Säkularisierung und religiöser Glaube. Rückgang traditioneller Religiosität und religiöser Pluralismus in Westeuropa

Zusammenfassung

“Seit der Aufklärung wird das intellektuelle Selbstverständnis des Westens, insbesondere das in den Feuilletons verbreitete Raisonnement, durch die Vorstellung einer Säkularisierung als Telos der Entwicklung bestimmt” (Scheuch 1988: 12). Telos war zumeist die Überwindung der Religion. Wenn Soziologen einer solchen Sichtweise kritisch gegenüberstehen, so häufig nur deshalb, weil der von ihnen verwendete weite Religionsbegriff ein Absterben der Religion logisch unmöglich macht¹. Wenn die Vergesellschaftung des Menschen ein religiöses Phänomen ist, dann besteht Religion notwendigerweise solange fort, wie es Gesellschaft gibt. Aber auch wenn man einen engeren, substantiellen Religionsbegriff vertritt (vgl. etwa Berger 1967; Dobbelaere 1981; Stark and Bainbridge 1985), lassen sich Argumente gegen die These vom Absterben der Religion vorbringen: so nehmen religiöse Praxis und religiöser Glaube trotz fortschreitender Industrialisierung in den Vereinigten Staaten nicht ab (vgl. dazu die Kontroverse zwischen Chaves 1990; Hout und Greeley 1987, 1990; ferner Firebaugh and Harley 1991). Neue religiöse Bewegungen, das Wiederaufleben sogenannter fundamentalistischer Strömungen² oder das Entstehen neuer Sekten sind weitere Indizien, daß der Säkularisierungsprozeß nicht so geradlinig verläuft, wie es in den öffentlichen Diskussionen vielfach den Anschein hat (vgl. dazu schon Scheuch 1971).