Die Krise des ostdeutschen Tarifsystems: eine empirische Bestandsaufnahme

Zusammenfassung

Im vorangegangenen Abschnitt II ging es um die historische Entwicklung, die Funktions- und Bestandsbedingungen des deutschen Tarifvertragsystems sowie die Ursachen seiner bundesweit wahrnehmbaren Krise in Form erodierender betrieblicher Tarifbindung. Besonders ausgeprägt ist diese Krise in Ostdeutschland, einem Terrain, das zweifellos einen ‘Spezialfall’ des bundesdeutschen Institutionensystems darstellt. Das Ziel der schnellen gesellschaftlichen Angleichung vor Augen wurde das duale System industrieller Beziehungen im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung 1:1 nach Ostdeutschland übertragen. Doch, „so wie alles bleiben sollte, wie wir es kannten, so veränderte sich alles bis zur Unkenntlichkeit“ schrieb Claus Offe 1998 in Bezug auf das Schicksal des deutschen Wohlfahrtsstaats in Ostdeutschland — eine Feststellung, die ebenso im Bereich industrieller Beziehungen Geltung beanspruchen kann. Die im Zuge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gewählte konservafive Variante des Institutionentransfers setzte ironischerweise einen radikalen institutionellen Wandlungsprozess in Gang. Die implementierten Institutionen entwickelten sich auf ostdeutschem Terrain angesichts spezifisch anderer Rahmenbedingungen in ungeplanter und oft defizitärer Weise. Die folgende Analyse hat zum einen das Ziel, das ostdeutschen Tarifsystems in seiner Besonderheit als ‘Transformationsergebnis’ zu analysieren. Zum anderen erlaubt der ostdeutsche Fall als ‘gültiger Fall der Institutionenpraxis’ auch verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen bezüglich des deutschen dualen Systems industrieller Beziehungen und der Kontextabhängigkeit institutioneller Strukturen.