Skip to main content

Aufbau einer Allgemeinen Systemtheorie

  • Chapter
Einheit der Welt und Einheitswissenschaft

Part of the book series: Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie ((WWP,volume 37))

Zusammenfassung

Die Allgemeine Systemtheorie baut auf zwei fundamentalen Voraussetzungen auf: erstens, einem universalen Wirkungszusammenhang von Elementarprozessen und zweitens, einer mengentheoretischen Definition von “System”. Auf die Gefahr hin, den Leser durch Wiederholungen zu ermüden, möchte ich zunächst einige Grundbegriffe der Allgemeinen Systemtheorie in vorläufig unpräzisen Formulierungen vorstellen, um die anschließenden — notgedrungen etwas technischen — Erläuterungen in Kapitel 5.1 für den mit diesem Vorverständnis gerüsteten Leser ein wenig leichter verdaulich zu machen1.

Sagt man der Tiger, so sagt man zugleich die Tiger, die ihn zeugten, die Rehe und Schildkröten, die er verschlang, die Weide, von der die Rehe sich nährten, die Erde, deren Mutterschoß die Weide hervorbrachte, der Himmel, der der Erde Licht spendete.

— Jorge Luis Borges (1949)

Jedes Atom ist ein System aller Dinge.

— Alfred North Whitehead (1929)

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 34.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 44.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Referenzen

  1. Der interessierte Leser sei erneut auf den Anhang zu Schlosser (1990) verwiesen, der einen vorläufigen Versuch darstellt, die hier exponierte Systemtheorie zu formalisieren (eine überarbeitete Version ist in Vorbereitung).

    Google Scholar 

  2. Wie steht es mit der Unterscheidung zwischen “vorgestellten” und “wirklichen” (sensu stricto) Systemen? Das hängt von der Weite der Systemdefinition ab. Ein vorgestelltes Zebra muß mit einem wirklichen Zebra etwas gemeinsam haben, sonst könnten wir nicht beide als Zebra klassifizieren. Es läßt sich also eine Identitätsmenge definieren, die beide als Elemente enthält. Daß die Übergänge zwischen “Vorgestelltem” und “Wirklichem” fließend sind, zeigen uns Phänomeme wie Träume oder Halluzinationen. Im allgemeinen glauben wir aber, die Systemdefinition so eingrenzen, spezifizieren zu können, daß sie nurmehr auf “wirkliche”, nicht mehr auf “vorgestellte” Systeme zutrifft. Was dabei als “wirklich” gelten darf, hängt vom intersubjektiven Konsens über “Wirkliches” ab (vgl. Kap. 3). Der “immanente Realismus” behauptet nicht, alle Wirklichkeit sei “wirklich” (sensu stricto) (er darf also keinesfalls als Sensualismus mißverstanden werden).

    Google Scholar 

  3. In Schlosser (1990) wurde eine andere Terminologie (“ ”) verwendet, die aber exakt mit der hier ge-brauchten korrespondiert: Statt von “Elementarsystemen” spreche ich nun von Elementarprozessen. Definierte Systeme K entsprechen den “wirklichen Systemen”, Momentansysteme <;Kpi>; entsprechen “individuellen Systemen”, Prozeßsysteme Kpi treten an die Stelle von “konkreten wirklichen dauerhaften Systemen” und K-definierte Prozeßsysteme Kp ersetzen “wirkliche dauerhafte Systeme”. Die vorgestellten Systembegriffe lassen sich mit einigen Whiteheadschen Begriffen parallelisieren. Whiteheads allgemeinster Terminus für Systeme ist “nexus” (Whitehead (1929), z.B. S. 67, 84), manchmal auch “Organismus” (“organism”) (z.B. Whitehead (1925), S. 105). Ein Nexus ist eine Gruppe relational aufeinander bezogener “wirklicher Einzelwesen”. Ein Nexus, der nur transitorisch besteht, wäre also einem Mo-mentanystem gleichzusetzen. Einen Nexus mit “sozialer Ordnung”, d.h. mit einem “abgrenzenden Charakteristikum” nennt Whitehead “Gesellschaft” (“society”) (Whitehead (1929), S. 84); diese entspricht einem definierten System. Eine in der Zeit dauernde Gesellschaft, deren zu verschiedenen Zeitpunkten aktualisierte nexus durch “genetische Beziehungen” verbunden sind, nennt Whitehead “dauerhaften Gegenstand” (“enduring object”) (Whitehead (1929), S. 84), dieser entspricht einem Prozeßsystem: “endurance requires a succession of durations, each exhibiting the pattern” (Whitehead (1925), S. 127). Allerdings spielen Nexus, Gesellschaften und dauerhafte Gegenstände in Whiteheads Philosophie eher eine marginale Rolle und nur wirkliche Einzelwesen werden als “eigentlich” wirkliche Entitäten angesprochen. Diese Vernachlässigung wurde Whitehead oftmals vorgeworfen (Vlastos (1937); Leclerc (1981), S. 132 f). Auch Schwegler (1992) definiert ein System als ein “Netz von Rektoren”, beschränkt sich aber nicht auf wirksame Relationen (Schweglers Relatoren können neben Wirkungs-auch Bedeutungszusammenhänge herstellen); sein Ansatz ist daher nur eingeschränkt mit meinem zu vergleichen.

    Google Scholar 

  4. Whiteheads “Wert” (“value”) (1925, S. 95) und sein “abgrenzendes Charakteristikum” (Whitehead (1929), S. 84) für “Gesellschaften” — diese entsprechen meinen definierten Systemen — lassen sich als ein solches Identitätskriterium interpretieren.

    Google Scholar 

  5. Auch Maturana betont an einigen Stellen, daß die Operation eines Beobachters — hier kann nur der “letzte Beobachter” gemeint sein — für die Abgrenzung eines Systems entscheidend ist: Die Operation eines Beobachters ist eine “Operation der Unterscheidung, d.h. der Aufweis einer Einheit dadurch, daß eine Handlung ausgeführt wird, die ihre Grenzen definiert und sie von einer Umgebung abgrenzt … er unterstellt dieser Einheit durch diese seine Beobachtung eine Organisation … ” Maturana (1975), S. 149; vgl. auch Maturana (1970), S. 36 und Maturana (1978), S. 100. Maturana (1978; S. 100) behauptet allerdings: “aber die Unterscheidungsoperation charakterisiert nicht die implizierte Organisation … Wenn daher ein Beobachter eine Einheit unterscheidet, dann hat er nicht notwendigerweise Zugang zu dem Medium, in dem diese als Einheit operiert”. Wenn damit gesagt werden soll, daß die “eigentliche” Organisation eines Systems für den Beobachter unerforschlich ist, weil der Beobachter die Organisation sozusagen nur von seiner verzerrenden externen Perspektive betrachten kann, so ist diese Position aus immanentrealistischer Sicht unhaltbar (vgl. Fußnote 6, Kap. 3.1; siehe auch Kap. 5.3.2).

    Google Scholar 

  6. Der Begriff der “Relevanz” geht ebenfalls auf Whitehead (1929) zurück (S. 79, 278), wird bei ihm aber subjektivistisch gedeutet und bezieht sich auf das mehr oder weniger intensive Erfassen (“prehension”) zeitloser Gegenstände (“eternal objects”). Die formale Definition der Relevanz im Anhang zu Schlosser (1990), S. 261 enthält einen Kategorienfehler — dort werden zwei Vektoren dividiert —, worauf mich Helmut Schwegler aufmerksam machte. Dieser Fehler läßt sich aber leicht beheben; ich möchte das hier der Übersichtlichkeit halber nicht näher ausführen.

    Google Scholar 

  7. Die Komplementarität von System und Umgebung wird schon von Whitehead (1929) betont, wenn er sagt, “daß der Charakter eines Organismus auf dem seiner Umgebung beruht. Aber der Charakter einer Umgebung ist die Summe der Wesensmerkmale der verschiedenen Gesellschaften von wirklichen Einzelwesen, die seine Umgebung gemeinsam konstituieren” (S. 213/214). Mit “Organismus” ist dabei an alle, nicht nur an lebendige Systeme gedacht.

    Google Scholar 

  8. Wenn hier behauptet wird, die Definition eines Systems impliziere eine Menge von Gefügen von Ele-mentarrelationen, so heißt das nicht, daß wir bei der wissenschaftlichen Systemanalyse unmittelbar in den universalen Wirkungszusammenhang explizieren. Vielmehr gelingen uns für die allermeisten Systeme höchstens Explikationen in eingeschränkte Wirkungszusammenhänge, in denen sich uns ein System schon als Relationengefüge zwischen Konstituenten, wenngleich nicht als Gefüge von Elementarrelationen zwi-schen Elementarprozessen darstellt.

    Google Scholar 

  9. Der Unterschied zwischen einem definierten System und einem momentanen System entspricht Maturanas Unterscheidung von “Organisation” und “Struktur”: Organisation “bezeichnet die Relationen zwischen den Bestandteilen eines Systems, die dieses System als eine Einheit definieren, es verweist somit auf die funktionale Rolle der Bestandteile bei der Konstitution der Einheit. Um also ein System als eine Einheit zu definieren, ist es notwendig und hinreichend, seine Organisation darzustellen. Vom kognitiven Standpunkt bestimmt die Organisation einer Einheit den Begriff, der die Klasse von Einheiten definiert, zu der die Einheit gehört.” Struktur hingegen “bezeichnet die konkret gegebenen Bestandteile sowie die Relationen, die diese Bestandteile in ihrer Mitwirkung an der Konstitution einer gegebenen Einheit erfüllen müssen.” Maturana (1975), S. 139/140. Vgl. auch Maturana und Varela (1975), S. 183, (1987), S. 42 ff.

    Google Scholar 

  10. Mit dieser mengentheoretischen Konzeption dauerhafter Prozeßsysteme entgehe ich auch Sellars’ (1941) Kritik an Whitehead. Seilars versucht den Substanzbegriff gegen die Whiteheadsche Kritik zu verteidigen, obwohl er dessen relationalen Ansatz akzeptiert: “What we always have is a field, a relational complex, elements in their domain, something coexistential, dynamic and productive of change. But such change is an alteration of constitution and not a loss of endurance … change is adjectival, that is it must be conceived as applying not to the constituents but to their constitution … To me this means that duration is intrinsic to nature.” (S. 426). Sellars muß sich fragen lassen, was er mit seinem ominösen “intrinsic to nature” meint. Faßt man Systeme als Mengen auf, so erledigt sich das Problem der dauerhaften Substanz (vgl. auch Kap. 4.1 und Ashby (1956), S. 200).

    Google Scholar 

  11. “Importance depends on endurance. Endurance is the retention through time of an achievement of value. What endures is identity of pattern, self-inherited. Endurance requires the favourable environment. The whole of science revolves around this question of enduring organisms.” Whitehead (1925), S. 193.

    Google Scholar 

  12. Systeme, wie sie hier vorgestellt wurden, sind allgemeiner definiert als Systeme in einigen älteren Systemtheorien. So bezeichnet Weiss (1969) ein Kollektiv nur dann als ein System, wenn “the variance of the features of the whole collective is significantly less than the sum of variances of its constituents.” (S. 12). Diese Systemdefinition geht auf die Bertalanffysche Systemdefinition zurück (1968, S. 54 ff). In Weiss’ Definition werden indirekt die Bedingungen (“Re-Produktion”) zum Ausdruck gebracht, die ich soeben als notwendig für ein dauerhaftes Prozeßsystem angeführt habe. Weiss unterstellt aber, es gäbe auch Kollektive, die keine Systeme sind. Da sich verschiedene Systeme hinsichtlich ihrer Dauer unterscheiden, ist Weiss’ Definition dehnbar (was ist “signifikant”?). Dann ist aber nicht mehr einzusehen, warum bestimmte “Kollektive” nicht als System bezeichnet werden sollen. Nur ein allgemeiner Systembegriff, wie ich ihn vorgeschlagen habe, vermeidet es, artifizielle Grenzen zu ziehen und kann die fließenden Übergänge zwischen verschiedenen Systemen in unserer werdenden Welt verständlich machen. Ähnlich allgemeine mengentheoretische Systemdefinitionen (die aber nicht von einem universalen Wirkungszusammenhang ausgehen) finden sich in Ashby (1956), S. 69, 200, Klir (1969), S. 50 ff. und Mesarovic and Takahara (1975), S. 6 ff.. Einen Überblick über verschiedene Systemdefinitionen gibt Klir (1969), S. 283 ff.

    Google Scholar 

  13. In diesem Zusammenhang sei die Möglichkeit angedeutet, die Irreversibilität und Gerichtetheit des Weltgeschehens (in der Physik üblicherweise unter Verwendung von Begriffen wie “Energie” und “Entropie” gedeutet) in der Terminologie der Allgemeinen Systemtheorie neu zu interpretieren. Je relevanter eine Elementarrelation für einen Elementarprozeß, desto größer ist ihr relativer Einfluß auf das zukünftige Schicksal des Elementarprozesses. In einem dauerhaften Prozeßsystem bleiben konstitutive Elementarrelationen relativ invariant, da seine systemkonstitutiven Elementarrelationen wechselseitig füreinander die relevantesten Einflüsse darstellen, Interaktionen mit anderen Elementarprozessen der Umgebung demgegenüber vernachlässigbar klein und für das Überdauern des Systems zunächst irrelevant sind. Trotzdem ist ein Prozeßsystem im universalen Wirkungszusammenhang äußeren Einflüssen unterworfen und beeinflußt seinerseits andere Prozeßsysteme. Insofern ändert sich die Relevanzordnung der Elementarrelationen der einem Prozeßsystem zugerechneten Elementarprozesse ständig. Beschränken sich die relevanteren Wechselwirkungen auf wenige andere Elementarprozesse (Bestandteile anderer Prozeßsysteme) und sind diese anderen Elementarprozesse untereinander gekoppelt (stehen sie in wechselseitig sich re-produzierenden Relationen zueinander), so können die relevanten Wechselwirkungen lokalisiert bleiben und ihre Relevanzordnungen in Abhängigkeit voneinander re-produzieren (so z.B. die Interaktionen zwischen Erde und reibungsfreiem schwingenden Pendel). Bleiben die Wechselwirkungen mit anderen Elementarprozessen aber nicht lokalisiert, sondern stehen viele externe untereinander nicht gekoppelte (s.o.) Elementarprozesse mit den konstitutiven Elementarprozessen eines dauerhaften Prozeßsystems in einigermaßen relevanten Relationen, so werden externe Einflüsse wirksam und die Rele-vanzordnungen der Elementarprozesse ändern sich nicht mehr vorwiegend in Abhängigkeit voneinander, Relevanz wird delokalisiert (so z.B. durch Reibung bei einem schwingenden Pendel). Auf die Verwandtschaft der Konzeption einer Delokalisierung von Relevanz mit der statistischen Interpretation des Entropiebegriffs (Entropiezunahme als Produktion von Unordnung) soll hier nur kurz hingewiesen werden.

    Google Scholar 

  14. Vgl. hierzu z.B. Forrester (1972), S. 79 ff.

    Google Scholar 

  15. Auch die Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Prozeßsystemen hängt von der Anzahl unterschiedener Systemzustände ab. Lassen sich nicht mehrere Zustände eines Systems unterscheiden, so hat man es per se mit einem statischen System zu tun. Jedes statische Prozeßsystem läßt sich aber bei “genauerem Hinsehen” als ein dynamisches Prozeßsystem betrachten. Ob Atome oder Elektronen, beispielsweise, als statische oder dynamische Prozeßsysteme betrachtet werden, hängt davon ab, wieviel Zustände des Atoms oder Elektrons man unterscheiden will. Beide Betrachtungsweisen sind legitim. Für andere Systeme, wie Steine, Tische usw. ist eine dynamische Betrachtungsweise zwar unüblich, aber keineswegs unsachgemäß.

    Google Scholar 

  16. Dieser schöne Ausdruck stammt von Uexküll (1928), der sie allerdings nur auf lebende Systeme anwendet: “Ein Lebewesen besitzt grundsätzlich eine Zeitgestalt, und da auch das fertige Tier einem fort-währenden Umbau unterliegt, ist sein Leben nicht an eine beliebige Zeitspanne gebunden, die nur von äußeren Umständen abhängt, sondern besitzt grundsätzlich eine bestimmte Dauer …” (S. 90). Auch Maturana und Varela (1975), S. 185 betonen die zeitliche Organisation lebender Systeme.

    Google Scholar 

  17. Ich darf an den erweiterten Raumbegriff der Allgemeinen Systemtheorie erinnern (vgl. Kap. 4.1).

    Google Scholar 

  18. In Schlosser (1990) werden Autokonstituenten durchgehend als “Teilsysteme”, Allokonstituenten als “Uniweitfaktoren” bezeichnet.

    Google Scholar 

  19. Vgl. auch die Ausführungen im Anhang zu Schlosser (1990).

    Google Scholar 

  20. Es ist aber zu beachten, daß “Enthaltensein” in U(Kpi) etwas anderes bedeutet als “Enthaltensein” in Kpi. Zwischen einem Prozeßsystem und seiner komplementären Umgebung (die ja selbst auch ein Prozeßsystem darstellt, das zudem als zu Kpi komplementäres Prozeßsystem durch dieselben Gefüge konstitutiver Relationen bestimmt wird) besteht eine wichtige Asymmetrie: Während die Momentansysteme, die Element des limitierten K sind — in Kpi enthalten sind — nur Elementarprozesse vereinen, die für Kpi konstitutiv sind und eine Zusatzbedingung erfüllen (permanente Konstitutivität, Autokonstitutivität), vereinen die Momentansysteme, die in U(Kpi) enthalten sind, für Kpi allokonstitutive, systemneutrale und unter Umständen systemrestriktive Elementarprozesse. Die Menge U(Kpi) kann daher, da sie auch nichtkonstitutive Elementarprozesse enthält, nur negativ bestimmt werden — sie enthält, was Kpi nicht enthält-, während Kpi positiv bestimmt und in Teilsysteme analysiert werden kann. Anders ausgedrückt: Während K eine Organisation aufweist, die durch ein Beziehungsgefüge aller in ihm enthaltenen Teilsysteme (Autokonstituenten) und einiger Umgebungssysteme (und zwar der Allokonstituenten) ausgedrückt werden kann, kann dem komplementären Prozeßsystem U(Kpi) keine vergleichbare Organisation unterstellt werden (da längst nicht alle der in ihm “enthaltenen” Elementarprozesse bzw. Teilsysteme konstitutiv sind).

    Google Scholar 

  21. Vor allem Uexküll hat immer wieder auf die wechselseitige Beziehung von lebenden Systemen und ihrer Umwelt hingewiesen. Von Uexküll stammt auch die Unterscheidung zwischen Umgebung und Umwelt eines Systems. Er betont, “daß die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern daß sie zusammen einen höheren Organismus bilden. Die Umgebung, die wir um das Tier ausgebreitet sehen, ist selbstverständlich ein anderes Ding als die Tiere; aber dafür ist sie auch nicht ihre Umwelt sondern unsere. Die Umwelt … ist immer ein Teil des Tiers selbst, durch seine Organisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen mit dem Tiere selbst … ” Uexküll (“Umwelt und Innenwelt der Tiere”, 1909), zit. nach Uexküll (1980), S. 236. Uexkülls Begriffe von Umwelt und Umgebung decken sich nicht mit den gleichnamigen Begriffen der Allgemeinen Systemtheorie: Der “Umwelt” Uexkülls entsprechen die “Umweltsysteme” der Allgemeinen Systemtheorie, seiner “Umgebung” entspricht die “Umwelt” der Allgemeinen Systemtheorie. Außerdem werden diese Begriffe in der Allgemeinen Systemtheorie nicht auf lebende Systeme beschränkt. Auch Maturanas Umweltbegriff bezieht sich nur auf lebende Systeme. Die Umwelt solcher Systeme wird als “kognitiver Bereich” oder “Interaktionsbereich” gekennzeichnet, die abiotische Umwelt auch als “Medium” bezeichnet (Maturana (1970), S. 37; (1978), S. 100, 114). Zur Kritik an Maturanas Konzeption von Umwelt s.u. Zum Thema Kopplung vgl. auch Ashby (1956), S. 355, Maturana (1975), S. 150.

    Google Scholar 

  22. Schon Ashby (1956), S. 354 f. hebt hervor, daß es viele gleichwertige Möglichkeiten geben kann, ein System von seiner Umgebung abzugrenzen.

    Google Scholar 

  23. “Eine strukturierte Gesellschaft stellt eine günstige Umgebung für die untergeordneten Gesellschaften bereit, die sie in sich beherbergt. Auch muß die ganze Gesellschaft in einer weiteren Umgebung angesie-delt sein, die ihre Fortdauer erlaubt.” Whitehead (1929), S. 193/194.

    Google Scholar 

  24. “… a favourable environment is essential to the maintenance of a physical object.” Whitehead (1925), S. 111 (vgl. auch S. 96). “Es gibt aber keine isolierte Gesellschaft. Jede Gesellschaft muß mit ihrem Hintergrund einer weiteren Umgebung von wirklichen Einzelwesen betrachtet werden … Daher müssen die gegebenen Beiträge der Umgebung zumindest die Selbstständigkeit der Gesellschaft zulassen.” Whitehead (1929), S. 178. Auch Jantsch (1979) hebt die wechselseitige Abhängigkeit und Koevolution von Systemen und ihren Umgebungen an vielen Stellen seines Buches hervor (z.B. S. 117 ff).

    Google Scholar 

  25. In Schlosser (1990) werden autogenetische Systeme noch als “selbstperpetuierende Systeme”, hetero-genetische Systeme als “funktionale Systeme” bezeichnet.

    Google Scholar 

  26. Die folgende Erläuterung Whiteheads zu seinem Begriff der “Gesellschaft” (passender wäre hier: “dauerhafter Gegenstand”), entspricht der Definition eines autogenetischen Systems: “Die Elemente der Gesellschaft gleichen sich, weil sie aufgrund ihrer gemeinsamen Eigenschaften anderen Elementen der Gesellschaft die Bedingungen auferlegen, die zu dieser Ähnlichkeit führen. Diese Ähnlichkeit besteht in der Tatsache, daß (i) ein gewisses ‘Form’-Element enthalten ist, das zur individuellen Erfüllung jedes Elements der Gesellschaft beiträgt; und daß (ii) der Beitrag, den dieses Element zu der Objektivierung jedes einzelnen Elements der Gesellschaft für das Erfassen durch andere Elemente leistet, seine entsprechende Reproduktion in den Erfüllungen dieser anderen Elemente fördert.” (1929), S. 177. Zur Definition der Begriffe “Gesellschaft” und “dauerhafter Gegenstand” siehe Whitehead (1929), S. 84 ff (vgl. Fußnote 3). Unter einer “korpuskularen Gesellschaft” versteht Whitehead (1929), S. 86 eine Gesellschaft, die sich in “Stränge dauerhafter Gegenstände” analysieren läßt. Eine Gesellschaft ist also dann korpuskular, wenn nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Teilsysteme autogenetische Systeme sind, ein Kristall, beispielsweise, wäre eine “korpuskulare Gesellschaft” von Atomen.

    Google Scholar 

  27. Welche Systeme als statisch, welche als dynamisch klassifiziert werden, hängt davon ab, wieviele Zustände eines Systems wir unterscheiden wollen. Alle Prozeßsysteme lassen sich bei entsprechend “genauem Hinsehen” als dynamische Systeme interpretieren (vgl. Fußnote 15). Daß auch Atome und Elementarteilchen als dynamische Prozeßsysteme, nicht als unwandelbare “Teilchen” aufgefaßt werden können, haben Whitehead (1925, S. 37 f, 133) und Bohm (1987, S. 30 f) betont. Whitehead spricht von der “vibratory existence of enduring matter”, Böhm vergleicht Elementarteilchen mit Strudeln auf der Wasseroberfläche eines Flusses.

    Google Scholar 

  28. Vgl. Weiss (1969), S. 17.

    Google Scholar 

  29. Whitehead (1929, S. 179) betont den transitorischen Charakter aller “Gesellschaften”, die aus Unordnung hervorgehen und nach einer gewissen Zeit wieder in Unordnung zerfallen. Böhm (1987) hebt hervor, daß nur der Totalität des Universums absolute Autonomie zukommt. “Teilchen”, wie Atome, die zu diesem Universum gehören, sind ständig externen Einflüssen unterworfen und daher niemals absolut autonom. Böhm spricht daher vom “Prinzip der relativen Autonomie von Sub-Totalitäten.” (S. 246).

    Google Scholar 

  30. Pattees (1970) Unterscheidung zwischen “structural hierarchies” und “functional hierarchies” entspricht in etwa der Unterscheidung zwischen autogenetischen und heterogenetischen Systemen. Pattee hebt die Bedeutung der zeitlichen Organisation — der “time-dependent boundary conditions” — heteroge-netischer Systeme (bzw. “funktionaler Hierarchien”, wie er sagt) hervor (S. 127, 133). Allerdings ist sein Ausdruck “Hierarchie” irreführend; außerdem sieht er die Möglichkeit dynamischer autogenetischer Systeme nicht.

    Google Scholar 

  31. Siehe z.B. Maturana (1970), S. 36; Jantsch (1979), S. 66; Luhmann (1987), S. 57 ff; Roth (1987), S. 283. Der Begriff der “Selbstreferentialität” wird selten exakt definiert und von verschiedenen Autoren in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht (häufig etwa für heterogenetische Systeme mit hohem Autonomiegrad reserviert; Maschinen und Computer wären in diesem Fall nicht “selbstreferentiell”), so daß ich im Folgenden weitgehend auf ihn verzichten möchte.

    Google Scholar 

  32. Das Konzept der “Autopoiese”, das sich als ausgesprochen anregend für die systemtheoretische Diskussion erwiesen hat, wurde — ausgehend von Maturanas (1970, S. 37) Begriff der “basalen Zirkularität” lebender Systeme — von Varela, Maturana und Uribe (1974) an einem Modell entwickelt und von Maturana und Varela (1975) ausführlich dargestellt. Vgl. auch Maturana (1975), S. 141 ff, Maturana and Varela (1987), S. 33 ff, sowie Roth (1987).

    Google Scholar 

  33. Die zyklische Organisation lebender heterogenetischer Systeme mag mit der Theorie der Autopoiese erstmals in eine begrifflich strukturierte Form gebracht worden sein, sie wurde aber von vielen früheren Autoren bereits erkannt. Bergson (1907) etwa spricht vom “vielgliedrige[n], einen geregelten Kreis von Umbildungen durchlaufende[n] Organismus.” (S. 43, vgl. auch S. 19). Uexkülls Lehre von den “Funktionskreisen” geht gleichfalls von einer zyklischen Natur des Lebendigen aus: “Für jedes einzelne Tier aber bilden seine Funktionskreise eine Welt für sich, in der es völlig abgeschlossen sein Dasein führt.” Uexküll (1928), S. 150. In diese Welt ist allerdings die Umwelt eingeschlossen: ein Organismus und seine “Umwelt bilden … ein Ganzes. Darin ist jeder Teil auf dieses Ganze ausgerichtet. Die biologische Gliederung der Subjekt-Umwelt-Monade erfolgt nach den Funktionskreisen …” Uexküll (1934), zit. n. (1980), S. 140. Plessner (1928) — von Uexküll beeinflußt — entwirft unter der Überschrift “Positionalität” (S. 127 ff.) Prozeßsysteme, die den hier vorgestellten heterogenetischen Systemen sehr nahe kommen. Plessners Unterscheidung zwischen “Organismus” und “Lebenskreis” entspricht meiner Unterscheidung von limitiertem heterogenetischen System und dessen autogenetischem Integralsystem, das alle Konstituenten enthält (vgl. Plessner (1928), S. 192 ff.). Auch die Gestaltpsychologen wollten den in der Wahrnehmungspsychologie gewonnenen Gestaltbegriff nur auf bestimmte Prozeßsysteme anwenden, und zwar auf solche “extended events which distribute and regulate themselves as functional wholes.” (Köhler (1947), S. 105). Piaget (1967) hat die Idee der heterogenetischen Organisation bereits vollkommen klar gesehen: “Funktion und Organisation lassen sich dadurch definieren, daß sie über kontinuierlich aufeinanderfolgende Transformationen hinweg, deren Inhalt sich im Austausch mit der Außenwelt fortwährend erneuert, die Form eines Interaktionssystems erhalten.” (S. 152). So “scheint der Begriff einer zyklischen Ordnung für die Konstanz des offenen Systems unentbehrlich zu sein, weil diese Konstanz sonst nicht auf (…) Regelmechanismen beruhen könnte, sondern auf ein nicht mehr für die Organisation spezifisches Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte beschränkt bliebe.” (S. 159).

    Google Scholar 

  34. Im Extremfall ist das Universum ein solches Integralsystem. Welches Prozeßsystem “autogenetisches Integralsystem” ist, hängt vom Kriterium für die “Konstitutivität” eines Wertebereichs ab (vgl. Kap. 5.1).

    Google Scholar 

  35. Das hin und herschwingende Pendel kann, wie gesagt (vgl. Kap. 5.3.1), als ein zyklisches autogenetisches System klassifiziert werden, obwohl es von einem Allokonstituenten (der Erde) abhängt und sich die Relationen zwischen Erde und Pendel in zyklischer Weise ändern. Die Zyklizität der Interaktionen zwischen Erde und Pendel ist nämlich in trivialer Weise korreliert mit der Zyklizität der Zustände des Pendels, beide Zyklen bedingen einander unmittelbar. Anders bei heterogenetischen Systemen: Dort ist die Zyklizität der Systemzustände nur möglich, wenn Allokonstituenten zyklisch verfügbar sind, wobei deren zyklische Verfügbarkeit nicht automatisch mit der (autokonstitutiven und allokonstitutiven ersten Grades) zyklischen Dynamik des heterogenetischen Systems gegeben ist. Vielmehr kann die zyklische Zustandssequenz des heterogenetischen Systems nur durchlaufen werden, wenn die Umwelt die nötigen Umweltsysteme in zyklischer Weise “bereitstellt”. In den Begriffen von “lokalisierter” bzw. “delokalisierter” Relevanz formuliert (vgl. Fußnote 13): Dynamische Systeme stehen in ständig wechselnden Beziehungen zu ihrer Umgebung. Ist die Wechselwirkung lokalisiert, wie bei der gravitativen Wechselwirkung von Erde und Pendel, so können sich die relevanten Relationen in zyklischer Weise ändern. Sobald aber Relationen zu solchen Prozeßsystemen (bzw. Elementarprozessen) relevant werden, die nicht in die zyklisch sich selbststabilisierenden Interaktionen einbezogen sind (Reibungsverluste durch Interaktion mit den Atomen der Pendelaufhängung) wird Relevanz delokalisiert, bis das Pendel zur Ruhe gekommen ist. Heterogenetische Systeme sind nicht einfach wie das Pendel reziprok mit anderen Prozeßsystemen (Erde) ihrer Umgebung gekoppelt, so daß Relevanz zyklisch lokalisiert bleibt. Sie sind vielmehr in mannigfaltige delokalisierende Interaktionen mit dieser Umgebung verwickelt und verfallen daher ständig. Trotzdem sind sie dauerhaft und können die Relationen zwischen ihren Teilsystemen relativ invariant halten, weil sie durch diese Interaktionen sich dauerhafte Umweltsysteme (verfügbares Sonnenlicht, Wasser, Nahrung) zyklisch “einverleiben”. Ihre regelmäßige, zyklische Organisation “verdanken” sie der Regelmäßigkeit der Umwelt (die nicht wie beim schwingenden Pendel eine triviale Funktion eigener Zyklizität ist). Ihre Zyklizität ist an die Regelmäßigkeit der Umwelt gekoppelt. Die in System-Umwelt-Interaktionen aus dem Prozeßsystem delokalisierte Relevanz muß sozusagen aus der Umwelt heraus erneuert werden. In der Thermodynamik spricht man daher auch von dissipativen Systemen, die ihren geordneten Zustand durch beständige Entropieproduktion (Ordnung durch Zerfall, Relokalisierung von Relevanz durch Delokalisierung von Relevanz) aufrechterhalten können (vgl. Fußnote 37).

    Google Scholar 

  36. Schon Piaget (1967) hat nicht nur die Bedeutung der zyklischen Ordnung für die Organisation lebender Systeme erkannt, sondern auch, daß es sich hierbei um einen Zyklus von System-Umwelt-Interaktionen handelt (S. 158). Auch für Uexküll sind Umwelt und Organismus auf vielfältige Weise miteinander verflochten: “In der Umwelt eines jeden Tieres gibt es nur Dinge, die diesem Tier ausschließlich angehören.” (1909, zit.n. 1980), S. 281 (es ist daran zu erinnern, daß Uexkülls “Umwelt” den Umweltsystemen der Allgemeinen Systemtheorie entspricht). Uexkülls “Funktionskreise” der Aktivitäten eines Organismus lassen sich nur schließen, wenn in der Umwelt ein “Gegengefüge” (Umweltsystem) vorhanden ist: “Die Funktionskreise bilden, sobald sie in Tätigkeit treten, stets einen in sich geschlossenen Mechanismus, der das Gegengefüge einschließt.” (1909), zit. n. (1980), S. 281 (siehe auch Fußnote 33).

    Google Scholar 

  37. Den heterogenetischen Systemen entsprechen die “dissipativen Strukturen” Prigogines (vgl. Prigogine und Stengers (1980), S. 148 ff; Jantsch (1979), S. 62 ff). Dissipative Strukturen sind Strukturen mit “zyklischer Prozeßorganisation” (Jantsch, S. 64), die folgende Bedingungen erfüllen: Die konstitutiven Prozesse laufen fern vom (energetischen) Gleichgewicht ab, sind offen für Stoff-und Energiewechsel und sind positiv rückgekoppelt, stellen also auto-oder crosskatalytische Prozesse dar. Autokatalytische Prozesse lassen sich durch nichtlineare mathematische Gleichungen beschreiben, weshalb oft von der “Nichtlinearität” solcher Prozesse die Rede ist (die zu Strukturbildung aber auch zu Chaos führen können; vgl. Schuster (1989)). Dissipative Strukturen sind dauerhaft, aber nicht unwandelbar. Fluktuationen, die immer wieder auftreten, können neue zyklische Prozeßorganisationen zur Folge haben, deren konkrete Ausprägung von minimalen Unterschieden der Ausgangsbedingungen abhängt. Winzige Fluktuationen können so zu Auslösern von “Symmetriebrüchen” oder “Bifurkationen” werden (“Ordnung durch Fluktuation”; vgl. Prigogine und Stengers (1980), S. 176 ff; Jantsch (1979) S. 77 ff). Dissipative Strukturen werden auch als “selbstorganisierend” beschrieben. Wird von der “Selbstorganisation” von Systemen gesprochen, so sind praktisch immer heterogenetische Systeme gemeint (vgl. zum Überblick Jantsch (1979), S. 49 ff und Haken (1976, 1981, 1985)).

    Google Scholar 

  38. So unterstellt z.B. auch Luhmann (1987, S. 35, 52), eine Grenze sei etwas durch die Organisation des Systems bestimmtes und habe die Funktion der Stabilisierung eines Gefälles (S. 53). In der mengentheoretischen Allgemeinen Systemtheorie hingegen wird die Limitation eines Prozeßsystems durch Festlegung von Kriterien für das “Enthaltensein” geleistet, die enger sind als die Kriterien für Konstitutivität und im allgemeinen nicht mit letzteren zusammenfallen. Es läßt sich deshalb nicht behaupten, die Organisation eines Systems lege dessen Grenze zur Umgebung fest. Die Organisation eines heterogenetischen Systems, zu der die regelmäßige Interaktion mit Allokonstituenten gehört, legt fest, daß bestimmte konstitutive Relationen des Prozeßsystems in definierten Wertebereichen verbleiben, solange das Prozeßsystem dauert, nicht aber, welche Schwankungsbreite konstitutiver Relationen ein Elementarprozeß einhalten muß, damit er noch als im Prozeßsystem “enthalten” bezeichnet wird. Letzteres muß durch Limitationskriterien festgelegt werden, die nicht aus der Organisation des Systems “folgen”, sondern ein Maßstab sind, der an diese angelegt wird. Allgemein gesprochen: Die Organisation von Prozeßsystemen macht diese zu abgrenzbaren Systemen der Welt, ohne festzulegen, wo die Grenze zwischen Prozeßsystem und Umwelt gezogen werden muß. Luhmanns Behauptung, Ökosysteme seien keine Systeme, weil sie keine Grenze hätten (S. 55), impliziert, nur Systeme (Prozeßsysteme) mit eindeutig feststellbaren Grenzen seien “eigentlich” Systeme. Mir scheint hierin eine recht artifizielle Einengung des Systembegriffs zu liegen, worin soll denn das eindeutige Grenzkriterium bestehen? Auch die Forderung von An der Heiden, Roth und Schwegler (1985), S. 333, ein “autonomer Rand”, der einen Reaktionsbereich abgrenzt, aber Stoffwechsel mit der Umgebung ermöglicht, sei als Grenze für heterogenetische (“selbstherstellende”) Systeme nötig, scheint mir unnötig einschränkend zu sein. Für lebende Systeme ist in der Tat eine Membran nötig, die einen Reaktionsraum für diffusible chemische Reaktanten umgrenzt, sonst könnten die Relationen zwischen diesen Reaktanten nicht invariant gehalten werden und die zyklische Organisation des Lebens würde zerfallen. Die Beständigkeit von Prozeßsystemen ist aber nicht notwendig mit dem Errichten von Diffusionsbarrieren verknüpft. Autokonstituenten könnten etwa auch in einem “Gerüst” stabiler räumlicher Relationen zueinander stehen, das durch die heterogenetische Organisation des Prozeßsystems erhalten wird. Was ein Prozeßsystem allgemein auszeichnet, ist eben nur die relative Invarianz konstitutiver Relationen; solche Prozeßsysteme lassen sich dann von einer Umgebung abgrenzen. Die “Form” der gezogenen Grenze ist aber nicht für die Dauer des Systems “verantwortlich”. Die Grenzdefinition Schweglers (1992) erscheint mir problematisch, da sie es auch zuläßt von einer Grenze zwischen zwei Prozeßsystemen zu sprechen, wenn diese nicht benachbart sind, sondern sich überschneiden: Schweglers “Grenze” verläuft nicht zwischen komplementären Prozeßsystemen (Kpi und U(Kpi)) des einen universalen Wirkungszusammenhangs.

    Google Scholar 

  39. Vgl. auch Maturana und Varela (1975); S. 199; Maturana and Varela (1987), S. 40 ff und Maturana (1975): “Ein autopoietisches System ist eine zustandsdeterminierte zusammengesetzte dynamische Einheit. Auch wenn daher die Bestimmung eines autopoietischen Systems keine Aussagen über die Eigenschaften des Mediums erfordert, in dem die Autopoiese verwirklicht wird, erfordert die tatsächliche Verwirklichung eines autopoietischen Systems im physikalischen Raum ein Medium, das die Prozesse der Produktion seiner Bestandteile erlauben. Dieses Medium umfaßt alles, was operational von der autopoietischen Einheit verschieden ist, d.h. alles was evtl. auf diese einwirken kann …” (S. 143). In diesem Zitat gesteht Maturana in einem Atemzug die Abhängigkeit eines autopoietischen Systems von seiner Umwelt ein und leugnet, daß diese für seine Organisation, seine “operational Einheit”, eine Rolle spielt.

    Google Scholar 

  40. Vgl. z.B. Maturana (1975), S. 143, Maturana und Varela (1987), S. 89, 164. Die folgende Kritik an der Verwendung der Begriffe “operationale Abgeschlossenheit” und “Perturbation” bei Maturana und Varela findet sich in ähnlicher Form bei Roth (1987), S. 271 ff.

    Google Scholar 

  41. Auch Roth (1987), S. 263 betont, daß die Autonomie von Organismen nur relativ, nicht absolut ist und nichts gegen eine allmähliche Entwicklung von wenig autonomen zu immer autonomeren “autopoietischen” Systemen spricht. An der Heiden, Roth und Schwegler (1985) unterscheiden zwischen “Selbstherstellung” und “Selbsterhaltung” (S. 334 f). Selbstherstellende Systeme entsprechen in etwa den heterogenetischen Systemen — sieht man einmal von der Forderung nach einem “autonomen Rand” ab. Selbsterhaltende Systeme sind selbstherstellende Systeme hohen Autonomiegrades, die in vielfältigen Umgebungen imstande sind, zu überdauern, da sie u.a. sich selbst reparieren und “störende” Umgebungseinflüsse ausgleichen können. Das einzig bekannte selbsterhaltende System, so die Autoren, sei der “Lebensprozeß” (S. 336), d.h. die genealogische Kontinuität aller lebenden Systeme von der Entstehung des Lebens bis heute. Die Organismen hingegen, die in den Lebensprozeß eingebettet und dessen Träger sind, seien vergänglich und daher “nur” “selbstherstellende Systeme”.

    Google Scholar 

  42. Maturana spricht in diesem Zusammenhang von “struktureller Kopplung” (z.B. Maturana (1975), S. 150). Im wesentlichen wird der Begriff der “strukturellen Kopplung” aber für die Wechselwirkungen zwischen autopoietischen Systemen reserviert (vgl. Maturana und Varela (1975), S. 211 ff). Vgl. auch den Anhang zu Schlosser (1990), S. 276.

    Google Scholar 

  43. Das Phänomen der Selbstregulation wird in Kap. 6.1 noch ausführlich erörtert werden. 44 Vgl. hierzu Haken (1976), S. 211 ff.

    Google Scholar 

  44. Dabei hängt die Komplexität, wie schon der Autonomiegrad, von den Kriterien ab, mit denen wir ver-schiedene Umgebungszyklen bzw. Zustands-oder Allokonstituentenzyklen unterscheiden (s.o.); liegen die Diskriminierungskriterien fest, so läßt sich aber die Komplexität verschiedener Prozeßsysteme miteinander vergleichen. Der hier bestimmte Komplexitätsbegriff unterscheidet sich vom Komplexitätsbegriff der algorithmischen Komplexitätstheorie (vgl. etwa Küppers (1986), S. 145 ff., Vollmer (1988)), in der ein System (Prozeßsystem) als umso komplexer definiert wird, je länger die erforderliche Minimalbeschreibung des Systems ist. Was eine Minimalbeschreibung, also eine redundanzfreie Beschreibung ist, kann aber nur bestimmt werden, wenn auf einen semantischen und nicht, wie üblich, auf den Shannon-Weaverschen syntaktischen Informationsbegriff Bezug genommen wird. Ein brauchbarer semantischer Informationsbegriff ist meines Wissens bisher nicht entwickelt worden, kann aber unter Verwendung der von mir vorgeschlagenen Komplexitätsdefinition konzipiert werden (siehe Kap. 6). Der hier definierte Komplexitätsbegriff ist zunächst nur auf zyklisch dynamische Prozeßsysteme anwendbar. Jedes statische Prozeßsystem, läßt sich aber “bei genauerem Hinsehen” als dynamisches Prozeßsystem auffassen (vgl. Fußnote 27), so daß seine Komplexität ermittelt werden kann.

    Google Scholar 

  45. Lebende Systeme sind also primär durch ihre Komplexität, nicht so sehr durch ihre Autonomie ausge-zeichnete heterogenetische Systeme. Hohe Autonomiegrade und große Beständigkeit können nämlich auch autogenetische und einfache heterogenetische Systeme erreichen. Der Unterschied zwischen einfachen und komplexen heterogenetischen Systemen läßt sich in etwa mit An der Heidens, Roths und Schweglers (1987) Unterscheidung von “selbstherstellenden” und “selbsterhaltenden” Systemen gleichsetzen.

    Google Scholar 

  46. Letztere wird außerdem noch durch die Anzahl unterscheidbarer Konfigurationen systemneutraler Umgebungssysteme bestimmt, bei einfachen heterogenetischen Systemen und bei autogenetischen Systemen sogar ausschließlich.

    Google Scholar 

  47. Aufgrund der Komplementarität von Prozeßsystem Kpi und Umgebung U(Kpi) stellt es auch keinen Widerspruch dar, wenn von zwei benachbarten Prozeßsystemen gesagt wird, sie lebten in verschieden komplexen Umgebungen. Ein Bodenbakterium im Dschungel lebt in einer erheblich einfacheren Umgebung als ein Tigei, der denselben Dschungel durchstreift. Obwohl natürlich beide Prozeßsysteme aufgrund des universalen Wirkungszusammenhangs durch Relationen zu allen benachbarten Prozeßsystemen bestimmt sind, kann sich die Dynamik der Veränderung von Relevanzordnungen für benachbarte Prozeßsysteme unterscheiden. Während für das Bakterium nur relativ wenige Umweltsysteme ihre Relevanz in Allokonstituentenzyklen zyklisch verändern (das Bakterium an nur wenige alternative Allokon-stituentenzyklen gekoppelt ist), sind es für das komplexere Prozeßsystem Tiger ungleich viel mehr (die starke Dynamik der temporär hochrelevanten Relationen für den Tiger spiegelt sich dabei in einer schwachen Dynamik niedrigrelevanter Relationen für das Bakterium wider). Gleiches gilt für das Parasit-Wirt-Beispiel.

    Google Scholar 

  48. Unterscheidbarkeit ist dabei kriterienrelativ. Wir sprechen aber i.a. nur dann von unterscheidbaren Situationen, wenn sich die Relevanzordnung der Elementarrelationen (Wirkungsbeziehungen) zwischen einigen — nicht notwendig allen — der enthaltenen Elementarprozesse (Teilsysteme) ändert. Diese Definition impliziert, daß sich erheblich mehr unterschiedliche zyklische Zustandssequenzen eines weitgehend autonomen komplexen heterogenetischen Systems Kpi unterscheiden lassen, als Zustandszyklen seiner autonomen oder nicht-autonomen Teilsysteme unterscheidbar sind. Die Komplexität von Kpi ist daher ungleich höher als die Komplexität seiner Autokonstituenten.

    Google Scholar 

Download references

Authors

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1993 Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig/Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Schlosser, G. (1993). Aufbau einer Allgemeinen Systemtheorie. In: Einheit der Welt und Einheitswissenschaft. Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie, vol 37. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90910-7_6

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-90910-7_6

  • Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag

  • Print ISBN: 978-3-322-90911-4

  • Online ISBN: 978-3-322-90910-7

  • eBook Packages: Springer Book Archive

Publish with us

Policies and ethics