Zusammenfassung
In der Einleitung eines neueren städtebaulichen Buches1 liest man folgende Behauptung: ›Je mehr die lebensstarke Landbevölkerung zurücktritt gegenüber der Bevölkerung der Großstädte, die ihre Volkszahl nicht aus eigener Kraft erhalten können, um so stärker muß sich der ungünstige Bevölkerungsaufbau dieser immer zahlreicher werdenden Großstädte in der Vergreisung des gesamten Volkes auswirken.‹2 Einige Seiten später ist von der Vermassung die Rede, ›die schon in der fortschreitenden Mechanisierung des Berufslebens liegt‹ und die durch die ›üblich gewordene Übereinanderhäufung der Wohnungen‹ noch verstärkt werde3. Charakteristisch an unserem Beispiel ist die Selbstverständlichkeit, fast möchte man sagen: Gleichgültigkeit, mit der diese Sätze an den Anfang eines Buches gestellt werden, in dem später ganz nüchtern von Flächenberechnungen und Planungsproblemen aller Art die Rede ist, wobei es den Verfassern keineswegs um eine Auflösung oder romantische Wiederverländlichung der Großstadt geht. Man möchte die Autoren fragen, woher sie eigentlich so genau wissen, daß Vergroßstädterung zu Vergreisung und zu Vermassung führt. Leider verzichten sie darauf, diese Behauptung zu beweisen. Der einzige Zeuge, den sie herbeirufen, ist W. H. Riehl, der vor genau 100 Jahren seinen Bannfluch wider die Großstädte geschleudert hat4. (Mit diesem Zeugen werden wir uns noch näher befassen müssen.) Die Verfasser bedachten nicht, daß umfassende Urteile solcher Art gewöhnlich nicht deshalb von Generation zu Generation weitergegeben werden, weil sie richtig sind, sondern weil sie eine ideologische Funktion besitzen. Sie übersahen, daß diese Großstadtkritik nur ein Stück einer umfassenden Zivilisationskritik ist, die insbesondere in Deutschland die Grundierung des politischen Weltbildes pseudokonservativer Gruppen aller Art darstellt. Gerade vorwärtsstrebende Architekten und Städteplaner hätten also allen Grund, Begriffe wie ›Vermassung‹ und ›Vergreisung‹ näher zu prüfen, bevor sie sie zu Voraussetzungen ihres Denkens machen. Freilich ist eine solche Überprüfung nicht leicht, denn auch bei Sozialwissenschaftlern der Vergangenheit und Gegenwart finden wir Pauschalurteile ähnlicher Art.
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Anmerkungen
1. Im Nebel der Vorurteile
J. Göderitz, R. Rainer u. H. Hoffmann, Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. Tübingen 1957.
W. H. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes. 1. Band: Land und Leute. Stuttgart u. Tübingen 1854, S. 61 ff.
J. H. Mitgau, Verstädterung und Großstadtschicksal genealogisch gesehen. In: Arch. f. Bevölk. Wiss. und Bevölk. Politik, IX, 1941, Heft 6.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. 16.-30. Aufl., München 1922, 2. Band, II. Kap.
E. Pfeil, Großstadtforschung. Bremen-Horn 1950, S. 19.
2. Irrtümer der Biologisten
z. B. H. F. K. Günther, Die Verstädterung, ihre Gefahren für Volk und Staat vom Standpunkt der Lebensforschung und der Gesellschaftswissenschaft. Leipzig u. Berlin 1934, S. 3 ff., 10 ff., 19 ff., 25 f., 43 ff. Wie fest sich vielfach die biologistischen Vorurteile gegen die Großstadt im Bewußtsein auch derjenigen festgesetzt haben, die sonst einem biologistischen Denken und vor allem den sich aus ihm ergebenden ideologischen Konsequenzen fernstehen, erkennt man an W. Hellpach. Mensch und Volk der Großstadt. 2. Aufl. 1952, S. 14 ff., 77 ff., 83 ff. Dieses Buch ist eher eine Apologie als eine Anklage der Großstadt. Es zu schreiben — die erste Auflage erschien 1939 — war eine mutige Tat. Jedoch auch Hellpach schlägt sich verzweifelt mit den Ergebnissen einer tendenziösen Bevölkerungswissenschaft herum, die ihm unwiderlegbar erscheinen.
Vgl. ›Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte‹ (›BevölkerungsPloetz‹), II. Teil, bearbeitet von E. W. Buchholz und W. Köllmann. Würzburg 1955, S. 17, 22 ff., 60 ff.; G. Mackenroth, Bevölkerungslehre. Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953, vor allem S. 112 ff., dort auch weitere Literatur.
Einen kurzen Überblick über die in diesem Zusammenhang zitierten Untersuchungen gibt W. Hellpach, a. a. O., S. 15 ff. Ausführlicher berichtet E. Pfeil in: Großstadtforschung, a. a. O., vor allem im 1. Teil des Buches. Es ist nicht nötig, hier auf die moderne Literatur, die den Zusammenhang von Begabung und Milieueinfluß sehr viel genauer erforscht hat, einzugehen. Erwähnt sei nur der Sammelband »Begabung und Lernen«, Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission, Bd. 4, Stuttgart 1969.
3. Reduktion der Familie
Vgl. S. 30 f. Auch die soziologische Literatur vertritt allzu undifferenziert die These von der ›Reduktion zur Kleinfamilie‹, z. B. R. König in: Soziologie der Familie (enthalten in: Soziologie, Lehr-und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, hg. A. Gehlen und H. Schelsky, Düsseldorf-Köln, 3. Aufl. 1955, S. 132 ff.); R. Mayntz, Die moderne Familie. Stuttgart 1955, S. 14 ff. Richtiger schon faßt G. Wurzbacher den Sachverhalt, wenn er von ›individuell ausgewählter Verwandtschaftsbindung bei Wahrung der kleinfamiliären Selbständigkeit‹ spricht. G. Wurzbacher, Leitbilder des gegenwärtigen deutschen Familienlebens. Stuttgart, 2. Aufl. 1954, S. 227. Das undifferenzierte Bild von der modernen auf Eltern und nicht erwachsene Kinder reduzierten Kleinfamilie scheint auch weiterhin zum Lehrbuchbestand der Soziologie zu gehören. Vgl. W. J. Goode, Soziologie der Familie (dt. Ausgabe), München 1967, S. 100 ff.
Ein Bild jenes frühindustriellen Nomadentums vermittelt Marie Bernays in: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 133, S. 32 ff., 58 ff., Bd. 135, III. Teil, S. 196 ff. Vgl. dagegen für die heutige Zeit S. Groth, Großstadt u. Familie In ›Offene Welt‹ Nr. 44, 1956, S. 331 ff.
Vgl. H. Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Dortmund 1953, S. 63 ff., S. 350 ff. und an anderen Stellen des Buches.
4. Funktionsverlust der Familie
Vgl. E. Egner, Der Haushalt, Berlin 1952, wo dieser Vorgang ausführlich in den einleitenden Kapiteln erläutert wird, und O. Brunner, Das ›ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹. In: O. Brunner, Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 33 ff.
›sekundärer‹ und ›tertiärer Sektor‹ und ihrer Abwandlungen wie ›primäre Güter‹, ›tertiäre Bevölkerung‹ etc. vgl. J. Fourastié, Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Dt. Ausgabe Köln-Deutz 1954, S. 271 ff.
Vgl. vom Verf.: Haushalt und Wohnungsstruktur. In: Bauwelt, H. 37, 1957.
Die Bedeutung des ›Rowntree’schen Zyklus‹, der das typische Auf und Ab des Einkommens pro Person im Laufe eines Arbeitnehmerlebens demonstriert, für die Wohnverhältnisse und Wohnungsbaupolitik wird gut dargestellt von K. Sommer, Familiengerechte Wohnung, Einkommen und Mietaufwand. In: Sozialer Fortschritt, 1954, Heft 5. Die dort angegebenen Einzelzahlen sind natürlich veraltet, jedoch nicht das Problem und die Weise, in der es betrachtet wird.
5. Desintegration
Vgl. E. Pfeil, Fremdheit und nachbarliche Wirklichkeit in der Großstadt. In: Studium Generale, B. Jg. 1955, Heft 2. Auch W. Klages, Der Nachbarschaftsgedanke und die nachbarliche Wirklichkeit in der Großstadt, Köln-Opladen 1958, stellte in seinen Untersuchungen in Dortmund eine Fülle nachbarlicher Beziehungen und Hilfeleistungen fest, obwohl gerade er gegen den ›Nachbarschaftsgedanken‹ polemisiert. Die ›Nachbarschaft‹ als eine städtebauliche Einheit, die zugleich eine ›überschaubare Gemeinschaft‹ der Bewohner ist, hält er für eine Utopie. Vgl. auch den von E. Pfeil geschriebenen Abschnitt Nachbarkreis und Verkehrskreis in der Großstadt. In: Daseinsformen der Großstadt, bearbeitet von R. Mackensen, J. Chr. Papalekas, E. Pfeil, W. Schütte und L. Burckhardt, Tübingen 1959.
Vgl. Soziologie der Gemeinde, hg. R. König, Sonderheft 1 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1957, insbesondere die Beiträge von R. König und H. Kötter. Vgl. ferner: R. König, Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde. rde Bd. 79 (1958), S. 20, 46 ff., 82; H. Linde, Zur sozialökonomischen Struktur und soziologischen Situation des deutschen Dorfes. In: Das Dorf und die Aufgaben des ländlichen Zusammenlebens, Hg. W. Abel, Hannover 1954. Vgl. auch E. W. Buchholz: Ländliche Bevölkerung an der Schwelle des Industriezeitalters, der Raum Braunschweig als Beispiel, Stuttgart 1966.
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Bahrdt, H.P., Herlyn, U. (1998). Kritik der Großstadtkritik. In: Herlyn, U. (eds) Die moderne Großstadt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93320-1_4
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