Zusammenfassung
Mit Ambivalenz verbinde ich als Historikerin nicht in erster Linie ein bestimmtes kultursoziologisches Konzept, sondern eine grundlegende Tatsache meiner wissenschaftlichen Arbeit. Das “Philosophische Wörterbuch” definiert Ambivalenz als “Mehrdeutigkeit eines Sachverhalts, einer Aussage” wie auch als “Nebeneinanderbestehen gleich ursprünglicher Neigungen, Gefühle, Werte”.1 In beiden Bedeutungsdifferenzierungen ist dem Historiker Ambivalenz vertraut. Vergangene Phänomene zeigen sich in der Regel als mehrdeutig, vor allem, wenn es sich darum handelt, die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen vergangener Epochen zu entschlüsseln. Diese Mehrdeutigkeit möchte der Historiker durch seine Arbeit, die der Methode seiner Wissenschaft, der “historischen Methode”, folgt, aufheben zugunsten eines eindeutigen, klaren, überzeugenden Urteils. Ist eine solch präzise, unanfechtbare Urteilsbildung allein aufgrund methodischer Verfahren denkbar? Die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts — auf dem Höhepunkt ihrer Leistung und öffentlichen Geltung — war davon überzeugt. Als ein Beispiel unter anderen kann Charles Seignobos dienen, dessen Studien zur historischen Methode große Verbreitung fanden.2 “Le but de cette analyse”, so beschrieb er die Intention seiner Schrift, “est de déterminer les opérations par lesquelles se forme la connaissance historique et les conditions qu’elle doit remplir pour donner une certitude légitime.” 3 Und an anderer Stelle betont er wiederum die Methode als ausschlaggebenden Faktor bei der historischen Erkenntnis: “Le caractére historique tient donc, non à la nature du fait connu, mais au procédé par lequel an le connait.”4
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Becher, U. (1997). Kontingenz und historische Erzählung. In: Luthe, H.O., Wiedenmann, R.E. (eds) Ambivalenz. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91433-0_3
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