Zusammenfassung
Bisher besitzen wir nur eine mangelhaft entwickelte Soziologie der heutigen Kindheit in Großbritannien, (d.h. eine Soziologie der sozialen Stellung von Säuglingen, Kleinkindern und 3- bis 11jährigen und ihrer Beziehungen zu Erwachsenen und anderen Kindern). Faktisch ist diese Situation direkt vergleichbar mit der Lage der Soziologie der Frau und der Geschlechterbeziehungen vor 1970 (Mathieu 1977).1 Wie das Geschlecht und die Klassenzugehörigkeit ist das Alter eine der drei grundlegenden Variablen, mit denen ständig in der empirischen Forschung, in der Soziologie und der Sozialpsychologie gearbeitet wird. Aber diese drei Variablen sind weder in gleicher Weise exakt soziologisch definiert, noch sind die mit ihnen zusammenhängenden Problemstellungen vergleichbar systematisch erfaßt. Eine Variable — die Klassenzugehörigkeit — hat eine lange Geschichte und wird nun in allen sozialwissenschaftlichen Erhebungen eindeutig als soziale Kategorie gefaßt; demgegenüber werden zwar Informationen zu Geschlecht und Alter gesammelt, aber diese Variablen sind nicht soziologisch definiert. Sie werden als weitgehend außergesellschaftlich durch physiologische Unterschiede bestimmt angesehen (genauso wie dies mit der sozialen Kategorie “Klassenzugehörigkeit” im 19. Jahrhundert der Fall war). Das heißt, Altersbeziehungen werden weiterhin als eine Anzahl von Zusammenhängen behandelt, die sich auf natürliche Unterscheidungsmerkmale gründen; sie gelten nicht als wechselseitig aufeinander bezogene, gegensätzliche und sozial bestimmte und begründete Kategorien.
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Anmerkungen
Zwei Textsammlungen von Hoyles (1979) und Jenks (1982) könnten den Beginn einer Soziologie der Kindheit ankündigen. Sie sind eher dem etwas bunten Durcheinander der Textsammlungen über “Frauen” in den frühen 70er Jahren ähnlich: etwas Geschichte und etwas interkultureller Vergleich, um zu zeigen, daß Kindheit gesellschaftlich gestaltet wird. Dazu etwas experimentelle Forschung und alles, was Marx/Durkheim/Weber zu diesem Thema zu sagen haben.
Diese beinhalten:
- eine Studie der University of Durham über alle (1.000) Säuglinge, die im Mai und Juni 1947 in Newcastle upon Tyne geboren wurden. Vgl. Miller u.a. (1960) und Miller u.a. (1974);
- das British National Survey of Health and Development über mehr als 5.000 Kinder, die in der ersten Märzwoche 1946 geboren wurden. Vgl. Douglas/Bloomfield 1958; Douglas 1964; Douglas u.a. 1968;
- die National-Child-Development-Studie, die die in derselben Woche Geborenen 12 Jahre später als die Douglas-Studie untersuchte (1958). Mütter wurden nach der Geburt befragt und die Kinder mit 7,11,16 und 23 Jahren besucht. Siehe Davis u.a. (1972); Ferri (1976); Fogelman (1983).
Siehe Newson/Newson 1963,1968 1976; Newson/Newson/Barnes 1977.
Vergleiche die sozio-kognitive Entwicklung der Kinder: ihr räumliches Wahrnehmungsvermögen, ihre Vorurteile, ihr Vermögen, sich um andere zu kümmern, zu teilen, zu helfen, Probleme zu lösen, Selbsteinschätzung, religiöse und politische Einstellungen und entsprechendes Wissen. Auch kindliche Psychopathologie: eingeschlossen Depression, Angst, Eifersucht, Aggression, Drogenmißbrauch usw.; Erfahrungen, wie Kinder eine Trennung, den Verlust bzw. Tod verarbeiten; wie Kinder mit Streß umgehen, Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen, Kinderunfälle und Kinderkrankheiten. Sozio-psychologische Arbeiten, die besondere Aspekte des heutigen Großbritanniens reflektieren, schließen ein
- Arbeiten über die Belastung von Kindern durch den Krieg in Nordirland (Harbison/Harbison 1980; Jennings/Durran 1986; Cairns 1987);
- die Auswirkungen von Überbeanspruchung und Ausbeutung von Kindern im Leistungssport (Gleeson 1986) und
- die Identität von gemischtrassigen Kindern, die Einstellungen der Kinder zur ethnischen Herkunft (Milner 1983), Zweisprachigkeit und die Erfahrung einer multikulturellen Kindheit (Bagley/Verma 1983).
Derzeit ist weniger die Rede von Immigrantenkindern, womit der Tatsache Rechnung getragen wird, daß z.B. Kinder karibischer Abstammung zu 95% in Großbritannien geboren sind.
Siehe Kritiken in Rapoport/Rapoport/Strelitz (1977) und Richards (1982).
Der Einführungstext von Shipman für Studenten definiert tatsächlich eine soziologische Perspektive von Kindheit als “Sozialisation und Sozialisationsinstanzen”. Dies ist ein Grundthema seines Buches.
Das heißt, Anleitungen zum Schreiben von Kinderliteratur, Biografien von Kinderschriftstellern, wie man nicht-sexistische/nicht-rassistische/nicht-gewalttätige Bücher auswählt; Analysen verschiedener Genres: Schulgeschichten, Märchen, Comics, science fiction, Fibeln usw. mittels Inhaltsanalyse, kultur-soziologischen Studien, Psychoanalyse oder Semiotik.
Steedman (1982) bezieht sich auf drei 8jährige Arbeitermädchen, die eine Geschichte schreiben, und sie entwickelt und verortet, wie sie mit der Realität umgehen und wie sie sich ihre gegenwärtige und zukünftige Wohnung vorstellen. Dies ist besonders interessant.
Siehe Howe (1977), der über den Forschungsstand berichtet. Auch Noble 1975; Dunn 1977; Cullingord 1984; Barlow/Hill 1985; Hodge/Tripp 1986. Das Fernsehprogramm “BFI Summer School” 1987 war überschrieben mit “In Front of the Children”.
Studien über Kinder, Kino und Rundfunk, die in den 30er und 40er Jahren populär waren, sind seit den 50er Jahren selten.
Erziehungssoziologische Forschung ist sehr stark auf den Sekundarschulbereich (11- bis 18jährige) ausgerichtet. Einen Überblick über den Forschungsstand über Säuglingspflege und Primärerziehung kann Mayall/Pertie (1983); New/David (1985) entnommen werden.
Anderson (1980) gibt einen interessanten Überblick über die Literatur, indem er demografische Ansätze, haushaltsökonomische Ansätze und Einstellungsbefragungen gegenüberstellt. Siehe auch Pinchbeck/Hewitt (1969); Digby/Scarby (1981); Chester u.a. (1981); Fitz (1981); Walvin (1982); Jackson (1982); Burnett (1982); Pollock (1983,1987); Davidoff/Hall (1987).
Siehe Humphries (1981); Dyhouse (1981); Seabrook (1982); Jackson (1985); Perks (1987). Thompson (1981) beschreibt die Kindheit von neun Personen, die er aus über 500 Interviews mit vor 1906 Geborenen ausgewählt hat.
Siehe besonders die Serie “Growing up in…” aus Batsford: Clarke (1977, 1980); Ferguson (1977); Fyson (1977); Wilkins (1979).
“Feminist Review” 28, 1988 und Campbell (1988) beschäftigen sich mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern in Großbritannien.
Frühere Gemeindestudien wurden von Josephine Klein in “Samples from English Culture” (1965) benutzt, um eine kultur-anthropologische Untersuchung über die Entwicklung von subkulturellen Unterschieden von Persönlichkeitstypen vorzulegen.
Delphy gibt an, (1984: 25f), sie benutze die Variable “Klasse”, um auf die Unterschiede von Frauen und Männern (und auf andere Dichtomien einschließlich Erwachsener/Kind, Weißer/Nicht-Weißer) abzuheben, weil
- den Analyseerfordernissen Genüge getan werden könne, Forschungsgegenstand (die Unterdrückung der Frauen); Erwachsener/Kind-Beziehungen) in einzelne Dimensionen zu unterteilen, die nicht von vornherein gegeben sind. Der Gegenstand kann so mit anderen Phänomenen derselben Art verglichen werden;
- es ist ihres Wissens der einzige Ansatz, der den strikten Anforderungen einer gesellschaftlichen Erklärung genügt. Er betont, daß die “Gruppen” Männer und Frauen anfangs nicht einfach existierten, in Beziehung zueinander traten und dann die Beziehung in Herrschaft umschlug. Eher kehrt der Klassenansatz diese Ordnung um. Es ist die Beziehung, die sie als Gruppen konstituiert. Keine der “Gruppen” kann getrennt von der anderen betrachtet werden, weil sie durch eine Beziehung der Über- und Unterordnung verbunden sind, noch können sie unabhängig von dieser Beziehung einfach zusammen betrachtet werden.
Ein sehr hoher Anteil erfolgreicher Frauen war vor einer Generation ein “Einzelkind”: d.h., sie hatten keine Geschwister — besonders keine Brüder — mit denen sie die Zeit der Eltern, deren Aufmerksamkeit und Ressourcen teilen mußten. Siehe Fogarty/Rapoport/Rapoport (1971).
Tatsächlich wurde die Kinderversorgung untersucht und der beklagenswerte Zustand einer nicht-mütterlichen Versorgung, siehe McKee/O’Brien (1982); New/David (1985).
MacLennan (1982) entdeckte einen Anteil von über 1/4 der Kinder zwischen 11 und 16 Jahren an Londoner Schulen, die “irgendeine Art von Teilzeitarbeit” hatten, d.h. daß sie im Familiengeschäft arbeiteten (es handelte sich um 87 aus einem Sample von 941). Während diejenigen, die im Familiengeschäft arbeiteten, nicht immer schlecht bezahlt wurden, arbeiteten 7 der 35, die in dieser Auswahl 50 Pence oder weniger als Lohn pro Stunde bekamen, bei Eltern oder Verwandten. Andere bekamen gar kein Geld. Den geringsten Verdienst und die längste Arbeitszeit von Kindern gab es in Familienläden. Zum Beispiel arbeitete ein 13jähriger Junge 47 Stunden pro Woche für 11 Pence im Lebensmittelgeschäft der Eltern. Ein Mädchen bekam 26 Pence die Stunde für eine 16-Stunden-Woche in einem Laden.
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Leonard, D. (1990). Entwicklungstendenzen der Soziologie der Kindheit in Großbritannien. In: Büchner, P., Krüger, HH., Chisholm, L. (eds) Kindheit und Jugend im interkulturellen Vergleich. Studien zur Jugendforschung, vol 6. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-92642-5_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-92642-5_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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