Zusammenfassung
Wenn ich mich im Folgenden mit den lebensgeschichtlichen Folgewirkungen fundamentalistischer Missionsgesellschaften in Lateinamerika beschäftige, so fragt sich zurecht, was diese Thematik mit Migrationsprozessen zu tun haben mag. Nur auf den ersten Blick scheinen dies jedoch zwei völlig disparate Themenbereiche zu sein. Bei näherer Betrachtung eröffnet sich hingegen eine Perspektive, die durchaus einen Vergleich von Migrations- und Bekehrungsprozeß erlaubt: so läßt sich die von fundamentalistischen Missionsgesellschaften aus den USA betriebene Bekehrung von katholischen Indianern in Ecuador durchaus als eine Form der Migration, als Prozeß einer inneren, religiösen Migration verstehen, wobei die Bekehrung eine ähnlich gravierende und die Lebenssituation insgesamt verändernde Krise bewirkt wie etwa die Migration in eine fremde Kultur.1 Durch die Bekehrung verändert sich die Lebensführung, aber auch das Geschlechterverhältnis und schließlich der individuelle und kollektive Identitätsentwurf.2 Konvertiten sind insofern ähnlich wie Migranten mit psychischen und sozialen Konflikten, vor allem mit Trennungs-, Verlust-, Abgrenzungs- und Anpassungskonflikten konfrontiert.3 Sowohl Bekehrung wie auch Migration setzen deshalb eine biographische Zäsur: Sie sind zugleich Ausdruck wie auch Ergebnis einer lebensgeschichtlichen Krise, von deren Bewältigung die Gestaltung des zukünftigen Lebensentwurfes abhängig ist. Von daher lassen sich Bekehrung und Migration auch als Sozialisationschancen begreifen, die im Erwachsenenleben eine neue Möglichkeit bieten, festgefahrene Strukturen der eigenen Identität und unbewältigte Konflikte aus Kindheit und Jugend aufzugreifen, zu revidieren und einer befriedigerenden Lösung zuzuführen.4 In diesem Sinne würde die durch Bekehrung und Migration heraufbeschworene Krise ein existentielles Bemühen um Korrektur und Emanzipation beinhalten.5 Allerdings besteht auch die Gefahr, daß diese Chance ungenutzt bleibt und es lediglich zur Wiederholung alter Konfliktmuster kommt. Dann wäre die Bekehrung und die Migration lediglich die Fortsetzung, bzw. die Neuauflage alter Konflikttraditionen, die auch die neuen Lebensverhältnisse, wenn auch unter anderen Vorzeichen, weiter bestimmen.
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Rohr, E. (1999). Die fundamentalistische Entzauberung der Welt Das ethnopsychoanalytische Fallbeispiel eines indianischen Mormonen in Ecuador. In: Apitzsch, U. (eds) Migration und Traditionsbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91622-8_16
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