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Anomalien oder ‚entscheidende Experimente

(Eine Erwiderung an Adolf Grünbaum)

  • Chapter
Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Part of the book series: Philosophische Schriften ((PHILS,volume 2))

  • 119 Accesses

Zusammenfassung

Ich danke Adolf Grünbaum für seine Kritik der ‚antifalsifikationistischen‘ Züge meiner Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme, und ich bin froh über die Gelegenheit zu einer Erwiderung. Als erstes muß ich versuchen, ein grundlegendes Mißverständnis aufzuklären. Meine Arbeit begann mit der Frage: ‚Wie und was lernen wir des genaueren über wissenschaftliche Theorien aus dem Experiment?‘1) Später kommt dann meine, wie Grünbaum sie nennt, ‚provozierende Behauptung‘: ‚Man kann nicht aus der Erfahrung die Falschheit irgendeiner [wissenschaftlichen] Theorie entnehmen.‘2) Versteht man nun unter ‚Theorie‘ eine ‚Aussage, die (fehlbar) eine Tatsache widerspiegelt‘, dann ist meine Behauptung wegen der (erkenntnistheoretisch unüberbrückbaren) Kluft zwischen Tatsache und Aussage alles andere als provozierend, sondern eine orthodoxe Binsenwahrheit. Sie besagt: Wenn experimenta crucis eine experimentelle Widerlegung liefern sollen, dann kann es keine experimenta crucis geben. Wenn ich eine provozierende Behauptung aufgestellt habe, dann ist es eine stärkere, nämlich daß kein experimentelles Ergebnis, für sich allein genommen, jemals eine ‚Theorie‘ zum Erliegen bringen kann, sei es in meinem Sinne (daß es unvernünftig wäre, weiter an ihr zu arbeiten) oder im Sinne Grünbaums (daß das Experiment unser vernünftiges Für-richtig-Halten in ein vernünftiges Für-unrichtig-Halten verwandeln sollte). Das heißt, es gibt auch in keinem dieser beiden schwächeren Sinne ‚entscheidende Experimente‘.

Diese Arbeit ist ein Beitrag zu einer Diskussion zwischen Lakatos und Grünbaum über das experimenturn crucis. 1973 hielt Lakatos einen Vortrag an der Pennsylvania State University (veröffentlicht als Lakatos [1974d],auf den Grünbaum erwiderte. Die vorliegende Arbeit ist Lakatos’ Antwort darauf. Grünbaums Erwiderung, die Teil einer größeren Arbeit mit dem Titel ‚Falsifiability and Rationality‘ ist, blieb unveröffentlicht, doch er hat freundlicherweise genehmigt, daß hier Lakatos’ Zitate aus dieser Arbeit wiedergegeben werden (die Stellenangaben sind Seitenzahlen des Schreibmaschinenmanuskripts Grünbaums [1973]). Sie geben aber nicht unbedingt Grünbaums jetzige Auffassungen wieder. Lakatos betrachtete die hier veröffentlichte Arbeit als einen Rohentwurf. Seine einleitende Fußnote lautet: ‚Ich möchte für die konstruktive Kritik an früheren Fassungen danken, die mir von Peter Clark, Colin Howson, John Watkins, John Worrall sowie auch von Adolf Grünbaum zuteil wurde.‘ (D. Hrsgg.)

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Literatur

  1. Es handelt sich um meine Arbeiten [1968c], [1971c] sowie Bd. 1, Kap. 1, 2 u. 3. Smart [1972] hat mir, ich fürchte mit Recht, meine Vorliebe für alle möglichen Verweise auf eigene Arbeiten vorgehalten, die die Lektüre erschwerten. Diese Darstellungsweise möchte ich alles andere als verteidigen, den jeweiligen Inhalt aber sehr wohl.

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  2. Würden isolierte Hypothesen wissenschaftliche Leistungen ausmachen, so müßte man zum Beispiel Hegel als großen Naturwissenschaftler und Vorläufer von Einstein ansehen, weil er irgendetwas über die Wechselbeziehung von Raum und Zeit gemunkelt hat.

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  3. Vgl. Lakatos [1976c], insbes. Kap. 1, Abschn. 7.1–3. Diese Behandlung der informalen Mathematik hat klare Konsequenzen für die wissenschaftliche Erklärung.

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  4. Eine Behandlung von drei verschiedenen Arten der Ad-hoc-haftigkeit findet sich bei Lakatos [ 1968c ], S. 375–390, insbes. S. 389, Anm. 1, sowie in Bd. 1, Kap. 1, 3(d4), Abs. 3, letzte beide Anmerkungen, und Abs. 5, Anmerkung.

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  5. Vgl. die Unterscheidung — und die damit verbundene Arbeitsteilung — zwischen inner-und außerwissenschaftlicher Geschichte nach Bd. 1, Kap. 2, sowie Kap. 6 des vorliegenden Bandes, Mitte von Abschn. 2(a).

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  6. Vgl. meine Behandlung des Merkurperihels, des Michelson-Morley-Experiments, des Experiments von Lummer und Pringsheim und der angeblichen experimenta crucis für einige Theorien des Beta-Zerfalls in Bd. 1, Kap. 1. Die interessante Arbeit von Holton [1969], die erschien, während meine Arbeit [1970a] im Druck war, stützt ebenfalls meine Schlußfolgerungen (nicht aber, wie ich fürchte, Holtons eigene): vgl Zahar [ 1973 ].

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  7. Ich habe stets in Anlehnung an Kant behauptet: (1) Wissenschaftsgeschichte ohne Wissenschaftstheorie ist blind,und (2) Wissenschaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer. (Vgl. Crombie [1963], S.458, wo mich Hanson dahingehend zitiert; sodann Lakatos [1963/64], S.3 [[entspr. [1976c], Einleitung, dt. S. IN], sowie Bd. 1, Kap. 2, erster Satz.) Grünbaum scheint mit dem ersten Punkt einverstanden zu sein, nicht aber mit dem zweiten.

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  8. Daß R voranschreitend und mit Anomalien belastet ist, läßt sich — entgegen Grünbaums Behauptung — auf der Stelle (`ohne daß man warten müßte’) sagen. Eines aber kann man nicht sofort wissen: wann, wenn überhaupt,die Wissenschaftler die Anomalie als `experimentum crucis’ zu bezeichnen beginnen. Doch das ist sicher eine Frage der außerwissenschaftlichen Geschichte, die für die rein normative Diskussion zwischen Grünbaum und mir ohne Bedeutung ist.

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  9. Grünbaum behauptet, man könne Werte so zuordnen, daß in ihrem Lichte `A und O’ beide mindestens in solchem Maße bewährt sind, daß beide so viel eher wahr als falsch sind, daß sie nicht mehr vernünftig angezweifelt werden können’. Selbst induktive Logiker haben starke Zweifel, ob die induktive Logik die Lösung des Humeschen Problems auch nur annähernd so weit bringen kann. (Vgl. z. B. Salmon [1966], 5.132.)

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  10. Das heißt, der Grenzfall ist gewöhnlich ein `idealer’, den Tatsachen widersprechender,wie das `ideale’ Gas.

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  11. Für den einzelnen ist es gewöhnlich klug,alle seine Forschungs-Eier in einen Korb zu packen, in dem Sinne, daß es unklug wäre, ein Programm zu schnell aufzugeben; die Methoden eines ernsthaften Forschungsprogramms zu erlernen, kostet einen viele seiner besten Jahre.

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  12. Vgl. in erster Linie Watkins [ 1970 ], S. 34 ff. Daß der theoretische Pluralismus wünschenswert ist, folgt auch unmittelbar aus Feyerabends `erkenntnistheoretischem Anarchismus’ wie auch aus meiner `Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme’.

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  13. Es könnte befremden, daß nach meinen Definitionen ein `keimendes’ Programm `degenerieren’ kann. Doch leider ähneln sich jugendliches und greisenhaftes Verhalten erheblich, wofür viele heutige Jugendbewegungen reiches Anschauungsmaterial liefern.

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© 1982 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig/Wiesbaden

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Lakatos, I. (1982). Anomalien oder ‚entscheidende Experimente. In: Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften, vol 2. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91088-2_10

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-91088-2_10

  • Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-528-08430-1

  • Online ISBN: 978-3-322-91088-2

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