Zusammenfassung
In der DDR bildeten sich im Verlauf ihrer 40jährigen Geschichte, bedingt durch das politisch-ideologische System sowie die daraus resultierende weitreichende ökonomische, politische und kulturelle Abschottung gegenüber dem Westen, in vielen Lebensbereichen ganz eigene kulturelle Muster, Traditionen und soziale Vergemeinschaftungsformen heraus, die sich teilweise grundlegend von denen in der Bundesrepublik unterschieden — ja, aus der Perspektive eines Westdeutschen bisweilen eigentümlich fremd und anachronistisch anmuten. Wie das vorangegangene Kapitel über die Aufwachsbedingungen in der DDR belegte, waren insbesondere auch die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen entscheidend durch diese sozialistischen Traditionen und ihre Institutionen geprägt, so daß sich auch biographische Handlungs- und Orientierungsmuster wohl nur vor dem Hintergrund dieser normativen und verregelten kulturellen Traditionen verstehen lassen. Die pädagogische und soziologische Jugendforschung hat indes bisher nur unzureichend diese sozialen und kulturellen Eigenarten des SED-Staates untersucht oder ihre Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Jugendlichen zum Forschungsgegenstand gemacht (vgl. Kapitel 4).
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Ungeachtet einer notwendigen aber noch ausstehenden Untersuchung subjektiver und alltagspraktischer Verarbeitungsmuster weisen vorliegende quantitative Daten daraufhin, daß die politische FDJ-Programmatik durchaus unter großen Teilen der DDR-Jugend auf Zustimmung rechnen konnte — und dies bis in das Jahr 1989. Trotz einer Abnahme der Identifikation im Verlauf der 80er Jahre konnten sich noch 1989 mit den “politischen Zielen der FDJ” “vollkommen” oder “mit Einschränkungen” identifizieren: 56% der Lehrlinge; 68% der Arbeiter; 77% der Studenten; 88% der Intelligenz. Ein Jahr zuvor lagen diese Zahlen noch rundweg zwischen 75 und 90% (vgl. Melzer 1992, 104).
Lediglich die Studenten waren ab Dezember 1989 erstmals stärker an den Demonstrationen beteiligt, allerdings mit einer anderen politischen Zielrichtung als die meisten anderen Demonstranten: Sie waren für den Erhalt der DDR und wandten sich gegen die zunehmenden Vereinigungsrufe (vgl. Lindner 1992, 231; Roski, Förster 1990, 176).
Meuschel sieht — in Anlehnung an Schluchter — darüberhinaus “eine charismatische Verklärung der Vernunft” als ein charakteristisches Kennzeichen der Herrschaftsstrukturen von Gesellschaften “sowjetischen Typs” (vgl. Meuschel 1992, 25).
Semiotische Theorien unterscheiden zwischen Bezeichnendem (Signifikant) und Bezeichnetem (Signifikat). Beides zusammen bildet ein Zeichen (vgl. Barthes 1983, Eco 1977).
Dazu ein Zitat aus der Entstehungsphase dieses Mythos (1952), das zugleich die Zeitlosigkeit der Symbolik dokumentiert: “Blut flöß über das Gesicht des Jungen. Die Tropfen fielen auf seine Hände, die das Halstuch umklammerten. Und Wanja wußte, daß keine Macht ihm die Hände von dem heiligen (sic!) Stückchen Tuch reißen könnte. Mochten sie ihn töten! Aber er würde das Halstuch nicht hergeben.” (Handbuch des Pionierleiters 1952, 52)
Im Handbuch des Pionierleiters von 1952 heißt es dazu in einem Zitat unter Bezug auf russische Jungpioniere der 20er Jahre: “Das rote Halstuch auf eurer Brust ist mit dem Blut Hunderter und Tausender Kämpfer durchtränkt. Tausende von Kämpfern wurden von den Gutsbesitzern und Kapitalisten erhängt und niedergeschossen, Tausende von Kämpfern schmachteten in den zaristischen Gefängnissen … So tragt denn dieses rote Tuch in Ehren, haltet das rote Banner des Kommunismus fest in euren Händen!” (1952, 50)
Nach Angaben des Handbuchs der Freundschaftspionierleiter eines der beliebtesten Lieder der Pioniere (ebd., 63).
Dieses Zitat von Bolz ist zugleich ein schönes Beispiel für die Identität mancher erziehungswissenschaftlicher Position mit den Politbürobeschlüssen der SED. Dazu ein Poütbürobeschluß von 1973 zur sozialistischen Erziehung in der Pionierorganisation “Ernst Thälmann”: “Das Vorbild Ernst Thälmanns und aller Kommunisten — ihre Liebe zur Heimat und ihr proletarischer Internationalismus, ihre tiefe Freundschaft zur Sowjetunion und ihre Treue zur Sache der Arbeiterklasse, ihr Haß gegen den Imperialismus, ihr Verantwortungsbewußtsein, ihre Opferbereitschaft und Siegeszuversicht, ihr Mut und ihre Standhaftigkeit gegenüber dem Klassenfeind, ihr Streben nach hohem Wissen und hervorragende Leistungen im Beruf, ihre Ehrlichkeit, Disziplin, Bereitschaft und Kameradschaftlichkeit — waren und sind unverzichtbare wirksame Faktoren fur die Erziehung der Mädchen und Jungen im Geiste der Ideologie der Arbeiterklasse.” (zit.n. Elsen 1975, 9) Die Herkunft ist zudem offenbar so selbstverständlich, daß sie im ‘wissenschaftlichen’ Text gar nicht erst kenntlich gemacht werden muß.
etwa unter den Themenvorschlägen: “Ernst Thälmanns Kindheit und Jugendjahre”, “Ernst Thälmann — ein unerschrockener Kämpfer für die Sache der Arbeiterklasse”, “Ernst Thälmann — ein treuer Freund der Sowjetunion”, “Ernst Thälmann — ein Vorbild im Lernen und in der Arbeit”, Ernst Thälmann — ein Freund der Kinder”, “Thälmanns Mut und Sündhaftigkeit in den Jahren der Kerkerzeit”, “Mit welchen Taten erfüllen wir sein Vermächtnis?” (Pionierpalast, 20)
“Das ist der Kern dessen, was als ‘preußischer Sozialismus’ oder auch als Sozialismus der Front’ durch die Schriften der soldatischen Männer geistert. Das Militär ist ihnen die vollkommenste Form des Sozialismus, weil es jedem den gerechten Platz in der Hierarchie zuweist.” (Theweleit 1980, 175, vgl. auch Fußnote 44)
“Appelle sollen unter Einhaltung strengster Pionierdisziplin stattfinden und gut vorbereitet sein.” (Pionierkartei, BI2)
Der Kunsthistoriker Aby Warburg verwendete den Begriff “Pathosformel” im Rahmen seiner ikonologischen Arbeiten zur Renaissance-und Barock-Kunst. Deren Rückbezug auf das Pathos der Antike sah er dabei als überaus ambivalent an. Zum einen galt er ihm als Beleg für die beinahe archetypische Ausdruckskraft der antiken Mythen und ihrer Formensprache. Andererseits identifizierte er in diesem Rückbezug — etwa in Werken des italienischen Barock — aber auch die latente Gefahr einer Inflation superlativer Ausdrucksgebärden, die das tragische Pathos des antiken Mythos auf das bloße Maß schmückender Klischees und Floskeln reduziert (vgl. dazu überblicksartig: Kaemmerling (Hrsg.) 1979, Gombrich 1984).
Verblüffend und wie zur Bestätigung der vielfältigen semantischen Paradoxien (“fortschrittliche Tradition”; Vorwärts-Kampfruf aus den 50er Jahren usw.) in der Programmatik der staatlichen DDR-Jugendkultur ist hier, daß ausgerechnet in jenem Bereich, in dem die Kampf-Metapher in ihrem ursprünglichen Wortsinn Geltung erhält, nämlich der wehrsportlichen und paramilitärischen Erziehung der Kinder, gerade dieser Tatbestand kaschiert wird durch einen Euphemismus: Wehrsportliche und paramilitärische Erziehung läuft nämlich in der Pionierorganisation weitgehend unter dem Signum “Touristik”: Innerhalb der Organisationen gibt es dazu bspw. eine “Kommission Touristik” sowie die Auszeichnung mit einem “Touristikabzeichen” als “junger Tourist” (vgl. Pionierpalast 1981, 147 u. 184). Zu den Gelände-und Kampfspielen heißt es etwa: “Geländespiele sind sehr beliebt und bieten vielfältige Möglichkeiten zur Unterstützung der sozialistischen Wehrerziehung. Solche Spiele folgen oft einer Spielidee, z.B. Episoden aus dem Kampf der internationalen und deutschen Arbeiterbewegung, der Sowjetarmee gegen den deutschen Faschismus, der Interbrigaden in Spanien, (…) zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR sowie aus dem Leben der NVA.” (FPL Handbuch 1985, 272) “Erwachsene Helfer” der Kommission Touristik waren u.a.: die “GST, (..) Lehrer für sozialistische Wehrerziehung, Angehörige der bewaffneten Organe, z.B. Kampfgruppe des Patenbetriebs, Soldaten der NVA oder Angehörige der Volkspolizei u.a.” (Pionierpalast 1981, 184)
neben anderen wie bspw. dem Stab der “Jungen Agitatoren” für die politische Agitation
“Wir erforschen die Geschichte und die Perspektive unseres sozialistischen Aufbaus, weil uns das hilft, den Inhalt unseres Lebens zu begreifen: als junger Revolutionär von heute aktiv am Kampf für die Vollendung des Sozialismus teilzunehmen. Wir wollen danach streben, ebenso mutig, treu, diszipliniert, aufopferungsvoll und verantwortungsbewußt zu leben und zu handeln wie unsere revolutionären Vorbilder, die Kämpfer der Vergangenheit und Gegenwart.” (Pionierkartei, BI 18)
“Wichtig ist, daß sie (die Symbolikecke) sauber und ordentlich gestaltet ist und die Symbole zweckmäßig (sic!) angeordnet werden. Eine Wandfläche könnte mit blauem Fahnentuch oder mit Velourpapier ausgeschlagen werden. Darauf könnten die Bilder von Ernst Thälmann und dem Vorbild, dessen Namen die Freundschaft trägt, angebracht werden. Die Freundschaftsfahne steht im Mittelpunkt der Symbolikecke und wird so angebracht, daß der Name der Pionierfreundschaft deutlich zu erkennen ist. Die Wimpel der Gruppen könnten links und rechts oder auch nur an einer Seite der Freundschaftsfahne ihren Platz finden. Ein mit Fahnentuch belegter Tisch, ein Podest oder eine Glasvitrine dienen als Aufbewahrungsort für die Trommel, die Fanfare, das Ehrenbuch und das gebundene Halstuch. Das Ehrenbuch sollte nach Möglichkeit aufgeschlagen sein und die letzte Eintragung zeigen. Eine Folie kann vor Staub schützen.” (Pionierkartei, A13)
“Wir Thälmannpioniere tragen mit Stolz unser rotes Halstuch und halten es in Ehren.Unser rotes Halstuch ist Teil der Fahne der Arbeiterklasse. Für uns Thälmannpioniere ist es eine große Ehre, das rote Halstuch als äußeres Zeichen unserer engen Verbundenheit zur Sache der Arbeiterklasse und ihrer Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu tragen.” (Die Gesetze der Thälmannpioniere, §2)
“Appelle künden vom Stolz der Pioniere auf ihre Pionierorganisation ‘Ernst Thälmann’. Sie tragen dazu bei, eine feste, disziplinierte Pioniergemeinschaft zu bilden, die entschlossen und bereit ist, für die Deutsche Demokratische Republik hohe Leistungen zu vollbringen.” (Pionierpalast, 227)
Die Regieanweisungen für die Kinder, Jugendlichen oder Organisatoren enthalten extensive Erläuterungen und Detaillierungen.
Rights and permissions
Copyright information
© 1994 Leske + Budrich, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
von Wensierski, HJ. (1994). Mit uns ziehen die alten Zeiten Die Mythologie der staatlichen Jugendkultur der DDR. In: Mit uns zieht die alte Zeit. Biographie und Gesellschaft, vol 21. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-92521-3_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-92521-3_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-322-92522-0
Online ISBN: 978-3-322-92521-3
eBook Packages: Springer Book Archive