Zusammenfassung
Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte jede Menge Optimismus im Gepäck, als er im Sommer letzten Jahres die neuen Bundesländer bereiste. Er ermutigte, sagte Hilfe zu, beschwor die Chancen zum Aufholen und Überholen. Mit dem rot-grünen Reformpaket im Rücken und einer in den Folgestrudeln des Parteispendenskandals weitgehend paralysierten CDU-Opposition demonstrierte er Stärke und Selbstsicherheit. Der „Kanzler der Effekte“ schickte sich auf seine Weise an, die verhängnisvollen Fehler seines Amtsvorgängers Helmut Kohl zu wiederholen. Kohl, zu Anfang der neunziger Jahre noch den Mantel der Geschichte um die Schultern, meinte in einer Mischung aus Paternalismus und Größenwahn, den unbedarften Ostlern die bittere Wahrheit über den notwendig langen und streckenweise notwendig unbequemen Vereinigungsweg ersparen zu können. Seine Phantasien von den blühenden Landschaften und sein Versprechen, die Arbeitslosenrate binnen kürzerer Zeit halbieren zu können, flogen ihm ab Mitte der neunziger Jahre um die Ohren und kosteten die CDU die Regierungsmehrheit. Trat Rot-Grün noch mit dem Versprechen einer anderen Politik an und erklärte Schröder das Aufbauwerk Ost zur Chefsache, verließ die neuen Koalitionäre spätestens nach dem unrühmlichen Abgang Oskar Lafontaines jeder Realismus. Jetzt erklärten sie die endgültige Trendwende auf dem Arbeitsmarkt, priesen eine Steuer- und Rentenreform, die nur Gewinner kennen sollte, rechneten sozialen Abstieg und Altersarmut aus der Realität heraus. Bei diesen nicht nur kosmetischen Korrekturen und Realitätsverlusten standen die Grünen ihrem großen Koalitionspartner nicht im Geringsten nach. Während ihnen mit und trotz der Regierungsbeteiligung im Osten die letzte Unterstützung wegbrach, während sie dabei waren, im permanenten Anpassungs- und Normalisierungsdruck ihre Originalität und kritische Potenz gegenüber den Altparteien vollends aufzugeben, unterstützten sie Schröders autoritären Regierungsstil und ließen die Freien Demokraten immer hoffnungsvoller aus ihrer Ecke der drohenden Bedeutungslosigkeit zurückkommen. Für die weitere Gestaltung des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses als wichtigste und schwierigste Aufgabe der deutschen Politik — für die Überwindung der wirtschaftlichen Stagnationstendenzen in den neuen Bundesländern, für den Kampf gegen zunehmende Politikverdrossenheit und -verachtung immer größerer Teile der Bevölkerung, gegen grassierende Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass — musste das fatale Folgen haben.
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© 2002 Leske + Budrich, Opladen
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Templin, W. (2002). Ein Staat — zwei Gesellschaften?. In: Süß, W. (eds) Deutschland in den neunziger Jahren. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93248-8_12
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-93248-8_12
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-8100-3226-3
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