahrensrationalität bei Dewey vorwiegend einen instrumentellen Wert besitzt.
Vgl. zu einer derartigen Kritik etwa Rorty (1988, 1996) und Mouffe (1993).
Welchman bezieht sich auf Hume (1978).
Vgl. hierzu ausführlicher unten Abschnitt 8.3.
Als ein kommunitaristischer Stichwortgeber wird Dewey unter anderen von Robert Bellah u.a. (1987), Benjamin Barber (1984) und Michael Sandel (1996) in Anspruch genommen. Auch Hans Joas (1993) deutet Dewey als einen Vorläufer des Kommunitarismus. Joas hebt jedoch zu Recht hervor, daß für Dewey weniger die Idee der Gemeinschaft als die der Demokratie den zentralen Wert darstellt.
Auch in der Betonung der Bedeutung vorpolitischer Aktivitäten für den Prozeß der Selbstentfaltung ist eine wichtige Differenz zur republikanischen Denktradition, die oftmals zu einer Überpolitisierung neigt, zu sehen; vgl. Dewey (1996: 121, 128).
Welchman faßt diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Intellectual growth requires experimentation. So what we must want whatever else we want is the freedom to experiment with our lives. [... The development of personal life, as Dewey often reminds us, is a social project. If we stunt the freedom of one to innovate and experiment [...], we stunt the growth and the development of the whole community” (Welchman 1995: 198).
Hier gilt somit die gleiche Einschränkung, die uns bereits bei Deweys metaphysischer und ethischer Demokratiebegründung begegnet ist: Er selbst liefert kein zusammenhängendes Begründungsprogramm.
Ich folge hier Westbrook (2000: 348 ff.).
Zur Logik der ‘inquiry’ vgl. Abschnitt 3.2.
Dies ist bekanntlich einer der wesentlichen Aspekte von Charles Taylors Sozialphilosophie.
Sowohl in seiner Moral- wie auch in seiner Religionsphilosophie hat sich Dewey dagegen ausführlicher mit existentiellen Konfliktsituationen auseinandergesetzt; einen Überblick hierzu liefert Joas (1997).
Dies bedeutet nicht, daß Dewey jegliche Form der Expertise ablehnt, vielmehr betrachtet er diese als eine unabdingbare Voraussetzung kollektiven Problemlösungshandelns. Nur muß sich ihm zufolge die Rolle der Experten auf die von Zuliefern beschränken; sie versorgen die Öffentlichkeit mit wissenschaftlichen Expertisen, doch dürfen sie die Entscheidungsfindung nicht präjudizieren; vgl. Abschnitt 8.3.
Es ist hier freilich nicht der Ort für eine ausführliche Gegenüberstellung der hier entwickelten Rekonstruktion Deweyscher Gedankengänge mit dem politischen Liberalismus Mills. Dennoch soll im folgenden auf einige erstaunliche Parallelen aufmerksam gemacht werden, vor deren Hintergrund die Differenzen urn so aufschlußreicher sind. Ziel dieser Vorgehensweise ist aber weniger eine adäquate Darstellung des Millschen Begründungsprogramms, vielmehr soll der Vergleich dazu dienen, die Besonderheiten von Deweys Argumentation hervorzuheben. Ausführlich wird die Verwandtschaft von James Gouinlock (1986) gewürdigt.
Macpherson bezeichnet dieses erste Modell als Demokratie als Schutz des Bürgertums’ (1983: 34 ff.).
Vgl. die oben (S. 129 ff.) skizzierte Kritik Deweys am possessiven Individualismus.
Die Vereinbarkeit von Mills Utilitarismus mit seinem Liberalismus ist in der Forschung umstritten. Einen guten Überblick über die entsprechende Diskussion findet man bei Gray/Smith (1991).
In der 2. Auflage der Ethics deutet Dewey selbst eine derartige Mill-Interpretation an, bei der auch dessen deontologische Elemente herausstellt: „This revised version [Mills utilitarism, D.J.] recognizes the great part played by factors internal to the self in creating a worthy happiness, while it also provides a standardfor the moral appraisal of laws and institutions“ (LW 7: 245, Herv. D.J.).
Insofern ist Hans Joas zuzustimmen, wenn er bei Dewey eine ‘Sakralisierung der Demokratie’ (Joas 1997: 187 ff.) ausmacht. Der damit verknüpfte Vorwurf, Dewey hätte keine überzeugende Antwort auf die Frage nach den affektiven Voraussetzungen der Demokratie geliefert, ist, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, jedoch nicht zutreffend.
An diese Unterscheidung anknüpfend zeigt sich Gutmann davon überzeugt, daß die Konzeption deliberativer Demokratie eine derartige Rechtfertigung liefern könne. Aus einer pragmatistischen Perspektive betrachtet ergeben sich jedoch Zweifel. Zum einen, weil zumindest in der Variante, die Habermas vorgelegt hat, weiterhin das Streben nach einer Fundierung durchscheint, zum anderen aber auch, weil sich aus deliberativen Konzeptionalisierungen der Politik einige demokratietheoretische Mängel ergeben. Daß beide Aspekte zusammenhängen, soll am Ende dieser Arbeit ausführlicher gezeigt werden; vgl. Abschnitt 8.4.
Rorty charakterisiert diese Vorgehensweise mit folgenden Worten: “Doch damit rechtfertigt ein solcher Philosoph nicht diese Institutionen, indem er auf fundamentalere Prämissen bezug nimmt, sondern er verfährt umgekehrt: Er stellt die Politik an den Anfang und stutzt die Philosophie dementsprechend zurecht” (Rorty 1988: 87). Rorty geht jedoch fehl in der Einschätzung, daß hieraus zwangsläufig die Nutzlosigkeit philosophischer Rechtfertigungen folgen muß. Daß dies nicht der Fall ist, daß philosophische Konstruktionen einen Unterschied zu leisten in der Lage sind, ist hier im Anschluß an Dewey gezeigt worden.
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Jörke, D. (2003). Eine pragmatistische Verteidigung der Demokratie. In: Demokratie als Erfahrung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93550-2_7
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