Zusammenfassung
Jeder, der das, was die Griechen φαυτασίαι nennen — wir könnten ‘visiones’ (Phantasiebilder) dafür sagen —, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinung gut erfaßt hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein. Manche nennen den ∈ÚφαυτασίωτОς (phantasievoll), der sich Dinge, Stimmen und Vorgänge am wirklichkeitsgetreuesten (secundum verum optime) vorstellen kann, und das kann uns, wenn wir wollen, leicht gelingen. Umgeben uns doch schon in Zeiten der Muße, wenn wir unerfüllten Hoffnungen nachhängen und gleichsam am hellen Tage träumen, solche Phantasiebilder so lebhaft, als ob wir auf Reisen wären, zu Schiffe führen, in der Schlacht ständen, zum Volke redeten oder über Reichtümer, die wir nicht besitzen, verfügten, und das alles nicht nur in Gedanken, sondern wirklich täten. Sollen wir aus dieser Schwäche nicht einen geistigen Gewinn machen? (Hoc animi vitium ad utilitatem non transferemus?) Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist (quae in re praesenti accidisse credibile est), vor Augen haben? Wird nicht plötzlich der Mörder hervorbrechen? Nicht das Opfer voll Angst aufschrecken? Wird es schreien, bitten oder fliehen? Werde ich nicht den Schlag fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein Stöhnen und schließlich sein letzter Todesseufzer meinem Herzen tief einprägen?
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Literatur
Quintilian, Institutio oratoria,Kap. VI. 2, 29–32.
Vgl. das Motto des Einleitungsbeitrags, oben, S. 9.
Wolfgang Iser wäre auf seinem Weg von den anthropologischen Kategorien des Fiktiven und des Imaginären zu ihrer Gestaltung in der Literatur (vgl. Das Fiktive und das Imaginäre) vielleicht mit weniger als 500 Seiten ausgekommen, wenn er die rhetorischen Theorien der,Phantasien` anstelle der einen oder anderen Theorie der Phantasie berücksichtigt hätte.
Weitere Bestimmungen von ‘enargeia’ und verwandten Begriffen bei Quintilian: Institutio oratoria,Kap. IV. 2, 63–65; VIII. 3, 61–71 (dort auch, 61, eine überraschende Formulierung, wonach die ‘evidentia’ oder ‘repraesentatio’ „sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt“), VIII. 3, 89 u. IX. 2, 4044. - Vgl. dazu und zum Kontext, insb. auch zur Unterscheidung von ‘enargeia’ und ‘energeia’, Art. Evidentia, Evidenz,in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik,hg. v. Gert Ueding, Darmstadt 1992 ff, Bd. III, Sp. 33–47, insb. 39–45.
Quintilian, Institutio oratoria,Kap. IV. 2, 64 - ‘pro ommatoon poiein’ (vor Augen führen) ist ein anderer, hier nicht ausdrücklich verwendeter, aber in der Beschreibung der Verfahren ins Spiel gebrachte Terminus für die ‘evidentia’.
Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie,in: Werke und Briefe in zwölf Bänden,hg. von W. Barrer u.a., Frankfurt a. M., Bd. 5/2, 1990, S. 113, vgl. a. die dortige Anm. 1, S. 113 f.
A.a.O., S. 103.
Aristoteles, Rhetorik,übers. u. hg. von Franz G. Sieveke, München 1980, S. 16 (Kap. I. 2, 12).
Vgl. neben dem “secundum verum optime” des Eingangszitat a. Institutio oratoria,Kap. IV. 2, 64 (“quid veri”, ebenfalls im Rahmen einer Bestimmung der ‘enargeiâ).
Vgl. Todorov, Introduction,S. 46 (dt. Ausgabe S. 40).
Die Rhetorik einer „Gefährdung“ oder „Bedrohung” des Phantastischen durchzieht Todorovs Introduction
Sigmund Freud, „Das Unheimliche “. In: Studienausgabe,hg. von A. Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1969–79, Bd. IV, S. 241–274, hier: 266 (Hv. von mir [R. St.]).
Denn offensichtlich gebraucht Todorov die beiden Wörter nicht im Lacanschen Sinne.
Todorov, Introduction,S. 176 f: “Le xix siècle vivait, il est vrai, dans une métaphysique du réel et de imaginaire, et la littérature fantastique n’est rien d’autre que la mauvaise conscience de ce xix siècle positiviste. Mais aujourd’hui, on ne peut plus croire à une réalité immuable, exteme, ni à une littérature qui ne serait que la transcription de cette réalité.” (dt. Ausgabe S. 150; Übersetzung leicht modifiziert).
A[rthur] S[tanley] Eddington, Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung,Braunschweig 1931, S. 334.
Walter Benjamin, Briefe,hg. von G. Scholem/Th. W. Adorno, Frankfurt a. M. 1978, Bd. II, S. 762 (Hv. dort).
Quintilian erlaubt sich dabei die selbstreflexive Pointe, unter die Beispiele solcher Tagträume auch die Vorstellung zu rechnen, „als ob […] wir zum Volke redeten“, zählt also die Situation, in der wir ein Laster in einen Gewinn transformieren, selbst zu den Situationen, die unser lasterhaftes Phantasieren sich ausmalt.
Beide Zitate: Freud, „Der Dichter und das Phantasieren“, S. 176.
A.a.O., S. 175.
Vgl. dazu Vietta, Literarische Phantasie,S. 13.
Alle Zitate: Sigmund Freud, „Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose“, in: Studienausgabe,a.a.O., Bd. III, S. 355–361, hier: 360 f (Hv. dort).
Vg1. Todorov, Introduction,S. 113–164, insb. 156 (dt. Ausgabe S. 97–139, insb. 132 f) und dazu Brittnacher, im vorliegenden Band, S. 46.
Freud, „Realitätsverlust“, a.a.O., S. 359.
Freud ist dieser Sachverhalt bewusst, wenn er sich in seiner Schreber-Analyse ausführlich dafür rechtfertigt, ausnahmsweise einen Fall zu untersuchen, der ihm nicht aus der eigenen Praxis, sondem nur aus der Lektüre bekannt ist (vgl. Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia [Dementia paranoides]“, in: Studienausgabe,a.a.O., Bd. VII, S. 139 f) - eine Freud-Ausgabe, die nach behandlungstechnischen (also durchaus psychoanalytisch adäquaten) Kriterien geordnet wäre, müsste diese Fallstudie in enge Nachbarschaft zu seinen Literatur-Interpretationen rücken.
Alle Zitate: Freud, „Der Dichter und das Phantasieren“, S. 179.
Breton, “Second Manifeste”, S. 90 („la recréation d’un état qui n’ait plus rien à envier à l’aliénation mentale” - die Übersetzung „die Wiederherstellung eines Zustandes, welcher dem Wahnsinn in nichts nachsteht“ ist zu frei).
Shoshana Felman, Writing and Madness (Literature/Philosophy/Psychoanalysis),Ithaca/New York 1985, S. 252 (Hv. dort: „a madness that speaks,a madness that is acted out in language, but whose role no speaking subject can assume“).
Musil, Mann ohne Eigenschaften,S. 69. (Zitate daraus werden im folgenden durch bloße Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text belegt).
Damit dürfte sich Musil übrigens einen kleinen Anachronismus geleistet haben, da die Begeisterung der Irrenhausdirektoren für die ästhetische Produktivität ihrer Insassen sich erst in den 20er Jahren herausbildete.
Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, S. 35.
Vgl. den Aufsatz von Berthold Leibinger, in: Heckmann/Dette (Hg.), Phantasie als Leistung,S. 41–53.
Lévi-Strauss, a.a.O., S. 32 u. 30.
Schulz, Die Zimtläden,S. 39 („Traktat über die Mannequins“).
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,in: Adorno, Gesammelte Schriften,Frankfurt a. M., Bd. 3, 1981, S. 14 u. 15 f.
A.a.O., S. 10.
Hier in der Reihenfolge der ersten vier Kapitel von Brittnacher, Ästhetik des Horrors (während die künstlichen Menschen seines fünften Kapitels einer anderen historischen Logik folgen, da ihre Verfertigung erst im Labor des modemen Ingenieurs optimiert wird).
Franz Kafka, „Unglücklichsein“, in: Drucke zu Lebzeiten,S. 38 f.
Vg1. Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken,hg. von Samuel M. Weber, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973, S. 101 u.ö.
Vg1. Hans Richard Brittnacher, „Vom Zauber des Schreckens. Phantastik und Fantasy in den siebziger und achtziger Jahren“, in: Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre. Autoren — Tendenzen — Gattungen, hg. von Walter Delabar/Erhard Schütz, Darmstadt 1997, S. 13–37.
Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979), Frankfurt a. M. 1996, S. 685–689.
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Stockhammer, R. (2000). „Phantastische Genauigkeit“: Status und Verfahren der literarischen Phantasie im 20. Jahrhundert. In: Bauer, G., Stockhammer, R. (eds) Möglichkeitssinn. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90722-6_2
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