Zusammenfassung
Bevölkerungswissenschaftliches Denken als obrigkeitsorientierte „Staatsbeschreibung“, sei es im Dienste der Außenpolitik und Diplomatie oder der internen Staatsverwaltung, war ein traditioneller Bestandteil der Staatswissenschaft seit der frühen Neuzeit; sie stand, mindestens seit der Spezialisierung der Statistik (sie wurde seit dem 17. Jahrhundert an Universitäten gelehrt), im Spannungsfeld zwischen Mathematisierung und Quantifizierung als „politische Arithmetik“ einerseits und einer kasuistischen Darstellung von besonderen Zuständen und Unterschieden der verschiedenen Staaten andererseits. Dabei ist eine synergetische wissenschaftliche Dynamik in Gang gekommen: Je mehr Mathematisierung und Quantifizierung der politisch-sozialen und wirtschaftlichen Zustände, desto vollständiger wurde das Material zur Darstellung von längerfristigen Entwicklungsseqenzen und von strukturellem Wandel — Quantifizierung bzw. Mathematisierung und Historisierung bzw. Differenzierung bedingten sich gegenseitig. Zu dieser innerwissenschaftlichen Ausdifferenzierung kam ein externer „Auslöser“ hinzu: Die radikalen Umbrüche der Französischen Revolution stellten die Leistungsfähigkeit der traditionellen juristischen und verwaltungstechnischen Staatslehre in Frage, da sie sich als unfähig erwiesen hatte, diese Krisen zu begründen oder gar vorauszusehen. Eine Hinwendung der staatswissenschaftlichen Forschungsinteressen zum „Volk“ als die eigentlich treibende historische Kraft war die Folge, und so wurde — zusammen mit der fortschreitenden Verfeinerung empirisch-statistischer Methoden — die Begründung der modernen Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert eingeleitet.1
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Literatur
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© 2002 Leske + Budrich, Opladen
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Üner, E. (2002). Bevölkerungswissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Mackensen, R. (eds) Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik vor 1933. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-92254-0_9
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