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Reduktion und Unifikation wissenschaftlicher Theorien

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Einheit der Welt und Einheitswissenschaft

Part of the book series: Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie ((WWP,volume 37))

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Zusammenfassung

Die radikalste Form eines Reduktionismus wurde Anfang dieses Jahrhunderts von den Philosophen des Wiener Kreises, insbesondere von Carnap, Schlick und Neurath als “Physikalismus” vertreten. Ihre “wissenschaftliche Weltauffassung” war eine Kampfansage an gehaltleere, “metaphysische” Begriffe in der Philosophie und den Geisteswissenschaften. Wissenschaft sollte verläßlich und allgemein verbindlich sein. Sie mußte sich daher auf die für jeden gleichermaßen nachvollziehbare Erfahrung stützen, mußte insofern einheitliche Erfahrungswissenschaft und somit Einheitswissenschaft sein:

“Als Ziel schwebt die Einheitswissenschaft vor.… Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine “Tiefen”; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein, nicht immer überschaubares, oft nicht im einzelnen faßbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich, und der Mensch ist das Maß aller Dinge … Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel!” Carnap, Hahn und Neurath (1929), S. 151.

“Jede wissenschaftliche Aussage ist eine Aussage über eine gesetzmäßige Ordnung empirischer Tatbestände. Alle wissenschaftlichen Aussagen sind miteinander verbunden und bilden einen einheitlichen Bereich, der nur Aussagen über beobachtbare Tatbestände umfaßt. Für ihn wird der Name Einheitswissenschaft vorgeschlagen. Will man betonen, daß auf diese Art und Weise eigentlich alles zu Physik wird, so mag man von Physikalismus sprechen.” Neurath (1931 a), S. 1.

So ist die Wissenschaft eine Einheit. Sie ist kein Mosaik, kein Hain, in dem verschiedene Baumarten nebeneinander stehen, sondern ein Baum mit vielen Zweigen und Blättern. Sie gibt die Erkenntnis der Einen Welt, die auch nicht in verschiedene Wirklichkeiten auseinanderfällt.

— Moritz Schlick (1934)

Considered relative to our surface irritations, which exhaust our clues to an external world, the molecules and their extraordinary ilk are … much on a par with the most ordinary physical objects. The positing of those extraordinary things is just a vivid analogue of the positing or acknowledging of ordinary things: vivid in that the physicist audibly posits them for recognized reasons, whereas the hypothesis of ordinary things is shrouded in prehistory.

— Willard Van Orman Quine (1960)

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Referenzen

  1. Zum Überblick vgl. Kraft, V. (1950), S. 147 ff. Manifeste des “Physikalismus” stellen einige von Neuraths Aufsätzen dar, insbesondere Neurath (1931 a-d).

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  2. “Ob ein bestimmtes Haus abbrennen wird, kann man nur wissen, wenn man das Verhalten der Baubestandteile, das Verhalten der Menschengruppe, die vielleicht zum Löschen herbeieilt mit in Rechnung stellen kann.” (Neurath, 1931 c), S. 299. Siehe auch Neurath (1931 c), S. 395. Damit ist die unifikationisti-sche Position umschrieben: Da alles mit allem wechselwirken kann, ist es unbefriedigend, wenn Wissenschaften beziehungslos nebeneinanderstehen.

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  3. Vgl. z.B. Carnap (1931), S. 462.

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  4. Vgl. Carnap (1928), S. 1, 4, 47.

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  5. Vgl. Carnap (1928), S. 93. Als Grundbegriffe des Konstitutionssystems sollen die durch “Grundrelationen” verknüpften Grundelemente (“Elementarerlebnisse”) fungieren (Carnap (1928), S. 105 ff.). An dieser eigenpsychischen Basis, die in noch radikalerer Form auch von Schlick zugrundegelegt wird (z.B. Schlick (1934 b), S. 91), hält Carnap bis 1931 fest (vgl. Carnap (1931), S. 438).

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  6. Carnap (1931), S. 438.

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  7. Vgl. Neurath (1932/33), S. 209. Zur Protokollsatzdiskussion vgl. Carnap (1931), Neurath (1932/33) und Carnaps Entgegnung (1932/33), in der er von der eigenpsychischen zur intersubjektiven Basis “konvertiert”, sowie Popper (1935), S. 60-76. Schlick hingegen hielt immer an der Unbezweifelbarkeit von “Beobachtungssätzen” und somit an der Korrespondenztheorie der Wahrheit fest (Schlick (1934 b), z.B. S. 91, 98). Neuraths Position ist unstimmig, da er als vehementer Verfechter einer Kohärenztheorie der Wahrheit eigentlich keine Gründe für die besondere Auszeichnung von Wahrnehmungs-bzw. Beobachtungsaussagen angeben kann (vgl. hierzu Kap. 3).

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  8. So schreibt zwar Neurath (1931 c), S. 302 ff.: “Die ‘Einheitswissenschaft’ auf dem Boden des ‘Physikalismus’ kennt nur Aussagen mit räumlich-zeitlichen Bestimmungen”, während er an anderer Stelle “die Art wie Physik betrieben wird, offen läßt, wesentlich ist, daß sie nur auf eine Art betrieben wird” (1931 a), S. 425; vgl. auch Neurath (1931 b), S. 398 und Carnap (1931), S. 442.

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  9. Vgl. auch Quine (1960), S. 22 und Quine (1964), S. 18-19.

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  10. Dies ist Quines berühmte These von der Unbestimmtheit der Übersetzung einer Sprache in eine andere (“indeterminacy of translation”); vgl. Quine (1960), S. 27 ff. Quine ist der Auffassung, die Unbe-stimmtheitsthese gehe über die These von der Unterbestimmtheit der Theorie hinaus und lasse sich nicht aus ihr ableiten. Diese Auffassung wurde schon von Chomsky heftig angegriffen; eine fundierte Kritik ist in Rorty (1979), S. 216 ff. nachzulesen.

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  11. “empiricists today generally agree that certain criteria previously proposed were too narrow; for example, the requirement that all theoretical terms should be definable on the basis of those of the observation language and that all theoretical sentences should be translatable into those of the observation language … the rules connecting the two languages (…‘rules of correspondence’) can give only a partial interpretation for the theoretical language.” Carnap (1956), S. 39; vgl. auch S. 38 (Trennung Theoriesprache — Beobachtungssprache) und S. 47 (Korrespondenzregeln).

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  12. Carnap (1956), S. 74 scheint noch davon überzeugt zu sein, daß die Übersetzbarkeit einer Theorie T’ in eine andere Theorie T eine notwendige Voraussetzung für die Erklärbarkeit von T’ durch T darstellt. Nagel (1961), S. 354 hingegen fordert nur eine “Verknüpfbarkeit” (vgl. Kap. 1.2).

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  13. Vgl. hierzu vor allem Oppenheim and Putnam (1958).

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  14. Vgl. auch Nagel (1979 c). Nagel betont, daß es nur um die logische Reduktion von Aussagen (“statements”) nicht um die Reduktion von Eigenschaften (“properties”, “natures”) gehen kann, denn “the ‘natures’ of things, and in particular of the ‘elementary constituents’ of things, are not accessible to direct inspection and … we cannot read off by simple inspection what it is they do or do not imply. Such ‘natures’ must be stated as a theory …” (1961), S. 364. Wenn im folgenden also von der Reduzierbarkeit von Eigenschaften oder Prozessen auf andere die Rede sein sollte, so ist das stets als Abkürzung dafür zu verstehen, daß Aussagen über jene Eigenschaften aus Aussagen über diese anderen logisch abgeleitet werden können.

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  15. Wären in der Verknüpfungsregel nur bikonditionale Verknüpfungen erlaubt, alle Begriffe von T’ also in Begriffe von T übersetzbar, so wäre die Ableitbarkeit automatisch mit der Verknüpfbarkeit gegeben. Läßt man aber implikative Verknüpfungen zu, so muß Ableitbarkeit als zusätzliche Bedingung eingeführt werden (vgl. Nagel (1961), S. 355).

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  16. Oppenheim and Putnam (1958), S. 5.

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  17. Vgl. hierzu Oppenheim and Putnam (1958): “Unity of science as a working hypothesis”.

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  18. Feyerabend (1962), S. 46 ff. Die folgenden Beispiele finden sich im gleichen Aufsatz auf den Seiten 46 ff. (Galilei — Newton) und 53 ff. (Aristoteles — Newton). Nagel (1979 c), S. 109 f. kritisiert Feyerabends Gleichsetzung von Inkonsistenz und Inkommensurabilität. Sind zwei Theorien nicht vergleichbar, so können sie sich nicht widersprechen, sie können daher nicht inkonsistent sein.

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  19. Als Beispiele für gleichlautende aber inkommensurable Begriffe führt Feyerabend (1962) die völlig verschiedenen Bedeutungen an, die dem Begriff “Temperatur” in Thermodynamik und statistischer Mechanik (S. 76 ff.) bzw. dem Begriff “Masse” in der klassischen und relativistischen Physik (S. 80 f.) zukommt.

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  20. Feyerabend (1962), S. 64.

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  21. Kuhn (1962), S. 123 ff.

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  22. Vgl. hierzu Kuhn (1962), insb. 158 ff., wo er von der “Inkommensurabilität der vor-und nachrevolutio-nären normal-wissenschaftlichen Traditionen” spricht und Feyerabends (1975) “anarchistische” Kritik an der rationalistischen Methodologie (S. 141 ff., 171 ff.).

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  23. Nagel (1979 c), S. 111 ff. zieht sich auf diese Position zurück.

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  24. Diese sprachholistische (theorienholistische) These, auch als “Duhem-Quine-These” bezeichnet (Lakatos (1970), S. 184; vgl. auch Stegmüller (1985), S. 266), wird in Quines Schriften näher begründet; vgl. insbesondere Quine (1951), S. 41 ff., (1960), S. 22 ff., (1964), S. 18 f. Die Duhem-Quine-These hängt eng mit der These der Unterbestimmtheit aller Theorie durch die Erfahrung zusammen (s.o.), stellt aber zusätzlich in Rechnung, daß alle sprachlichen Aussagen kontextuell aufeinander bezogen sind.

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  25. Theoretische Größen der Theorie T, deren Messung die Gültigkeit derselben Theorie T voraussetzen, werden als T-theoretische Größen bezeichnet (Sneed, zit.n. Stegmüller (1985), S. 481; vgl. auch Balzer et al. (1987), S. 74). Ließe man in der Beobachtungssprache von T zwar solche Begriffe zu, die von anderen Theorien als T abhängen, nicht aber T-theoretische Begriffe, so ergäbe sich als paradoxe Konsequenz, daß verschiedenen Theorien jeweils verschiedene Beobachtungssprachen entsprächen. Dieser Absurdität kann man nur entgehen, wenn man auch T-theoretische Begriffe in der Beobachtungssprache zuläßt. Damit ist aber die strenge Trennung zwischen Beobachtungssprache und theoretischer Sprache aufgehoben.

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  26. Vgl. hierzu beispielsweise Popper (1976), S. 69 ff., Hempel (1966), S. 82, Kuhn (1962), S. 125 ff.: “Was ein Mensch sieht, hängt sowohl davon ab, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuellbegriffliche Erfahrung gelehrt hat.” Siehe auch Kuhn (1962), S. 141.

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  27. “Wenn auch die Welt mit dem Wechsel eines Paradigmas nicht wechselt, so arbeitet doch der Wissenschaftler danach in einer anderen Welt … Der Wissenschaftler, der sich ein neues Paradigma zu eigen macht, ist weniger ein Interpret, als daß er einem gleicht der Umkehrlinsen trägt. Er steht derselben Konstellation von Objekten gegenüber wie vorher, und obwohl er das weiß, findet er sie doch in vielen ihrer Einzelheiten durch und durch umgewandelt.” Kuhn (1962), S. 133/134.

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  28. Wir verwenden natürlich unsere Umgangssprache, wenn wir Beobachtungen ausdrücken wollen. In diesem Sinne ist die Umgangssprache die gemeinsame “Beobachtungssprache” für verschiedene Theorien. Eine solche “Beobachtungssprache” kann aber theoretische und sogar T-theoretische Begriffe enthalten. Feyerabend (1962) impliziert mit den dort angeführten Beispielen, daß alle “Beobach-tungsbegriffe” T-theoretische Begriffe sind — was zur Folge hätte, daß es für verschiedene Theorien keine gemeinsame “Beobachtungssprache” (besser: Vergleichssprache) gäbe. Diese Voraussetzung ist unhaltbar (siehe Haupttext), sie steht nicht im Einklang mit unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Praxis (vgl. auch Nagel (1979 c), S. 111). Gibt es eine gemeinsame Umgangssprache als Vergleichshorizont für verschiedene Theorien, so kann man T-theoretische Begriffe auf folgende Weise aus dieser Sprache eliminieren: in jeder Aussage lassen sich die T-theoretischen Begriffe durch eine Variable ersetzen, der ein Existenzquantor vorangestellt ist. Auf diese Weise kann man eine vollständig in der “Umgangssprache” formulierbare, empirisch gleichwertige Aussage erhalten, über deren inter subjektive Akzeptierbarkeit man sich dann umgangssprachlich einigen kann (alle quantitativen Angaben bleiben z.B. von dieser Transformation unangetastet!). Das ist die sogenannte “Ramsey-Lösung” des Problems der theoretischen Begriffe. Das umgangssprachlich reformulierte Äquivalent einer theoretischen Aussage wird als “Ramsey-Substitut” bezeichnet. Vgl. hierzu Carnap (1966), S. 246 ff. und Stegmüller (1985) sowie (1987), S. 485 ff.

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  29. “Revolutionen enden mit einem vollkommenen Sieg eines der beiden gegnerischen Lager. Würde diese Gruppe jemals sagen, das Ergebnis ihres Sieges sei etwas geringeres gewesen als Fortschritt?” Kuhn (1962), S. 178; vgl. auch Kuhn (1962), S. 155 ff. Folgt man der neueren konstruktivistischen Wissenschaftstheorie (s.u.), so besteht der Fortschritt der Wissenschaft in dem, was Wissenschaftler für fortschrittlich halten. Da sich mit dem Fortschritt der Wissenschaften auch die Kriterien für Fortschrittlichkeit ändern, definiert gemachter Fortschritt künftigen Fortschritt (“Fortschrittsrelativität von Fortschrittlichkeit”).

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  30. Feyerabend (1978, S. 164 ff.) lehnt Kuhns “Phasenmodell” wissenschaftlicher Entwicklung ab. Was Kuhn auf die seltenen Episoden wissenschaftlicher Revolutionen beschränkt sieht, ist für Feyerabend be-ständiges Charakteristikum wissenschaftlichen Vorgehens: die Konfrontation von Theorien mit radikal anders strukturierten Alternativen.

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  31. Insofern möchte ich Feyerabends (1975) Aufruf zu einer, wie er sagt, “anarchistischen” Wissen-schaftstheorie beipflichten: “To those who look at the rich material provided by history, and who are not intent on impoverishing it in order to please their lower instincts, their craving for intellectual security in the form of clarity, precision, “objectivity”, “truth”, it will become clear that there is only one principle that can be defended under all circumstances and in all stages of human development. It is the principle: anything goes.” (S. 28). Der extreme Konventionalismus Feyerabends (“anything goes”) macht allerdings Theorien zum Spielball dezisionistischer Beliebigkeit und übersieht dabei, daß “Konvention” in einem weiten Sinn bzw. “Konsens” in der Wissenschaft in den seltensten Fällen durch willkürliche Festlegungen (“Konvention per Dezision”) erzielt wird, in den meisten Fällen hingegen als Akzeptanz praktiziert wird (“Konvention per Akzeptanz”), wobei Akzeptierbarkeit nicht beliebig ist, sondern durch bereits akzeptierte Aussagen bzw. Theorien eingeschränkt wird. Ich stimme aber seiner These zu, daß es nicht Aufgabe von Wissenschaftstheorie sein kann, solche Akzeptanzkriterien festzulegen. Soweit nur als kurzer Vorgriff auf die ausführlichere Diskussion dieses Themas in Kap. 3, wo auch auf die Auseinandersetzung um den Wahrheitsbegriff zwischen “Korrespondenztheorie” und “Kohärenz-” bzw. “Konsenstheorie” eingegangen wird. Popper (1935) teilt die konventionalistische Auffassung in Bezug auf singuläre Beobachtungssätze (“Basissätze”) (S. 73), glaubt aber, in seinem Falsifikationskriterium ein nicht-konventionalistisches Rationalitätskriterium für allgemeine Gesetze und Theorien gefunden zu haben (S. 74). Diese Position ist un-haltbar, da Falsifikation ebensowenig wie Verifikation eindeutig erfolgen kann; die “Falsifikation” einer Theorie hängt ja gerade von der “Verifikation” von Basissätzen ab. Jede Theorie läßt sich aber so modifi-zieren, daß sie wieder mit akzeptierten (“verifizierten”) Basissätzen in Einklang steht. Ein allgemeines rationales Kriterium dafür, wann eine Theorie als “falsch” erwiesen ist, läßt sich nicht angeben: Theorien sind ebensowenig immun gegen die “Duhem-Quine-These” wie “Basissätze”. Damit fallen auch Poppers Vorstellungen von einer allmählichen Wahrheitsannäherung und seine Konzeption von “Wahrheits-ähnlichkeit” (“verisimilitude”) — z.B. in Popper (1963), 231 ff sowie Popper (1935), S. 428 ff. (Anhang XV von 1981) — in sich zusammen. Popper weist der Wissenschaftstheorie noch eine Rolle als Hüter methodisch korrekter Wahrheitsapproximation zu: “I think that my theory of testability or corroboration by empirical tests is the proper methodological counterpart to this new metalogical idea [of verisimilitude].” Popper (1963), S. 235, vgl. auch Popper (1963), S. 240 ff. und Albert (1968), S. 35.

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  32. Vgl. etwa Knorr-Cetina (1984), Krohn und Küppers (1989). Viele Einsichten der modernen empirischen Wissenschaftsforschung wurden von Fleck (1935), lange Zeit wenig beachtet, vorweggenommen, dessen Betrachtung von Wissenschaft stark empirisch orientiert ist (in seinem Buch (1935) untersucht er Wissenschaft ausführlich am Beispiel der Forschungen an der Wassermann-Reaktion zur Diagnose der Syphilis) und zu konstruktivistischen Schlußfolgerungen kommt; vgl. z.B. seine Kapitelüberschrift “Wie aus falschen Voraussetzungen und unreproduzierbaren ersten Versuchen eine wahre Erkenntnis entsteht.” (S. 71). Der Konstruktivismus der empirischen Wissenschaftsforschung darf trotz einiger Parallelen nicht mit der konstruktiven Wisssenschaftstheorie der Erlanger Schule verwechselt werden, die in transzendentalphilosophischen Vorstellungen gefangen bleibt und Wissenschaftstheorie als apriorische Fundamentaldisziplin entwirft, als “Unternehmen, das die Begründung aller Wissenschaften zum Ziel hat.” (Lorenzen und Schwemmer (1973), S. 14; vgl. auch Kamlah und Lorenzen (1967), S. 15 und zum Überblick Kirchgässner (1989)).

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  33. Die Unterscheidung stammt in dieser Form von Reichenbach (1938), S. 6 f. und 382 ff., wird aber schon von Popper (1935), S. 6 f. sinngemäß vorgenommen.

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  34. “Betrachten wir … den Prozeß der Wissensproduktion in genügendem Detail, so stellt sich unter anderem heraus, daß Wissenschaftler ihre Entscheidungen und Selektionen ständig auf die vermutliche Reaktion bestimmter Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde, die als “Validierende” in Frage kommen, beziehen, …” Knorr-Cetina (1984), S. 29. Die Frage nach der Geltung wissenschaftlicher Aussagen stellt sich also zunächst als Frage nach der wissenschaftsintemen intersubjektiven Akzeptierbarkeit und weist nur indirekt — via gesellschaftliche Akzeptanz von Wissenschaft — über die Grenzen der Wissenschaft hinaus (vgl. hierzu auch Krohn und Küppers (1989), S. 109 ff.).

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  35. Diese Vorstellungen gehen auf Oppenheim and Putnams (1958) Darstellung der “reductive levels” zu-rück (S. 9). Jeder dieser Ebenen kann eine eigene Wissenschaft mit eigener Begrifflichkeit (einem eigenen “universe of discourse”) zugeordnet werden. Jede niedrigere Ebene ist ein “potential micro-reducer” der höheren Ebene, d.h. alle Gegenstände der höheren Ebene bestehen ausschließlich aus Konstituenten, die zu den Gegenständen der niedrigeren Ebene gehören (S. 6). Eine genaue Untersuchung der hierarchischen Ordnung der Gegenstandsbereiche werde ich in Kap. 6 aus systemtheoretischer Perspektive vornehmen.

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  36. Diese Annahme wird im 2. Kap. einer gründlichen Kritik unterzogen werden.

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  37. “Starke Reduzierbarkeit” (Stegmüller, 1985, S. 144 ff.).

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  38. Vgl. hierzu Oppenheim und Putnams (1958) Reduktionsbegriff, der viel weniger verlangt als Nagels: “Any observational data explainable by T2 are explainable by T1.” (S. 5). Zum Unterschied zwischen “makrologischem” und “mikrologischem” Vergleich siehe Stegmüller (1986), S. 306. Unter Anwendung von Sneeds strukturalistischem Theorienkonzept, in dem eine Theorie als Prädikat konstruiert ist, die eine Menge von umgangssprachlich formulierbaren “Modellen” festlegt (vgl. Stegmüller, 1987, S. 468 ff.), ist eine Theorie T’ auf T dann “schwach” reduzierbar, wenn — etwas vereinfacht formuliert — alle Ramsey-Substitute (vgl. Fußnote 28) von Modellen von T’, sich so durch T-theoretische Begriffe ergänzen lassen, daß sie zu Modellen von T werden. Mit anderen Worten: Vergleichbarkeit beider Theorien besteht nur auf der Ebene ihrer umgangssprachlich formulierbaren Konsequenzen, nicht auf theoretischer Ebene. Nur wenn es eine Regel gibt, welche die Modelle von T’ direkt auf Modelle von T abbildet, Vergleichbarkeit also auf theoretischer Ebene besteht, spricht Stegmüller von “starker Reduktion”. Diese entspricht in etwa Nagels Vorstellungen. Eine exakte formale Darstellung von schwacher und starker Reduktion findet sich in Stegmüller (1985), S. 144 ff. Vgl. auch Balzer et al. (1987), S. 275 ff. Zur Konstruktion intertheoretischer Relationen (“Bänder”) im strukturalistischen Ansatz vgl. Stegmüller (1986), S. 269 ff.

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  39. Deshalb muß eine Theorie T’, die von einer anderen Theorie T im Sinne Kuhns oder Feyerabends verdrängt wird, zwar weder auf T “stark” reduzierbar noch zu T kommensurabel sein; sie sollte aber “schwach” auf T reduzierbar sein, sofern sie nicht einige der von T’ erklärten Phänomene unerklärt lassen will (Stegmüller (1986), S. 134).

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  40. Oppenheim and Putnam (1958), S. 8 wollen lieber von einer “working hypothesis” sprechen, die durch ihre Simplizität und mannigfache empirische Bewährung ausgezeichnet ist.

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  41. In Mayr and Weinberg (1988). Dies ist Weinbergs Replik auf Mayr (ibid., S. 475): “It is my contention that advances in our understanding of the microworld of subatomic particles are not going to make any explanatory contributions to our understanding of the middle world.”

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  42. Die Forderung nach einem Pluralismus von Theorien findet sich beispielsweise bei Popper (1984), S. 307. Siehe auch Feyerabend (1975), z.B. S. 30, Primas (1985), S. 118 f. und Habermas (1973) in Habermas (1968), S. 393.

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  43. Vgl. Beckner (1974), S. 69.

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  44. Dieser Ausdruck stammt von Putnam; zit.n. Stegmüller (1987), S. 241.

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  45. Denkt man an Feyerabends ursprüngliche These, daß Theorien nicht reduziert werden können, weil sie inkommensurabel sind, so mutet es fast paradox an, daß nach diesen Überlegungen Theorien ver-schiedener Gegenstandsbereiche schwach aufeinander reduzierbar sein können, ohne daß sich ihre “Kommensurabilität” feststellen läßt. Aus diesem Grund kann ich Roth und Schwegler (1990) und (in Vorber.) nicht zustimmen, die eine Einheit der Beschreibung in verschiedenen Wissenschaften zwar für möglich halten, nicht aber eine Einheit von Erklärung.

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  46. Solche Gesetze werde ich “konfigurationale Gesetze” nennen. Der Grund dafür wird erst nach der Lektüre von Kap. 4 verständlich: Diese Gesetze gelten nur für spezifische Konfigurationen von Elementarprozessen und lassen sich nicht aus einem unter allen Bedingungen geltenden Kausalgesetz ableiten. Schrödinger (1944), S. 118 ff. faßte etwa die Möglichkeit ins Auge, daß in Lebewesen physikalische Gesetzmäßigkeiten “am Werke” sein könnten, die der bisherigen Physik aus der unbelebten Natur nicht bekannt sind.

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  47. Der nichtreduktionistische Physikalismus (“non-reductionist physicalism”) von Roth und Schwegler (1990), S. 42 und (in Vorber.) entspricht in etwa meiner Konzeption eines starken Unifikationismus.

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  48. Dabei handelt es sich wie bei den “Gesetzesknotenbegriffen” (s.o.) um unscharf umgrenzte, “polytypische” Begriffe (Beckner, 1967 a, S. 313), die nicht exakt definiert werden können.

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Schlosser, G. (1993). Reduktion und Unifikation wissenschaftlicher Theorien. In: Einheit der Welt und Einheitswissenschaft. Wissenschaftstheorie Wissenschaft und Philosophie, vol 37. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90910-7_2

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