Zusammenfassung
Mit der triumphierenden Parole „Jetzt dichten sie wieder!“ glaubte die Illustrierte „stern“ im Oktober 1974 den resignierenden Rückzug der Schriftsteller aus der Politik trendmäßig festschreiben zu können. Oberflächlich betrachtet scheint die literarische Entwicklung seit 1973 die marktbezogene Trend-Bestimmung des „stern“ auch zu bestätigen. Großkritiker und Literaturprofessoren haben, nicht ohne innere Befriedigung, in eindimensionalen Einschätzungen die Illustriertenschreiber oft noch übertroffen. Das Politische gegen das Poetische ausspielend, konstatiert Marcel Reich-Ranicki anläßlich der Frankfurter Buchmesse 1975 eine „Abwendung von Theorie, Ideologie und Politik einerseits und Hinwendung zum Künstlerischen in der Literatur“ andererseits. Die „Rückkehr zur schönen Literatur“, das Interesse „für Privates und Individuelles“ sei nur „die Folge einer einseitigen Politisierung der Literatur“2. Und Eberhard Lämmert spricht wenige Monate später, im Blick auf die ersten vier Bände der Zeitschrift „Literaturmagazin“, von einem „Bereinigungsprozeß der intellektuellen Linken“; die „Götterdämmerung eines vordergründigen politischen Engagements“ sei im Gang: „Die Erde hat sie wieder.“3
„lab dich an deiner ohnmacht nicht, sondern vermehre um einen zentner den zorn in der welt, um ein gran.“
(Hans Magnus Enzensberger: anweisung an sisyphosl)
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Anmerkungen
H. M. Enzensberger: Verteidigung der Wölfe, Frankfurt/M. 1957, S. 70.
M. Reich-Ranicki: Rückkehr zur schönen Literatur, in: FAZ, B. 10. 1975.
E. Lämmert: Die Erde hat sie wieder, in: DIE ZEIT 2/1976. Umgekehrt warnt M. Zeller in einer Rezension von,Literaturmagazin 5’ (FAZ, 24. 7. 1976) vor „gefährlich resignativen Beiträgen“, in denen er die Revolte von 1968 „verraten” wähnt. Um zu solchem Ergebnis zu gelangen, muß er die eigentlichen Intentionen der Autoren übersehen: sie wollen die Zerstörung des Realitätssinns der Menschen sichtbar machen sowie Formen des Standhaltens, z. B. in der Verteidigung von Heimat und Natur. Diesen vermittelt politischen Ansatz will der FAZ-Kritiker durch willkürlich herausgegriffene Zitate diskreditieren, wobei er sich zum Schein auf die Seite der begrifflichen Aufklärung schlägt und die Linke zur „Wachsamkeit“ mahnt.
W. Schütte: Ober das,Literaturmagazin 4’, in: FR, 11. 10. 1975.
H. Marcuse: Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/M. 1973, S. 124.
Vgl. auch J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 110;
P. Gorsen: Transformierte Alltäglichkeit oder Transzendenz der Kunst?, in: Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer anderen materialistischen Ästhetik, Berlin 1974, S. 129 ff.
Gorsen, a. a. 0., S. 139.
Vgl. H. J. Krahl: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M. 1971;
J. Schmierer: Zur Analyse der Studentenbewegung, in: Rotes Forum 5/1969;
O. Negt/A. Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankfurt/M. 1972;
Marxistische Aufbauorganisation: Die Krise der kommunistischen Parteien, München und Erlangen 1973;
M. Kukuck: Student und Klassenkampf, Hamburg 1974.
R. zur Lippe: Objektiver Faktor Subjektivität, in: Kursbuch 35/1974, S. 1 ff.
P. P. Zahl: Von einem, der auszog, Geld zu verdienen, Düsseldorf 1970, S. 119 f.
F. Viebahn, in: Sie schreiben zwischen Moers und Hamm, hrsg. von H. E. Käufer und H. Wolff, Wuppertal 1974.
W. Schütte: Zeitgenosse Lenz, in: FR, 13. 10. 1973.
P. Laemmle: Büchners Schatten, in: Akzente 5/1974, S. 469.
Vgl. die in ihrer Tendenz ähnlichen „Lenz“-Rezensionen von W. Schröder
in: Weimarer Beiträge 12/1974, S. 128 ff.
K. Dautel, in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 23–24/1974, S. 106 ff.
Grobschlächtig argumentiert auch M. Schneider, in: Die lange Wut zum langen Marsch, Reinbek 1975, S. 317 ff.
Unübertroffen in Borniertheit und Dogmatik ist freilich der Artikel über P. Schneider, in: Kommunistische Volkszeitung, 26. 2. 1976 („Die Kunst des Kapitulantentums“).
P. Schneider: Lenz, Berlin 1973, S. 40.
P. Schneider: Ansprachen, Berlin 1970, S. 7 ff.
P. Schneider: Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution, in: Kursbuch 16/1969, S. 27.
P. Schneider: Können wir aus den italienischen Klassenkämpfen lernen?, in: Kursbuch 26/1971, S. 1.
Vgl. dazu: „Wir wollen alles“, die wichtigste spontaneistische Zeitung in der BRD, die zwischen März 1973 und Juni 1975 in 27 Nummern erschien.
Georg Büchner: Werke und Briefe, Leipzig o. J., S. 108.
U. Timm: Heißer Sommer, München 1974, S. 52.
U. Timm: Diskussionsbeitrag in: Arbeitstagung der DKP zu Fragen der Literatur, München 1974, S. 136.
Wenn H. P. Piwitt (Rückblick auf heiße Tage, in: Literaturmagazin 4/1975, S. 41) das Scheitern der DKP-Romane primär auf das „Handikap der falschen Erzählhaltung“ zurückführt, so greift er damit zu kurz. Er drückt sich um die politische Kritik politisch gemeinter Romane. Zumal sich Wirklichkeit aus der Er-Perspektive durchaus differenziert darstellen ließe, wie aktuelle Beispiele zeigen.
Wesentlich plumper inszeniert Klaus Konjetzky in einer Kneipenszene seiner lyrischen Autobiographie „Poem vom Grünen Eck“ (München 1975, S. 48) Selbsthaß und Arbeiterfetischismus: „Wir (die Studenten) reden/ über die Titten der Bedienung./ Sie (die Arbeiter am Nebentisch) diskutieren/ über die Unruhe in Werkshalle 9.” Umgekehrt wäre wenigstens eine Pointe abgefallen. — Zu Konjetzkys Partei-Idylle in der Kneipen-Behaglichkeit
vgl. J. Theobaldy/G. Zürcher: Veränderung der Lyrik, München 1976, S. 156 ff.
Es ist wohl kaum ein Zufall, daß der Vertreter der traditionalistischen Linie im SDS und spätere DKP-Funktionär im Roman „Lister“ heißt. Den Namen trug der stalinistische Kommandant der 11. Division im spanischen Bürgerkrieg, der 1937 für die Liquidierung der Selbstverwaltung der Bauern in Aragon verantwortlich war.
R. Lang: Ein Hai in der Suppe oder Das Glück des Philipp Ronge, München 1975,S. 176.
P. Handke: Die Tyrannei der Systeme, in: DIE ZEIT 2/1976.
Piwitt, a. a. O.
A. Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt/M. 1975, S. 232.
Vgl. auch die Ausführungen von Negt/Kluge (a. a. O., S. 384 ff.) zur Lagermentalität der KPD vor 1933.
Vgl. dazu: Kontext 1. Literatur und Wirklichkeit, hrsg. von U. Timm und G. Fuchs, München 1976. Speziell die Aufsätze von Timm, Mattenklott, Lang, Hitzer, Ritter und Fuchs zeichnen sich durch dogmatische Beschränkung aus.,Entlarvt` werden einmal mehr all jene, denen die kapitalistische Klassengesellschaft undurchschaut bleibe und der Staat schlechthin als das dem auf Selbstverwirklichung drängenden Individuum Feindliche erscheine (Brinkmann, Handke, Struck, Born); diese Haltung sei Ausdruck „spätbür-
gerlicher Dekadenz“ (S. 254). Für einen naiven Abbild-Realismus und gegen „bourgeoise Ideologieplaner” (worunter er so verschiedene Leute wie Peter Demetz, Reich-Ranicki, Jörg Drews und Peter Bruckner subsumiert) plädiert R. Lang; Autoren wie Brückner, die von der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus abweichen, „huren in der marxistischen Theorie herum“ (Lang, a. a. O., S. 83). Auf welch hohem Niveau stand dagegen selbst Lukâcs’ Dekadenzvorwurf gegen die Moderne (Proust, Kafka, Joyce, Beckett) in seinem Buch „Wider den mißverstandenen Realismus” (1958). Doch läßt sich, was Adorno damals gegen Lukacs einwandte, bruchlos auf die DKP-Literaturtheorie übertragen: „Die gesamte moderne Literatur, soweit auf sie nicht die Formel eines sei’s kritischen, sei’s sozialistische Realismus paßt, ist verworfen, und es wird ihr ohne Zögern das Odium der Dekadenz angehängt, ein Schimpfwort, das nicht nur in Rußland alle Scheußlichkeiten von Verfolgung und Ausmerzung deckt… Die Rede von Dekadenz ist vom positiven Gegenbild kraftstrotzender Natur kaum ablösbar; Naturkategorien werden auf gesellschaftlich Vermitteltes projiziert“ (Tb. W. Adorno: Erpreßte Versöhnung, in: Noten zur Literatur II, Frankfurt/M. 1961, S. 156 f.).
R. Lettau: Eitle Überlegungen zur literarischen Situation, in: Literaturmagazin 4, S. 21.
Th. W. Adorno: Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans, in: Akzente, 1. Jg. 1954, Heft 5, S. 412.
P. Handke: Falsche Bewegung, Frankfurt/M. 1975, S. 51 f.
P. Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt/M. 1974, S. 76 f.
J. Theobaldy: Blaue Flecken, Reinbek 1974, S. 38. Der Fall des Assessors Topp liegt auch Peter Schneiders „… schon bist du ein Verfassungsfeind“ (Berlin 1975) zugrunde.
Ober die Schwierigkeiten linker Literatur“, in: Marxistische Studenten-Zeitung (München), Nr. 3/1975.
W. Schütte: Ober das,Literaturmagazin 4’, a. a. O. Vgl. auch J. Theobaldy: Das Gedicht im Handgemenge, in: Literaturmagazin 4, S. 64 ff.;
H. Dittberner: Unterwegs mit den Leuten, in: FR, 20. 9. 1975.
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Buselmeier, M. (1977). Nach der Revolte. Die literarische Verarbeitung der Studentenbewegung. In: Lüdke, W.M. (eds) Literatur und Studentenbewegung. LESEN. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91066-0_6
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