Zusammenfassung
„Rückzug eines Zauberkünstlers“ 1 war der Titel einer Rezension des gerade erschienenen „Mausoleums“ von Enzensberger. Er machte deutlich genug, daß, wer von Enzensberger spricht, tunlichst den Artisten zu beachten habe, dem die revolutionäre Haltung eher zur ästhetischen Geste wird2, den Romantiker, als den ihn eine Studie im „Literaturmagazin 4“ entlarvt, um ein für alle Mal seinen Zauber zu zerstören.3 „Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch und philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade“4, so charakterisierte Friedrich Schlegel frühromantisches Selbstbewußtsein in den Lyceumsfragmenten. Nichts daran ist echt, authentisch, meint dagegen Christian Linder in der oben genannten Untersuchung. Sie stellt daher Enzensberger als einen Ironiker in der Perspektive Kierkegaards und Carl Schmitts dar, als einen Schriftsteller, dem nichts ganz ernst ist, auch nicht die politischen Haltungen, die ihm wie Kostüme zur Verfügung stehen. Dies alles mag davor warnen, Enzensbergers Arbeiten exemplarische Bedeutung für die politische Entwicklung der letzten Jahre, seit der Studentenbewegung, zu geben. Man kann diese Warnung aber auch umdrehen und der Charakteristik Enzensbergers einen anderen Akzent geben, und dies auch dann, wenn man in der Tat der Meinung sein muß, daß manche spektakulären Aktionen Enzensbergers — so sein „Offener Brief an den Präsidenten der Wesleyan University“ im Januar 19685 — auch Inszenierungen einer radikalen Haltung sind, die über dem Protest gegen das Ganze, die Arbeit am konkreten Einzelnen nur zu leicht aufgibt. Und man kann auch dann noch an einer anderen Akzentuierung festhalten, wenn man sich dadurch irritiert fühlen muß, daß bei aller Radikalität, mit der Enzensberger 1968 der „Literatur als Kunst“ den Abschied zugunsten einer Literatur als Politik gab, die endlich „Folgen“ haben sollte, er der ersteren doch auch „Unwiderlegbarkeit“ zusprach.6 Es ist befremdend, daß Enzensberger Türen manchmal so fest zuknallt, daß sie wieder aufspringen.
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Anmerkungen
Frankfurter Rundschau vom 18. 10. 1975 ( Rez. Wilfried F. Schoeller).
Cf. Karl Heinz Bohrer, Revolution als Metapher, in: ders., Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München 1970, S. 89–105.
Christian Linder, Der lange Sommer der Romantik, in: Literaturmagazin 4, Reinbek b. Hamburg 1975, S. 85–107.
Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, hrsg. von Wolfdietrich Rasch, München 1964, S. 13.
Ober Hans Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt/M. 1973, S. 233–238. Mit diesem Brief, der gegen die Vietnampolitik der USA protestiert, gibt Enzensberger Fellowship und Stipendium an die amerikanische Gastuniversität zurück, und er weist auf die Absicht hin, nach Cuba zu gehen.
Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: Kursbuch 15, 1968, S. 195.
Hans Magnus Enzensberger, Das Verhör von Habana, Frankfurt/M. 1972, (die erste Ausgabe erschien 1970) — im Text zitiert ist der Titel von Enzensbergers Kommentar.
In dieser Aufführung im Juni 1970 — sie wurde vom WDR übertragen — waren die Konterrevolutionäre durch Personen aus der bundesrepublikanischen Wirklichkeit ersetzt. Gerd Fuchs schreibt in einer Rezension: „Was dieser Abend zur sinnlichen Erfahrung machte, war die These von der Obertragbarkeit der damaligen cubanischen auf westdeutsche Verhältnisse, war der Beweis, daß unabhängig von Breitengraden die gleiche Klassenlage die gleichen Bewußtseinsstrukturen ausbildet. Was ihn jedoch über die Demonstration einer soziologischen Binsenweisheit hinaus ins Politische hob, war die Implikation, die sich aus dem Beispiel der cubanischen Invasoren ergibt.“ Es folgt der Hinweis auf den Bürgerkrieg von Seiten der Bourgeoisie. In: Ober Hans Magnus Enzensberger, S. 206 f.
In dieser Weise stellt Ideologiekritik eine Form pragmatischer Antinomien dar. Cf. P. Watzlawick/J. H. Beavin/D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Bern/Stuttgart/Wien 1969, S. 178–203.
Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971; ders., Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion, Festschrift für W. Schulz, hrsg. von H. Fahrenbach, Pfullingen 1973. Zur Kritik der Konsensustheorie cf. Ansgar Beckermann, Die realistischen Voraussetzungen der Konsensustheorie von J. Habermas, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie III/1 1972, sowie Dieter Freundlieb, Zur Problematik einer Diskurstheorie der Wahrheit, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie VI/1, 1975. Zur im Text folgenden Kritik verweise ich auf Argumente des Kritischen Rationalismus gegen Letztbegründungen, besonders auf das von H. Albert sogenannte „Münchhausen-Trilemma“, in: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1969, S. 8 ff.
Hans Magnus Enzensberger, Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt/M. 1975, S. 11–13.
In der „Götzen-Dämmerung“ heißt es: „Thukydides und, vielleicht, der Principe Machiavellis sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehen — nicht in der „Vernunft”, noch weniger in der „Moral“…”. (Werke, hrsg. von Karl Schlechta, München 1966, Bd. II, S. 1028 (2).
So Reinhart Kosellecks Darstellung vom schwindenden Einfluß Hobbes, einem Nachfolger Machiavellis, in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus bis hin zur Französischen Revolution. (Kritik und Krise, Freiburg 1959.)
Walter Benjamin, Theologisch Politisches Fragment, in: W. B., Angelus Novus, Frankfurt/M. 1961, S. 280 f.
Hans Magnus Enzensberger, Politik und Verbrechen, Frankfurt/M. 1964, S. 19. Cf. dazu die Kritik Hannah Arendts in einem Briefwechsel mit Enzensberger, in: Ober Hans Magnus Enzensberger, S. 172–180.
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 105 f. Horkheimer/Adorno haben freilich einige Implikationen dieser These revidiert. Sie bestimmt denn auch ihre Deutung des Faschismus nicht total. Es gibt in der „Dialektik der Aufklärung“ einen zweiten Argumentationsstrang im Hinblick auf die repressive Natur der Naturbeherrschung. Er reflektiert implizit die Unterscheidung von notwendiger und überflüssiger Repression, ähnlich wie bei Marcuse. Von hier aus spielt die Kritik der „Verleugnung” von Repressionen eine ebenso große Rolle wie die der Repression selbst (S. 70 ).
Jürgen Habermas, Bewußtmachende oder rettende Kritik, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1972, S. 214. In seiner Deutung des Mai 1968 weist Karl Markus Michel auf das Fehlen einer Theorie des Ausdrucks hin, die allein die Demonstrationsformen der Studentenbewegung adäquat fassen könne. (Ein Kranz für die Literatur, in: Kursbuch 15, 1968.)
In ihrer Biographie Bakunins (Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923, S. 49) schreibt Ricarda Huch: „Die mathematische Begabung war ihm angeboren; es war ihm offenbar ein Bedürfnis, diese Kraft zu üben, wie Buben sich raufen, oder Sportsmänner ihren Sport treiben.“
Zit. nach: Wolfgang Dreßen, Antiautoritäres Lager und Anarchismus, Berlin 1968, S. 17.
Bakunin, Gesammelte Werke, Berlin 1924, S. 97 ff., zit. nach Dreßen, Antiautoritäres Lager, S. 85 und 86.
Jürgen Habermas, Brief an Erich Fried vom 26. 7. 1967, in: J. H., Student und Politik, Frankfurt/M. 1969, S. 149 f.
Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955–1970, Frankfurt/M. 1971, S. 168–169.
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Müller, V.U. (1977). Cuba, Machiavelli und Bakunin. In: Lüdke, W.M. (eds) Literatur und Studentenbewegung. LESEN. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-91066-0_4
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