Zusammenfassung
»Wer um ein Verständnis der wirklichen Verlaufsart sowohl des Vergangenen als auch des Zukünftigen — das, wie die menschliche Natur nun einmal ist, so oder ähnlich sein wird — sich bemüht, der wird urteilen, daß mein Werk nützlich sei, und das genügt. Als ein Besitz für immer ist es aufgeschrieben, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören.«1 Zwar gipfelt in dieser berühmten Formulierung des Thukydides seine Kritik an Herodot, und doch bekundet sie die tiefere Gemeinsamkeit zwischen den beiden »Vätern der Geschichte«, die ihre Differenz übergreift, die Überzeugung nämlich, daß der Grundcharakter des geschichtlichen Geschehens durch die Wiederholung geprägt wird. Für dieses »Apriori« des abendländischen Geschichtsbewußtseins bürgt zuerst das Epos und der mit dessen religiösem Horizont innigst verbundene Orakelglaube, der menschliches Erkennen, menschliches Handeln und Entscheiden eingebunden sieht in einen durch Anfang und Ende begrenzten Folgezusammenhang, dessen wahre Bestimmungsfaktoren, um sich vollständig auszuwirken, solange unsichtbar bleiben bzw. sich hinter Scheinbarkeiten verbergen, bis schließlich in überraschender Wende der Wiederholungszusammenhang des vermeintlich Diskontinuierlichen zutage tritt.
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Anmerkungen
Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, I 22. Daß der Kontext des Zitats eine Kriegserzählung ist, signalisiert uns die entscheidende Bedeutung der »polemischen« Erfahrung für das »Seinsverständnis« innerhalb der Epoche der Wiederholung.
Vgl. Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 21983, S. 1–31), S. 2: »Sie ist Perspektive im wahrsten Sinne, indem sie durch das Sichtbare auf das Unsichtbare, durch das Significans auf das Significatum hindurchschaut. Sie leitet vom Fundament zum Gewölbe, vom Irdischen zum Himmlischen.« (Zur Typologie ferner: Volker Bohn (Hrsg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M. 1988; zur Antithese als Wiederholungsfigur: Jörg Villwock: Antithese, in: G. Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. I, Tübingen 1992, S. 722ff.).
Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 469ff.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S. 605.
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 113.
Zur Wiederholung als Figur der Offenbarungsrhetorik siehe J. Villwock: Die Sprache — Ein »Gespräch der Seele mit Gott«. Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik, Frankfurt/M. 1996.
Vgl. Die Vorsokratiker, übers. u. eingel. von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, S. 139 (fr. 67).
G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 134.
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 131976, S. 339.
M. Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 343.
M. Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 386.
Friedrich Nietzsche: Das griechische Musikdrama (Gesammelte Werke, MusarionAusgabe III, S. 187).
F. Nietzsche: Der Wille zur Macht, n. 723.
F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (n. 341), Werke II, hrsg. von K. Schlechta, München 1976, S. 476. Zur Situierung des Wiederkunftsgedankens im Kontext neuzeitlicher Dichtung und Mystik siehe auch die Untersuchung von Ruth Ewertowski: Das Außermoralische. Friedrich Nietzsche — Simone Weil — Heinrich von Kleist — Franz Kafka, Heidelberg 1994.
F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (n. 341), a.a.O., S. 476f.
F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (n. 268), a.a.O., S. 433.
Ilias II 39.
Ilias VIII 2.
Ebd., XXIV 694.
Th. W. Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1981, S. 35.
Th. W. Adorno: Noten zur Literatur, a.a.O., S. 34.
Ilias, XI 796ff.
XVI 247.
XVI423.
Vgl. Karl Reinhardt: Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, S. 108ff.
Friedrich Hölderlin: An Böhlendorf am 2. Dezember 1802, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, begonnen durch Norbert v. Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebass und Ludwig v. Pigenot, Berlin 2 1923, Bd. V, S. 323.
Ilias XVI 850.
XVII 201ff.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst, Darmstadt 1976, S. 295.
Zu den Wiederholungen in Genesis 1–3 siehe auch Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie der poetischen Sprache, München 1995, S. 85ff. Lobsiens Untersuchung entfaltet sich im übrigen unter der Leitfrage nach der Konstitution des Wiederholungsbewußtseins im »progressiven Lesevorgang« (S. 135).
F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, Darmstadt 1976, S. 143f. Zum Zufall in der modernen Kunst siehe Carola Hilmes/Dietrich Mathy (Hrsg.): Spielzüge des Zufalls. Zur Anatomie eines Symptoms, Bielefeld 1994.
F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O., S. 153.
Ebd., F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O.,S. 129.
Ebd., F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O.,S. 184.
Ebd., F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O.,S. 645–648.
Ebd., F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O.,S. 156.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung, 2. Band, Darmstadt 1974, S. 274.
Ebd.
Ebd., S. 270f. Eine originäre Wiederentdeckung dieser Thematik des Verflochtenseins der Wiederholung mit dem Bösen findet sich in dem Buch von Antonin Artaud: Das Theater und sein Double, Frankfurt/M. 1969.
F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, 2. Band, a.a.O., S. 271.
F.W.J. Schelling: Über die Gottheiten von Samothrake, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856–1861, 1. Abtlg., Bd.I/8, S. 353. Zum Zusammenhang von Schellings Spätwerk mit den frühen Systementwürfen im Hinblick auf die Konzeption einer anfänglichen Freiheit siehe die eindringliche Studie von Jörg Ewertowski: Die Freiheit des Anfangs und das Gesetz des Werdens. Eine Untersuchung zur intellektuellen Anschauung und Potenzenlehre F.W.J. Schellings vor dem Hintergrund der Metaphorik von Mangel und Fülle, (Phil. Diss.) Stuttgart 1997; ferner: Klaus-Jürgen Grün: ,Das Erwachen der Materie. Studie über die spinozistischen Gehalte der Naturphilosophie Schellings, (Phil. Diss.) Hildesheim 1993.
F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 1. Band. Darmstadt 1976. S. 564f.
F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, 2. Band, a.a.O., S. 89. Zu Schellings Metaphernverständnis im Kontext seiner Deutung der mythologischen Sprache siehe J. Villwock: Metapher und Bewegung, Frankfurt/M., Bern 1983, S. 60ff.
F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, 2. Band, a.a.O., S. 263f.
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Villwock, J. (1998). Wiederholung und Wende. In: Hilmes, C., Mathy, D. (eds) Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93549-6_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-93549-6_2
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