Zusammenfassung
Wieso der deutsche vorkantische Naturrechtsdiskurs bisher kaum von der akademisch betriebenen politischen Ideengeschichte beachtet worden ist,1 scheint auf den ersten Blick klar zu sein: So sind die Texte trotz der im Gefolge Pufendorfs aufbrechenden kritischen Frontstellung zur etablierten neuscholastischen Gelehrsamkeit unter methodischen Gesichtspunkten nur schwer zugänglich. Zusätzlich wird die Rezeption durch die sprachlichen Untiefen des noch wenig entwickelten Deutsch des Barock oder aber des spröden frühneuzeitlichen Gelehrtenlateins erschwert. Daß die Naturrechtsdiskussion zwischen Leibniz und Kant sich nicht in Mediokritäten erschöpft, zeigt jedoch schon das in den letzten Jahren sprunghaft angestiegene Interesse von philosophischer, juristischer, historischer und germanistischer Seite an Christian Thomasius (1655–1728) und Christian Wolff (1679–1754) sowie ihren Schulen.2 In bezug auf Thomasius stellt sich aber vor allem die konkrete Frage, wie denn das ihm zugeschriebene apolitische, den status quo affirmie-rende Denken mit einer höchst politischen Praxis zusammenstimmen könne (vgl. Wolff 1951: 406; Brückner 1977: 193f.).
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Literatur
Die Ausnahme stellt die allerdings geisteswissenschaftlich orientierte Schule Hans Maiers mit den Arbeiten von Brückner (1977) und Denzer (1972) dar.
Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen sei hingewiesen auf die von Schneiders (1986, 1989) und Vollhardt (1997) herausgegebenen Aufsatzsammlungen. Zuletzt sind in der Wolff-Edition die Ergebnisse eines Heilbronner Symposiums publiziert worden (Backhaus 1998).
Der vorliegende Aufsatz basiert in wesentlichen Teilen auf der Dissertation des Verfassers über „Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine systematische Betrachtung“, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001 [voraussichtl.] (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung: Abt. 2, Monographien; Bd. 16).
Kelsen (1934: 117), versteht die im Recht fixierte Gesellschaftsordnung als einen „Zwangsapparat, dem an und für sich kein politischer oder ethischer Wert zukommt, […] dessen Wert vielmehr von dem dem Recht — als einem Mittel — transzendenten Zweck abhängt.“
Charakteristisch für den protestantischen Aristotelismus des 17. Jahrhunderts ist die Rezeption und spezifische Transformation fremder Strömungen wie die von Machiavelli und Botero ausgehende Staatsräsonliteratur, die Bodinsche Souveränitätstheorie und der Neustoizismus Justus Lipsius’. Dazu für Henning Arnisaeus vgl. Dreitzel (1970: 129ff).
Dahlmann (1997); Ritter (1988: 107f.) weist zu Recht darauf hin, daß Dahlmanns Politik aufgrund ihrer durchgängigen Historisierung nicht mehr in einem systematischen Verhältnis zur aristotelischen Politik als praktischer Philosophie steht. Dennoch verweigert sie sich dem modernen Begriff des souveränen Staates, für den die Trennung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre konstitutiv ist, wie Riedel (1975) zeigt.
Neben Pufendorf sind die Hauptvertreter der säkularen Naturrechtslehre im Alten Reich Christian Thomasius und Christian Wolff.
Daher kann man auch nicht von „dem politischen Aristotelismus in der deutschen politischen Philosophie der Prämoderne“sprechen, ohne das Naturrecht zu berücksichtigen. So aber Nitschke (1995).
Die große Ausnahme stellt die ihrem Anspruch nach konsequent wissenschaftlich (im Sinne von theoretisch) demonstrierte praktische Philosophie Christian Wolffs (lateinische Reihe) dar. Dazu Kap. 3.2. und 3.3.1. der in Kürze erscheinenden Arbeit des Verfassers.
Kant (1983: 229) versteht die richtige Politik als ausübende Rechtslehre.
Hegel (1995). — „Im Doppeltitel ‘Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriß’ kommt beides zur Sprache: die Anknüpfung an die klassische, letztlich Aristotelische Form der ‘Staatswissenschaft’ und die Aufnahme des revolutionären Naturrechtsprinzips der Neuzeit.“(Bien 1985: 46). Zu Rotteck (1830). Nach Rotteck ist das allgemeine oder vernünftige Staatsrecht ein integraler Bestandteil der theoretischen oder rein philosophischen Staatslehre. Dieser ist der Praxis untergeordnet: „Die praktische Staatslehre oder die Politik im engeren Sinne darf nur in der von dem Staatsrecht gezeichneten Form und Sphäre wirksam seyn […].“(Rotteck 1830: 2). 12 Thomasius (1730). Im Text sind wörtliche Zitate aus den lateinischen Hauptwerken des Thomasius (1730 und 1718) auf deutsch wiedergegeben. Soweit es vertretbar schien, wurde dabei auf die deutschen Übersetzungen (1709a; 1709b) zurückgegriffen, andernfalls neu übersetzt.
Vgl. dazu den Kommentar Biens (1990: XXX), zur Politik des Aristoteles (I, 2): „Darum besteht nun auch jedes staatliche Gemeinwesen von Natur, weil dies für die ersten Gemeinschaften gilt, deren Summe und Zusammenfassung der Staat ist. So wie jene beruht auch er nicht auf bloßer Willkür und Beliebigkeit, sondern auf natürlicher Notwendigkeit und natürlichem Trieb.“
Thomasius (1730: III, VI, § 12): „Statuimus igitur […], METUM MALORUM, QUAE HOMINI AB hominem IMMINENT, esse causam principalem, quae homines ad societatem civilem impulit, indigentiam vero bonorum ad vitam sustentandam necessariorum esse causam secundariam.“(Hervorheb. im Original.)
Immer noch die bedeutendste Studie: Ritter (1956).
Diese an Aristoteles anschließende Unterscheidung von Regierung und Herrschaft wurde durch Sternberger wieder in die Diskussion gebracht. (Vgl. dazu und zum folgenden die Nachweise bei Meier 1978: 2). Aristoteles setzt die politische Herrschaft (πoλιτιχη αρχη) im Sinne der Verwaltung des gemeinsamen Bürgerlichen mit der Möglichkeit der Partizipation aller Bürger von der partikularen despotischen (δεσπoτεια) ab.
„Doctrinae quidem verae esse possunt; sed authoritas, non Veritas facit legem!“„[…] legislatoris, id est imperantis, voluntas cognita instar legis sit“. — Hobbes (1841: Cap. 26, 202 u. 219); vgl. Höffe (1996: 239–245).
Thomasius (1730: I, I, § 28): „Lex est iussum imperantis, obligans subjectos, ut secundum istum jussum actiones suas instituant.“
Thomasius 1730: I, III, § 35. Vgl. I, II, § 87. Vgl. den soziologischen Herrschaftsbegriff Webers (1985: 28): „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“
Thomasius, 1730: I, I, §§ 93, 104, 110f., 132; daher folgt in den Fundamenta: „Lex naturalis & divina magis ad consilia pertinet quam ad imperia.“Thomasius (1718: I, V, § 34; vgl. ebd., § 23).
Thomasius 1730: I, IV, § 64: „Fac ea, quae necessario conveniunt cum vita hominis sociali, et, quae eidem re pugnant [sic!], omitte.“
„[…] so kann doch die Ehrfurcht/ die man vor diesem [dem natürlichen Gesetz] hat/ den Menschen nicht verschaffen/ daß sie bey ihrer natürlichen Freyheit in gnugsamer Sicherheit leben können/ weil es darinnen eine grosse Menge Leute giebt/ die sich an kein Recht kehren […].“Thomasius (1709a: III, VI, § 24; vgl. ebd. § 25f.).
Thomasius 1730: I, IV, §§ 55f. Diese Ambivalenz kündigt sich bereits bei Pufendorf an. Vgl. Denzer (1972: 164); Behme 1996.
Gott außen seinen rechtsetzenden Willen zum einen direkt durch das unmittelbar erkennbare göttliche positive Gesetz (durch Offenbarung), darüber hinaus indirekt durch die Verfassung der gottgeschaffenen menschlichen Natur, aus der die natürlichen Gesetze, der eigentliche Gegenstand der Naturrechtswissenschaft, deduziert werden. Vgl. Thomasius (1730: I, I, §§ 1ff., 31; I, II, §§ 71f.,98f., 117, 137; I, IV, § 80).
Thomasius (1730: III, VI, §§ 29–31). Vgl. §§ 32ff. die Staatsformenlehre nach den klassischen Formen unter Rezeption der Bodinschen Souveränitätstheorie.
Vgl. Thomasius (1730: III, VI, § 23). — In der dritten Bedeutung des — wenig glücklich vierfach differenzierten — Naturzustandes nach Thomasius (1730,1, II, §§ 47–62) bezeichnet der Begriff die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen (§§ 53, 56). Nach III, II, § 29 werden die Pasziszenten als diejenigen bestimmt, die „bisher in der natürlichen Freiheit gestanden haben“. Grundsätzlich alle Individuen werden also untereinander Mitbürger (convives).
Thomasius (1730: HI, VI, § 63): „[…] persona moralis composita, cujus voluntas ex plurium pactis implicita & unita, pro voluntate omnium habetur, ut singulorum viribus & facultati-bus ad pacem & securitatem communem uti possit.“Vgl. Pufendorf (1994: II, 6, § 10).
Die Ablehnung der Gottesunmittelbarkeit der Herrschaft führte zu einer brisanten Kontroverse mit dem dänischen Hofprediger Hector Gottfried Masius. Im Verlauf dieser und anderer Auseinandersetzungen verlor Thomasius die Gnade des sächsischen Kurfürsten. Er verließ daraufhin 1690 Sachsen und fand im brandenburgischen Halle als Professor und Gründungsmitglied der Universität eine neue Wirkungsstätte (vgl. Grunert 1997).
(Thomasius 1730: 1, I, § 78): „Homo imperium vel immediate ex concessione divina nan-ciscitur, vel intercedente consensu alterius hominis.“
Thomasius (1709a), Vorrede, § 38. Vgl. dens. (1730), I, I, § 135f.; (1718), I, IV, § 99; I, V, § 27: „Cadit & alia doctrina, jus omne ultimo esse ex pacto.“(Mit Verweis auf Hobbes.)
Vgl. Thomasius (1730), I, I, § 78: „Ille [sc. Deus] imperium exercet jure creationis citra consensum hominis.“
Vgl. Thomasius (1730) I, I, § 31: „[…] deus non agat secundum legem […] lex aeterna sit figmentum scholasticorum.“
Ein naturrechtlicher Kontraktualismus im strengen Sinne stellt immer eine aporetische Konstruktion dar, insofern die konventionalistische Vertragstheorie selbst auf naturgesetzliche Konstanten zurückgeführt werden soll. Mit dem Regreß auf Gott als letzte entfernte Ursache im Rahmen eines theonomen Voluntarismus bleibt dieses Problem in den Institutiones allerdings verdeckt.
Vgl. Pufendorf (1985): Pufendorf hatte in seinem „Monzambano“in großem Stil die Normativität seiner naturrechtlichen Absolutismuskonzeption in die Rechtsgeschichte reprojiziert, indem er das Reich der Karolinger als monarchischen Einheitsstaat konzipiert hatte, von dem ausgehend er die weitere Reichsverfassungsgeschichte als Degenerationsprozeß erscheinen ließ.
Vgl. Kap. 2.2.3. meiner angekündigten Arbeit (Anm. 3).
Vgl. den Schluß der scharfen Zurechtweisung derjenigen, die den Stand des perfekten Menschen zum Naturrechtsprinzip erheben wollen: „Ich halte auch [dafür,] derjenige werde schlechte Gnade verdienen/ der einen Fürsten/ welcher ihn wegen gemeinen Nutzens der Republic umb Rath fragte/ in Mori Schlauraffenland [die Utopie des Thomas Morus] weisen wollte.“Thomasius (1709a), I, IV, § 45.
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Lutterbeck, KG. (2000). Das Politische in der Moralphilosophie des Christian Thomasius. Zur Geschichte politischer Theoriebildung im Alten Reich. In: Lietzmann, H.J., Nitschke, P. (eds) Klassische Politik. Klassische Politik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93221-1_7
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