Zusammenfassung
Auf den letzten Seiten seines 1904 erschienenen Buches »Das Theater der Reichshauptstadt« diagnostizierte Siegfried Jacobsohn eine fundamentale Krise des Theaters:
Wer vermöchte die immer mehr um sich greifende Industrialisierung des Theaters zu hemmen? Da es heutzutage als Geschäft betrieben wird, ist für die Direktoren zunächst der geschäftliche Gesichtspunkt maßgebend. In diesem Betrieb pflegen die besten Geschäfte mit den geringsten geistigen und künstlerischen Anstrengungen verbunden zu sein. Aber das rächt sich grausam dann, wenn die Erwerbsquelle doch plötzlich wieder einmal ein Kunstinstitut werden soll. [...] Ob es uns vergönnt sein wird, zu einer Schaubühne zu gelangen, die als kulturelle Anstalt betrachtet werden darf, als Fest und Gericht unseres Lebens, als reife Frucht einer hohen, Samenkern einer höheren Bildung; ob wir ein solches Theater erhalten werden, das hängt wohl von vielerlei ab. Zum großen Dramatiker müßte — die heute schon am ehesten erfüllbare Bedingung — der große Schauspieler treten; zu beiden vermittelnd, verständigend, abtönend der große Regisseur und der große, in Kunst und Wirtschaft gleich starke Theaterleiter: alle aber müßten getragen sein von einem Publikum, dessen Instinkt fein genug wäre, um großer Kunst die ökonomische Basis seiner Teilnahme zu geben. Daß all das wird, das hat zur Voraussetzung nicht weniger als das Werden einer künstlerischen Kultur.1
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Literatur
Jacobsohn 1904, 139 f.
Brief vom 24.7.1905 (im Julius-Bab-Archiv der Akademie der Künste, Berlin).
»Zum Geleit«, Sb, 7.9.1905, 1.
Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Schiller 1984, Bd. 5, 818–831, hier: 824.
»Zum Geleit«, Sb, 7.9.1905, 1. Jacobsohn berichtete 1924, die Namensgebung sei einem Einfall des Notars Ernst Heinitz zu verdanken gewesen: »Als alle Paragraphen hieb- und stichfest formuliert waren, fragte der freundliche alte Herr, wie wir eigentlich Blatt und Gesellschaft nennen wollten. Verlegenes Schweigen; bis jetzt wäre Keinem von uns was eingefallen. »Ja, warum sagen Sie denn nicht einfach: Schaubühne?« Sieh, das Gute hatte wieder mal viel zu nah gelegen. Ich sprang vom Stuhl hoch und dankte begeistert.« (Siegfried Jacobsohn: Das erste Heft, Das Stachelschwein, 20.9.1924, 1–5, hier: 3; ähnlich schilderte es Siegbert Cohn in seinem »Brief an die >Weltbühne<«, Wb, 9.9.1930, II, 390–391). Angesichts des als Motto der Zeitschrift vorangestellten Zitats aus Schillers Schaubühnen-Aufsatz steht indes zu vermuten, daß es sich bei dieser Geschichte um eine nachträglich Stilisierung handelt.
Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Fassung; in: Benjamin 1980, Bd. 1, 435–469, hier: 446 f.
Herbert Ihering: Reinhardt, Jessner, Piscator oder Klassikertod? In: Ihering 1974, 305–324, hier: 305.
Ebd.
Enseling 1962,41.
Lion Feuchtwanger: Der Weg zur Politik, Wb, 9.9.1930, II, 392–393.
Friedrich Schiller: Kallias oder Über die Schönheit. Brief an Körner vom 18. Februar 1793; in: Schiller 1984, Bd. 5, 400–407, hier: 401.
»Das Lied von der Glocke«; in: Schiller 1984, Bd. 1, 429–442, hier: 440.
»Literarischer Sansculottismus«; in: Goethe 1981, Bd. 12, 329–244, hier: 241.
Sb, 12.5.1910,1, 499–500, hier: 500.
Ebd.
Vgl. »Über naive und sentimentalische Dichtung«; in: Schiller 1984, Bd. 5, 694–780, hier: 702 und 769.
Enseling 1962, 62.
Hecht 1991.
»Kritik der praktischen Vernunft«; in: Kant 1902, 87.
»Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«; in: Schiller 1984, Bd. 5, 570–669, hier: 603 f.
»Phänomenologie des Geistes«; in: Hegel 1970, Bd. 3, 355.
Brief von Walter Gropius an Ernst Hardt vom 14.4.1919; in: Isaacs 1983, 208.
»Von dem Mangel an Persönlichkeiten«, Sb, 12.3.1908,1, 269–277, hier: 277.
Vgl. dazu das kommentierte programmatische Vorwort zur Zeitschrift Charon in: Rup-precht/Bänsch 1970, 476 f.
»Zur Überwindung des Naturalismus« (1891); in: Bahr 1968, 35–102, hier: 85 ff.
Jacobsohn in einem Brief an Hofmannsthal vom 14.7.1905 (im Nachlaß Hofmannsthal des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt).
»Poesie und Leben«, Die Zeit (Wien), 16.5.1896; jetzt in: Hofmannsthal 1979, 13–19, hier: 15 ff.
Schulze 1965, 49.
Lublinski 1904 und 1909.
Sb, 7.9.1905, 15–16, hier 16.
Lublinski 1909,52.
Sb, 5.10.1905, 115–116.
Sb, 12.8.1909, II, 133–135 und Sb, 26.8.1909, II, 177–180.
Vgl. Oskar Blumenthal: Verbotene Stücke; in: Deutsche Revue, 25. Jg. (Stuttgart, Leipzig 1900), 92–108 und 204–219, hier: 98.
Vgl. dazu Brauneck 1974, 99–112. Kunstpolitisch verfolgte die Sozialdemokratie spätestens seit dem Gothaer Parteitag den Gedanken, das Proletariat habe — wie es Kurt Eisner formulierte -»nicht nur das Erbe der klassischen Philosophie, sondern auch das Erbe der klassischen Kunst zu übernehmen« (Kurt Eisner: Goethefest (1899), wiederabgedruckt in: Eisner 1905, 247–250, hier: 249). Damit war Eisner der erste, der Friedrich Engels’ vielzitierten Satz »Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie« (Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie; in: Marx/Engels 1959 ff, Bd. 21, 307) auf die klassische Literatur ausdehnte, eine Erweiterung, die erst zehn Jahre später von Clara Zetkin erneut formuliert wurde (vgl. Clara Zetkins Aufsatz »Kunst und Proletariat« (1910/11) in: Zetkin 1955, 112). Über die Art und Weise, wie das Erbe der literarischen Klassik fruchtbar gemacht werden sollte, kam es 1905 anläßlich der Feiern zum 100. Todestag Friedrich Schillers in der SPD zu einer Auseinandersetzung, die Georg Fülberth als »Kontroverse zwischen marxistischer und revisionistischer Literaturkritik« bezeichnet hat (Fülberth 1972, 74, ähnlich Mün-chow 1981, 175; vgl. auch die Kritik dieser Position von Hagen 1977, 164–179). In einer Festschrift (abgedruckt in: Jonas 1988, 109–147) betonten Friedrich Stampfer, Lily Braun, Kurt Eisner, John Schikowski, Eduard David und Hermann Molkenbuhr Schillers ästhetische Leistungen und relativierten seine Ablehnung der Französischen Revolution und seinen theoretischen Idealismus als — so Kurt Eisner — »Tribut, den er dem deutschen kleinstaatlichen Despotismus unbe-wußt zahlen mußte« (Jonas 1988, 126). Clara Zetkin und Rosa Luxemburg sahen in dieser Einschätzung in Berufung auf Franz Mehring eine »revisionistische Milieutheorie« wirksam werden und bestanden darauf, den ganzen, auch den problematischen Schiller wahrzunehmen, Schillers Bedeutung nicht falsch zu aktualisieren, sondern ihr einen historischen Stellenwert zuzuordnen (vgl. Clara Zetkin, Rede zur Schillerfeier der Mannheimer Arbeiter 1904, gedruckt u.d.T.: Friedrich Schiller; in: Gleichheit (Stuttgart), Jg. 20, Heft 3, 34–36, Heft 4, 50–52, Heft 5, 66–67) sowie Rosa Luxemburg, Sozialdemokratische Juliane; in: Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), 16.5.1905). Von den an dieser Debatte beteiligten bat Jacobsohn als einzigen John Schikowski um die Mitarbeit an der Sb. Von ihm erschien daraufhin ein Artikel mit dem Titel »Das Theatermuseum« (Sb, 2.11.1905, 251–254); die Auseinandersetzung, die unter dem Titel »Schiller-Debatte 1905« in der Forschung diskutiert wurde, fand jedoch keinerlei Niederschlag in den Beiträgen der Sb.
Das trifft auch auf zehn weitere in der Liste genannte Autoren zu: Josef Bondy (Berliner Korrespondent der Neuen Wiener Presse, Adolf Gelber (Redakteur des Neuen Wiener Tageblatts, Adolf Heilborn (Feuilleton-Redakteur der Gegenwart), Felix Hollaender (Begründer der Wochenzeitung Die Welt am Montag und Mitarbeiter Max Reinhardts), Rudolf Holzer (österr. Kulturjournalist, u.a. Mitarbeiter der in Wien erscheinenden Die Zeit), Adalbert Matkowsky (königl.-preuß. Hofschauspieler), Friedrich Perzynski (Kunstsammler und -historiker), Algot Ruhe (dän. Schriftsteller), Samuel Saenger (1900–1907 Mitarbeiter an Maximilian Hardens Die Zukunft), Sascha Simchowicz (Dramaturg). In einem Brief an Georg Altman vom 27. August 1905 (Original im Theatermuseum Köln) berichtet Jacobsohn, er habe Kurt Aram als Mitarbeiter und den Schriftsteller Eduard Graf von Keyserling als Münchener Korrespondenten gewinnen können. Auch Aram und Keyersling haben jedoch nie in der Sb oder Wb Beiträge publiziert.
Harry Graf Kessler: Die Kunst des Theaters. Vorwort in: Craig 1905, 3–6, hier: 3; nachgedruckt in: Kessler 1988, 92–95.
Ebd.
Sb, 7.9.1905, 23 f.
Vgl. die Darstellung von Denis Bablet: »Eine Theaterkunst, welche die symbolische Wirkungsmacht über die photographische Wiedergabe der Wirklichkeit stellt, ist ihm [Brahm] unverständlich. [...] Vor dem Entwurf des Szenenbilds, zu dessen Dekoration normalerweise eine Tür gehört, verwundert sich Brahm: >Es gibt keine Tür.< Darauf Craig: >Es gibt einen Eingang und einen Ausgang.< — >Natürlich<, antwortete Brahm, >aber ich sehe weder Türgriff noch Schloß. Es gibt keine Tür ohne Türgriff.< Um den Direktor des Lessing-Theaters zu überzeugen, sagte ihm Craig, er habe seine Dekoration durchweg aus einem alten italienischen Manuskript kopiert. >Es ging mir nicht darum, daß er mit Hilfe seiner Phantasie erkennen sollte, daß gar keine Tür notwendig war. Das gelang mir nur, indem ich ihm versicherte, meine Dekoration sei ja die Wiedergabe einer Realität.<« (Bablet 1965, 91 f).
Reinhardt 1989,450.
Jacobsohn 1904,26–56.
Nach Karl Theodor von Piloty (1826–1886), Maler von theatralisch-realistischen Historienbildern.
»Neues Deutsches Theater«, Sb, 26.10.1905, 207–212, hier 207.
Ebd.
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Nickel, G. (1996). Die deutsche Klassik als Leitbild. In: Die Schaubühne — Die Weltbühne. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93499-4_2
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