Zusammenfassung
Martin Walser (geb. 1927) gehört wie Günter Grass und Uwe Johnson zu der Schriftstellergeneration, die zu publizieren begonnen hat, nachdem sich das gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik und in der DDR stabilisiert hatte. Für Walser werden freilich spezifische Ausformungen dieser ‚Stabilität‘ im öffentlichen wie im privaten Bereich zugleich auch Gegenstand und Problem der literarischen Arbeit. Zu Anfang der sechziger Jahre unternimmt er den Versuch, eine eigenständige und zeitnahe Dramatik zu schaffen, mit der er im konservativen Theaterbetrieb der Zeit zwar erfolgreich wird, aber nicht unumstritten bleibt. Das Parabeltheater von Autoren wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt liefert ihm dramaturgische Orientierung; so nimmt sich sein viertes Stück, Überlebensgroß Herr Krott (1962/63), streckenweise wie eine Erprobung von Dürrenmatts Überlegungen zum ‚grostesken Theater‘ aus, wonach eine Geschichte bis zu ihrer ‚schlimmst-möglichen‘ Wendung geführt werden muß. In diesem Fall: Krott, der Kapitalist schlechthin, ist unfähig zu sterben, aber auch vor allen Bemühungen geschützt, seinen überfälligen Tod herbeizuführen; groteske Allegorie eines gesellschaftlichen Zustands. Auch in Walsers anderen Stücken herrscht ein alles durchdringender Immobilismus: ob sie sich nun, explizit politisch, mit der unaufgearbeiteten Nazi-Vergangenheit befassen (Eiche und Angora, 1961/62; Der Schwarze Schwan, 1961/64) oder eher private Beziehungen und Konflikte ausspielen (Der Abstecher, 1961; Die Zimmerschlacht, 1962/63). Man hat diesen Immobilismus gelegentlich als dramaturgischen Einwand formuliert; Marcel Reich-Ranicki etwa glaubte ein Fehlen „szenischer Vision“ konstatieren zu müssen.1 Andererseits kann man freilich — ohne dramaturgische Schwächen ganz zu leugnen — die „mangelnde Bühnenlebendigkeit von Handlung und Figuren“2 als Ausdruck einer spezifischen Form von Stillstand verstehen, die für Walsers Personen, Konstellationen, Handlungen wesentlich ist — als Reflex eines tiefreichenden gesellschaftlichen Immobilismus. Seine Bühnenfiguren stehen in einem Geflecht von Rollenerwartungen, Verhaltenszwängen und persönlichen Abhängigkeiten, das gegen ihre subjektiven Regungen, Wünsche, Bedürfnisse weitgehend resistent ist. Veränderung, so sehr sie ersehnt wird, scheitert an den versteinerten Verhältnissen.
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Literaturhinweise
Martin Walser: Die Gallistl’sche Krankheit. Roman, Frankfurt/M. 1974 (= edition suhrkamp 689).
Martin Walser: Halbzeit. Roman, 2 Bde., Frankfurt/M. 1973 (= suhrkamp taschenbuch 94).
Martin Walser: Gesammelte Stücke, Frankfurt/M. 1971 (= suhrkamp taschenbuch 6).
Thomas Beckermann (Hrsg.): Ober Martin Walser, Frankfurt/M. 1970 (= edition suhrkamp 407).
Klaus Pezold: Martin Walser. Seine schriftstellerische Entwicklung, Berlin/DDR 1971.
Joachim Werner Preuß: Martin Walser, Berlin 1972.
Ursula Reinhold: Martin Walser: Die Gallistl’sche Krankheit, in: Weimarer Beiträge 19 (1973), H. 1, S. 166 ff.
Text + Kritik H. 41/42 ( Martin Walser ), München 1974.
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Schütz, E., Vogt, J. (1980). Martin Walser. In: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Grundkurs Literaturgeschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91544-3_12
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