Zusammenfassung
Ein erfolgreiches Forschungsprogramm zeigt sprudelnde Aktivität. Ständig gibt es Dutzende von Rätselfragen zu lösen und technische Fragen zu beantworten; mögen auch einige davon — unvermeidlicherweise — von dem Programm selbst geschaffen worden sein. Doch diese verselbständigte Dynamik des Programms kann die Forscher fortreißen und dazu führen, daß sie den Problemhintergrund aus den Augen verlieren. Sie fragen dann kaum mehr, in welchem Maße sie das ursprüngliche Problem gelöst haben, in welchem Maße sie Grundpositionen aufgegeben haben, um mit den inneren technischen Schwierigkeiten fertig zu werden. Sie bewegen sich womöglich mit rasender Geschwindigkeit vom Ausgangsproblem weg, merken es aber nicht. Problemverschiebungen dieser Art können einem Forschungsprogramm eine bemerkenswerte Standfestigkeit bei der schadlosen Verarbeitung fast jeder beliebigen Kritik verleihen.1)
Diese Arbeit erschien ursprünglich in Lakatos [1968a] — als Teil der Verhandlungen des internationalen wissenschaftstheoretischen Kolloquiums in London 1965. Sie erwuchs aus einem Kommentar zu Carnaps Vortrag [1968b] ‚Inductive Logic and Inductive Intuition‘. Lakatos gab seiner Arbeit folgende Danksagung bei: ‚Der Verfasser dankt Y. Bar-Hillel, P. Feyerabend, D. Gillies, J. Hintikka, C. Howson, R. Jeffrey, I. Levi, A. Musgrave, A. Shimony und J. W. N. Watkins für Kritik an früheren Fassungen, vor allem aber Carnap und Popper, die damit Tage zubrachten und dadurch ungeheuer zu meinem Verständnis des Problems und seiner Geschichte beitrugen. Doch ich fürchte, daß Carnap — und möglicherweise auch Popper — nicht mit der Auffassung übereinstimmen, zu der ich gelangt bin. Beide haben die endgültige Fassung nicht vor sich gehabt.‘ (D. Hrsgg.)
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Literatur
Eine allgemeine Behandlung von Forschungsprogrammen, Problemlösen gegenüber Rätsellösen, Problemverschiebungen findet sich in Bd.1, Kap. 1.
Ein einfaches Beispiel für eine `voranschreitende Problemverschiebung’ liegt vor, wenn mehr erklärt wird, als man ursprünglich erklären wollte, oder sogar etwas damit Unverträgliches. Das ist übrigens eine von Poppers Adäquatheitsbedingungen für eine gute Lösung des Erklärungsproblems (Popper [1957]).
Die `degenerierende Problemverschiebung’ läßt sich ebenfalls am Erklärungsproblem veranschaulichen. Eine Erklärung bildet eine degenerierende Problemverschiebung, wenn sie mit `konventionalistischen’ (d. h. gehaltvermindernden) Strategien gewonnen wurde. Vgl. unten, Text zu Anm. 153.
Mit `partikulären Sätzen’ meine ich wahrheitsfunktionale Verknüpfungen von Sätzen von der Form r(ai, a2,CHRW(133), a„), wo r eine n-stellige Beziehung ist und die a, Individuenkonstanten sind. Carnap [1950], S. 67, spricht von `molekularen’ Sätzen.
Die rationalistische Form der klassischen Erkenntnistheorie dagegen war weniger einheitlich. Die Kartesianer ließen das Zeugnis der Vernunft, der Sinneserfahrung und des religiösen Glaubens gleichermaßen zu. Bacon war ein verworrener und widerspruchsvoller Denker, und er war Rationalist. Der Streit zwischen Bacon und Descartes war ein Märchen, das die Newtonianer erfunden hatten. Doch die meisten Empiristen gaben —versteckt oder offen — zu, daß mindestens die logische Erkenntnis (die der Wahrheitsübertragung) apriorisch war.
Kennzeichnend für die klassische Erkenntnistheorie ist der Streit zwischen Skepsis und Dogmatismus. Die skeptische Richtung des klassischen Empirismus möchte mit der Beschränkung der Erkenntnisquellen auf die Sinneserfahrung nur zeigen, daß es überhaupt keine maßgebliche Erkenntnisquelle gebe: auch die Sinneserfahrung täuscht, und deshalb gibt es überhaupt keine Erkenntnis. Im gegenwärtigen Zusammenhang gehe ich nicht auf den skeptischen Pol der klassischen justifikationistischen Dialektik ein. Diese Analyse der klassischen justifikationistischen Erkenntnistheorie ist einer der Hauptpfeiler der Philosophie Karl Poppers; vgl. die Einleitung zu Popper [1963a]. Eine weitere Behandlung findet sich in Band 1, Kap. 1.
Von diesem Standpunkt aus sind informaler mathematischer Beweis und induktive Verallgemeinerung wesentlich gleichartig. Vgl. Lakatos [1976c], insbes. S.81, Anm. 2, dt. S. 82, Anm. 157.
Eine Rekonstruktion dieses historischen Vorgangs ist eines der Hauptthemen von Lakatos [1963/64] bzw. [1976c].
Natürlich können die klassischen Rationalisten behaupten, induktive Schlüsse seien unvollständige deduktive Schlüsse mit synthetisch-apriorischen `Induktionsprinzipien’ als verborgenen Voraussetzungen. Vgl. auch unten, 5(a), drittletzter Abs.
Eines der wichtigsten Argumente in der Geschichte der Wissenschaftstheorie war Duhems vernichtende Kritik der induktiven Logik der Entdeckung, die zeigte, daß einige der tiefsten erklärenden Theorien die Tatsachen korrigierten,daß sie den `Beobachtungsgesetzen’ widersprachen,auf die sie sich nach der Newtonschen induktiven Methode angeblich `gründeten’ (vgl. Duhem [1906], Abschn. 10.4). Popper [1948, 1957] kam auf Duhems Darstellung zurück und verbesserte sie. Feyerabend führte das Thema in seiner Arbeit [1962] aus. Ich habe gezeigt, daß ein ähnliches Argument in der Logik der mathematischen Entdeckung zutrifft: wie man in der Physik manchmal nicht das erklärt, was man erklären wollte, so beweist man in der Mathematik manchmal nicht das, was man beweisen wollte; vgl. Lakatos [1976c].
In der ganzen vorliegenden Arbeit werden die Ausdrücke `Wahrscheinlichkeit’, `probabilistisch’ u. ä. in diesem Sinne verwendet.
Eigentlich war die probabilistische induktive Logik eine Cambridger Erfindung. Sie stammte von W. E. Johnson. Broad und Keynes besuchten seine Vorlesungen und entwickelten dann seine Ideen fort. Ihr Ansatz beruhte auf einem ganz simplen logischen Schnitzer (der auf Bernoulli und Laplace zurückgeht). Broad [1932], S. 81, drückte ihn so aus: `Die Induktion kann nicht hoffen, mehr zu liefern als bloß wahrscheinliche Schlüsse, und deshalb müssen die logischen Grundsätze der Induktion die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sein.’ (Hervorhebung von mir.) In der Voraussetzung dieses Arguments ist von der intuitiven Wahrscheinlichkeit oder Wahrheitsnähe die Rede, in der Folgerung von der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung. (Interessanterweise hatte vor Poppers Kritik von 1934 an Keynes und Reichenbach niemand auf diese Vermengung hingewiesen.)
Ich frage mich, ob die nächste interessante Entwicklung in der induktiven Logik vielleicht Unmöglichkeitssätze beweisen wird, des Inhalts, daß bestimmte elementare Adäquatheitsbedingungen für c-Funktionen in reichhaltigen — und auch weniger reichhaltigen? — Sprachen unerfüllbar sind. (Doch ich zweifle stark, daß solche Ergebnisse, wie die Gödelschen, der Entwicklung neue Wege weisen würden.)
Schilpp [ 1963 ], S.72, Hervorhebung von mir.
Carnap sagt sehr charakteristisch im ersten Satz seiner Arbeit [1928]: `Die Aufgabe der Erkenntnistheorie besteht in der Aufstellung einer Methode zur Rechtfertigung der Erkenntnisse.’ Die Methode im Sinne der Entdeckungslogik verschwindet — es gibt nur eine `Methode’ der Begründung. Eine ähnliche Situation ist in der Philosophie der Mathematik entstanden, wo die Ausdrücke ‘Methodologie’, `Beweis’ usw. alle von der Begründungslogik usurpiert werden. Vgl. Lakatos [1963/64] bzw. [1976c]. In dieser Arbeit entsteht durch den bewußten Gebrauch des Ausdrucks `Beweis’ im Begründungs-und im heuristischen Sinne ein — beabsichtigter — paradoxer Eindruck.
Das muß Carnap natürlich gesehen haben, doch er hielt es nicht für nötig, es zu sagen. Als erster verwies darauf Popper [1955/56], S. 160. Vgl. auch Popper [ 1968b ], 5. 289.
Vgl. Camaps `Erwiderungen’ in Schilpp [1963], S. 998 (verfaßt etwa 1957), sowie das Vorwort zur zweiten Auflage von 1962 von Carnap [ 1950 ], S. X V.
Vgl. Shimony [1955], Lehman [1955], Kemeny [ 1955 ].
Eine klare Bestimmung der `strikten Fairness’ und `strikten Kohärenz’ findet sich bei Carnap [1968b], S. 260–262.
Vgl. auch Carnap [ 1950 ], S. 208: `Der Ausdruck `Induktion’ wurde früher oft auf die universelle Induktion beschränkt. Unsere spätere Diskussion wird zeigen, daß in Wirklichkeit der Voraussageschluß nicht nur für praktische Entscheidungen, sondern auch für die theoretische Wissenschaft wichtiger ist.’ Auch diese Problemverschiebung geht auf Keynes zurück: `Unsere Schlüsse sollten die Form induktiver Korrelationen und nicht universeller Verallgemeinerungen haben.’ (Keynes [1921], S. 259.)
Doch nach Popper war Carnaps antitheoretische Wendung’ vielmehr eine RUckwendung zu seiner alten antitheoretischen Position der späten zwanziger Jahre. Vgl. unten, 3(c).
Carnap [ 1953 ], S. 195. Carnap weist den arglosen Leser nicht darauf hin, daß nach seiner Theorie (anno 1953) das Maß der Stützung, das irgendwelche Daten für eine vorläufig angenommene universelle Hypothese liefern können, gleich null ist.
In diesem Fall könnte man sogar von der `Widerlegung einer Sprache’ reden.
Interessanterweise glauben einige induktive Logiker, die das noch nicht erkannt haben, die Planung einer Sprache sei lediglich `Formalisierung’ und damit bloße (wenn auch wohl mühsame) `Routinearbeit’ für den induktiven Logiker.
Bar-Hillel [ 1963 ], S.536, stellt fest: `Es gibt keine allgemein anerkannten Kriterien für den Vergleich zweier Sprachsysteme’ und sieht hier `eine wichtige Aufgabe für die heutige Methodologie’. Vgl. auch L.J. Cohen [1968], S. 247ff.
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Lakatos, I. (1982). Wandlungen des Problems der induktiven Logik. In: Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften, vol 2. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91088-2_8
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Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
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