Zusammenfassung
Wir haben die folgende Ausgangssituation vor Augen: Ein Kind, vielleicht im Alter von einem Jahr, bewegt sich auf seine Mutter zu und schaut ihr dabei erwartungsvoll ins Gesicht. Doch diese ist anderweitig beschäftigt; sie würdigt das Kind keines Blickes. Gründe dafür kann es viele geben. Vielleicht ist die Mutter sehr stark mit ihrer Hausarbeit beschäftigt, vielleicht ist sie in Gedanken bei ihrem unzuverlässigen Partner, vielleicht fühlt sie sich in diesem Augenblick einfach unwohl, vielleicht gelingt es ihr aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur nicht, die „zwischenmenschliche Brücke“1 zu ihrem Kind herzustellen. Dieses fühlt sich jedenfalls jählings zurückgewiesen. Es spürt, daß der Kontakt zu seiner Mutter nicht gelingt. Die Gesichtsmuskulatur des Kindes spannt sich an, seine Atmung und sein Herzschlag werden schneller, was eine Intensivierung der Blutzirkulation zur Folge hat. Die Augen füllen sich mit Tränen, das Kind beginnt zu weinen. Es empfindet Wut. Aber auch diese affektive Äußerung läuft ins Leere, da die Mutter — aus den schon genannten Gründen — auf sich selbst bezogen ist.2 So entsteht schließlich jene Art von Traurigkeit, wie sie jeder Mensch empfinden wird, der sich abgelehnt bzw. im Stich gelassen fühlt. Die leise, obgleich noch ganz unreflektierte Ahnung, wertlos und ungeliebt zu sein, beginnt in diesem Traurigsein zu keimen.
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Literatur
G. Kaufman, Shame. The power of caring. Cambridge, Mas. ( Schenkman ) 1985, S. 11–15.
Vgl. M. Titze, Die heilende Kraft des Lachens. Frühe Beschämungen mit Therapeutischem Humor heilen. München (Mosel) 1995, 36 ff.
E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß, III. Teil: 1929–1935 (Husserliana XV). Den Haag (Nijhoff) 1973, S. 604–608: Das Kind, die erste Einfühlung, hier S. 604 f
Vgl. dazu I. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei E. Husserl. Den Haag (Nijhoff) 1982, S. 114 ff.
N. Lee, E. Husserls Phänomenologie der Instinkte. Dordrecht u. a. (Kluwer) 1993, S. 163 ff. u. 173 ff.
Vgl. für unseren Zusammenhang besonders E. Husserl, Phänomenologische Psychologie (1925) (Husserliana IX). Den Haag (Nijhoff) 2 1968, S. 55 ff.
Vgl. E. Husserl, Formate und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (21929), Tübingen (Niemeyer) 1981, S. 184
vgl. dazu weiterhin G. A. de Almeida, Sinn und Gehalt in der genetischen Phänomenologie E. Husserls. Den Haag (Nijhoff) 1972, S. 177 ff.
H.-M. Gerlach, H. R. Sepp (Hg.), Husserl in Halle. Spurensuche im Anfang der Phänomenologie. Frankfurt/M. u. a. 1994 (Lang), S. 63–84, hier S. 76 f.
M. Henry, L’essence de la manifestation,Bd. II. Paris (PUF), 1963 (Neuaufl. 1990), S. 480 f. Vgl. den Beitrag von M. Titze in diesem Band.
Vgl. M. Scheler, Das Schamgefühl. Halle (Niemeyer) 1913. (Über Scham und Schamgefühl - Zusätze. Ges. Werke Bd. 10. Bern [Francke] 1957 ).
R. Descartes, Les passions de l ’âme. Paris (Vrin) 1970, Art. 205 (S. 212): „La Honte est une espece de Tristesse, fondée aussi sur l’Amour de soy mesme, et qui vient de l’opinion ou de la crainte qu’on a d’estre blasmé.“
Vgl. beispielsweise L. Eidelberg, An introduction to the study of narcissistic mortification. Psychoanal. Quart. 31 (1957) S. 657–668
O. F. Kernberg, Object relations theory and clinical psychoanalysis. New York (Aronson) 1976.
Da-sein“ oder aus der „Sinndessimination” heraus zu erhellen. Für die Psychologie vgl. beispielsweise S. de Shazer, Der Dreh. Heidelberg 1989 (Auer), S. 117 ff.
Vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Werke in 3 Bdn., Hrsg. v. K. Schlechta, 2. Bd., München (Hanser)’1973, S. 415
Die Unschuld des Werdens. Der Nachlaß. Ausgewählt und geordnet von A. Bäumler, 1. Bd., Stuttgart 1978, S. 250.
Vgl. etwa in diesem Sinne F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1993.
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© 1997 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Kühn, R., Titze, M. (1997). Scham als reiner Affekt im Licht psychologisch- und radikal-phänomenologischer Reduktion. In: Kühn, R., Raub, M., Titze, M. (eds) Scham — ein menschliches Gefühl. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91270-1_14
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