Zusammenfassung
Diese Definition von Lyrik stammt nicht aus vorindustrieller Zeit, bezieht sich nicht auf einen Einzelbereich, etwa den der Klassik oder Romantik, sondern steht als allgemeingültige Beschreibung in einem der gängigsten Literaturwörterbücher von heute. Die Formulierungen geben sich unpolitisch, indem sie Entstehung und Wirkung lyrischer Texte auf die emotionale Sensibilität des Individuums zurückführen und die Auseinandersetzung des Lyrikers mit einer komplexen historisch-gesellschaftlichen Realität auf eine „gemüthafte Weltbegegnung“ reduzieren. Damit wird stillschweigend eine traditionsreiche lyrische Produktion, die über Brecht und Enzensberger in die Gegenwart ragt, übergangen. Die apodiktische Festlegung der Lyrik als einer Gattung, die darauf angelegt ist, subjektiven Regungen mit Hilfe einer gestalteten Sprache zeitlose Gültigkeit zu gewähren, liefert die Kategorien, wie undifferenziert diese auch in Wahrheit sein mögen, jegliche Lyrik, deren Intention die Begriffe: gemüthafte Weltbegegnung, Einfühlung, Zeitlosigkeit durch: politisches Engagement, Rationalität, Veränderung ersetzt, ästhetisch abzuqualifizieren. Daß es sich bei der zitierten Definition von Lyrik keineswegs um eine rein literaturwissenschaftliche Fehlleistung handelt, sondern unter einer gesellschaftskritischen Perspektive das ideologische Substrat hervortritt, sollte erkennbar sein. Dieser Sachverhalt wird um so deutlicher, je näher man sich mit einem durch die Definition nicht abgedeckten Gegenstand, der Lyrik des Vormärz, einläßt.
„Lyrik, (...) unmittelbare Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch gemüthafte Weltbegegnung entstehen, in der Sprachwerdung aus dem Einzelfall ins Allgemeingültige, Symbolische erhoben werden und sich dem Aufnehmenden durch einfühlendes Mitschwingen erschließen. (...) Sie (...) führt (...) zu ästhetischer Formprägung im Sprachkunstwerk — (...) vom ausströmenden Seelenlied bis zur bewußtesten und durchgeistigten Kunstform. Nicht die Intensität des verdichteten Gefühls, die Erlebnisstärke und die Tiefe der Empfindung allein, auch die Durchdringung und Bewegung des Sprachmaterials zu sprachkünstlerischer Gestaltung sind wesentliche Kriterien der Dichtung, denn sie erst geben der einmaligen Empfindung zeitlos-gegenwärtige Form und lösen das Gedicht aus der unruhevollen Seele des Schöpfers zu erfülltem Eigenleben.“1
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Literaturhinweise
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Jansen, J. (1982). Der Vormärz. In: Einführung in die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Grundkurs Literaturgeschichte, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91543-6_6
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