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Erziehungssoziologische Implikationen des Frommschen Kulturalismus

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Erich Fromm
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Zusammenfassung

Fromm ist in der neueren Kritischen Theorie und Erziehungswissenschaft, im Vergleich zu anderen Theoretikern wie Adorno, Horkheimer und Habermas, bislang nur wenig rezipiert worden. Das mag daran liegen, daß er seine geistige Heimat weder in der vom Kulturpessimismus infizierten Kritischen Theorie noch in der von Positivismen durchdrungenen Praxis des etablierten Wissenschaftsbetriebs finden konnte und folglich in der für die akademische Wissensrezeption indifferenten Randzone verblieb. Sein Werk enthält jedoch, wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, fruchtbare Ansätze für eine kritische und praktische Erziehungstheorie, die über die „Negative Pädagogik“ (vgl. Gruschka, 1988, S. 32ff.), wie sie von Ausführungen Adornos und Horkheimers angeregt wurde, weit hinausgeht.

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Anmerkungen zu Kapitel III

  1. Das Werk von Karl Mannheim — darin dem von Fromm vergleichbar — enthält stets implizit oder explizit eine Erziehungstheorie (vgl. Wulf Preising, 1973, S. 7; zur zusammenfassenden Charakterisierung des Mannheimschen Ansatzes mit Augenmerk auf die Beziehung zwischen Soziologie und Empirie, Soziologie und Pädagogik vgl. ebd., S. 9). Die von Mannheim vertretene Soziologie verstand sich nicht als eine auf Positivismus oder Empirismus reduzierte Soziologie und verbarrikadierte sich nicht diesseits der wissenschaftlichen Wertneutralität. Verschiedentlich hat Mannheim die disziplinäre Überspezialisierung und Neutralität in der Wissenschaft und ihren akademischen Lehrmethoden kritisiert: „Weder demokratische Toleranz noch wissenschaftliche Objektivität verlangen, daß wir für unsere Überzeugungen nicht eintreten oder die Diskussion der letzten Werte und Ziele vermeiden sollten“ (Mannheim [1943], 1951, S. 96). Mannheim hat stets eine engagierte Wissenschaftlichkeit vertreten; schon die Erkenntnis ist kein distanzierter Akt des Denkens, sondern erweist sich als mitweltlich in Erlebnisstrukturen und Handlungsvollzüge eingebunden. Im Falle der Soziologie der Erziehung lehnte er eine akademisch begrenzte Untersuchung ab: „Unsere Untersuchung der sozialen Fundamente der Erziehung darf nicht rein akademisch bleiben, indem wir Fakten um ihrer selbst willen aufhäufen. Wir möchten etwas ganz Bestimmtes wissen. Wir suchen nach etwas, das wir bei unserem Forschen niemals aus den Augen verlieren sollten. Wir wollen unsere Zeit verstehen, die prekäre Lage dieses Zeitalters und das, was eine gesunde Erziehung zu einer Regeneration der Gesellschaft und des Menschen beisteuern kann....“ (Mannheim/Stewart, S. 183).

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  2. Klaus Hurreimann begründet seine interdisziplinär angelegte Sozialisationstheorie als Theorie des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurreimann, 1983; Hurreimann u.a., 1986). Sozialisation wird gefaßt als „Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ (Hurrelmann/Geulen, 1980, S. 51). Die erziehungssoziologisch relevante Frage ist, „wie der Prozeß der Vergesellschaftung und der Prozeß der Individuation miteinander verwoben und verschränkt sind“ (Hurreimann u.a., 1986, S. 91). Daran wird deutlich, daß der Sozialisationsprozeß nicht im mechanistischen Sinne als ein bloßer Prägeprozeß verkannt wird, sondern das aktiv auf Sozialisation reagierende, mithin Vorstellungen der eigenen Individualität ausbildende Subjekt zentral berücksichtigt wird. Der Ansatz von Klaus Hur-relmann verschiebt den Fokus auf das seine Realität produktiv verarbeitende Subjekt. Dieses Subjekt wird als gesellschaftsdeterminiert beschrieben, insofern die produktiv realitätsverarbeitenden Aktivitäten des Subjekts ein Pendant in sozialen Strukturen finden müssen. Akzeptiert man das Hurrelmannsche Konzept mit seiner Fokussierung der „Persönlichkeit“, dann ist der forschungs- und handlungspragmatische Hinweis geboten, „produktive Realitätsverarbeitung“ unterstützende Strukturen in den alltäglichen Handlungs- und Sozia-lisationsfeldern zu identifizieren. Dabei ist zu beachten: Es ist nicht lediglich das produktive Subjekt, sondern ebenso die institutionelle Basis für Intersubjektivität in den Blick zu nehmen. Das Subjekt verarbeitet Realität nicht gesellschaftsfern, sondern immer in der dialektischen Verschränkung der Grundprozesse von Vergesellschaftung und Individuierung. Das heißt, die Vorstellung der „Produktivität“ kann nicht als subjektives Vermögen gefaßt werden, sondern ist als in der Intersubjektivität liegend zu begründen bzw. zu rekonstruieren. Die Frage der Zurechenbarkeit von „Produktivität“ kann soziologisch nur gelöst werden, wenn die sozialstrukturellen und intersubjektiven Bedingungszusammenhänge einbezogen werden, die diese produktive Realitätsverarbeitung ermöglichen oder zumindest nicht verhindern. Das Modell der „produktiv realitätsverarbeitenden Persönlichkeit“ läßt sich nicht bewußt-seins- oder subjekttheoretisch begründen, sondern nur im Rahmen einer Theorie der Intersubjektivität, d.h. interaktions- und handlungstheoretisch fundieren. Mit diesen Hinweisen auf die Hurrelmannsche Theorie ist ein breiter sozialisations- und erziehungssoziologischer Rahmen benannt, der auch als Rezeptionsbasis für die Frommsche Erziehungstheorie fungieren kann. Nimmt man Hurreimanns Kritik der psychoanalytischen Sozialisationstheorie (vgl. Hurreimann, 1986, S. 28f.) hinzu, so liegt die Vermutung nahe, daß die Erziehungssoziologie und Sozialisationsforschung von den Frommschen Überlegungen sehr wohl profitieren kann. — Der diesbezügliche detaillierte Nachweis muß jedoch weiteren Arbeiten vorbehalten bleiben.

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  3. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll der Begriff der Produktivität hier bereits kurz erläutert werden. Fromm versteht unter „Produktivität“ nicht — wie üblich — die wirtschaflliche Produktivität, sondern die menschliche Produktivität im Sinne des „produktiven Ideals“; somit bezeichnet Produktivität die inventiven, kreativen Kräfte des Menschen. — Zum Stellenwert des „produktiven Ideals“ in der Frommschen Sozialpsychologie siehe: Bierhoff, 1992.

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  4. Mein besonderer Dank gilt hier Rainer Funk, mit dem ich das Frommsche Theorem des Gesellschafts-Charakters diskutiert habe und auf dessen Briefe (vom 21.7.1989, 25.7.1989, 5.9.1989 und 30.9.1989) ich mich hier beziehe. Mit den folgenden Bemerkungen beanspruche ich nicht, die Position von Funk, der in erster Linie sozialpsychologisch argumentiert, differenziert referiert zu haben. Ich bin jedoch der Auffassung, daß die von mir entwickelte Sichtweise der soziologischen Dimension des Frommschen Denkens angemessener ist (vgl. Kap. III.4, S. 144ff.).

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  5. Teils findet sich eine implizite Anknüpfung bei Oskar Negt, der das Prinzip des exemplarischen Lernens für die Analyse und Restitution des Arbeiterbewußtseins praktisch erschlossen und den proletarischen Lebenszusammenhang, Formen von aufkeimender Gegenöffentlichkeit sowie das lebendige Arbeitsvermögen untersucht hat (Negt, 1971; Negt/Kluge, 1972; dies., 1981). Die Anknüpfung an die frühe Kritische Theorie wird bei Negt dort deutlich, wo er das Programm der Kritischen Theorie dahingehend interpretiert, es komme darauf an zu untersuchen, wie kritische Denkweise in die Handlungsmotivationen der Individuen eingehen kann (vgl. Negt, 1974). Der Rrommsche Beitrag wird von Negt nicht berücksichtigt, auch kommt der Psychoanalyse kein so hervorgehobener Stellenwert zu wie in dem interdisziplinär-materialistischen Ansatz Kritischer Theorie.

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  6. Von den vorliegenden Arbeiten seien hier insbesondere genannt: Claußen, 1985; Friesenhahn, 1985; Herrmann, 1978; Kritische Theorie und Pädagogik der Gegenwart, 1987; Witschel, 1973. Die Ansätze von Adorno und Horkheimer sind gelegentlich auf ihre erziehungswissenschaftliche Relevanz hin untersucht worden (vgl. etwa: Herrmann, 1978; Witschel, 1973), jedoch wurden bislang Realanalysen zur Erziehung und Sozialisation seitens der Kritischen Theorie und der auf ihr gründenden Erziehungstheorie kaum durchgeführt. Das kritische Erkenntnisinteresse ist in einzelne, wenngleich übergeordnete Fragestellungen (Mündigkeit, Emanzipation) eingegangen, hat aber auch zu systematischen Versuchen geführt, die Kritische Theorie für die Reflexion, Initiierung und methodisch-didaktische Planung politischer Aufklärungsprozesse fruchtbar zu machen (vgl. Claußen, 1985). Wenngleich in vielen Ansätzen ein kritischer Anspruch vertreten wird, beziehen sie sich doch nicht immer stringent auf die Kritische Theorie von Horkheimer bis Habermas, sondern beruhen oftmals auf einem (im übrigen berechtigten, dem Gegenstandsbereich wie auch der wissenschaftlichen Konstitution der Pädagogik angemessenen) multiperspektivischen Vorgehen, das darin besteht, Elemente verschiedener Herkunft nach Maßgabe der Bedingungen des pädagogischen Handlungsfeldes unter ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zu subsumieren.

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  7. Soweit ich sehe, gibt es nirgends in der Pädagogik eine ideologiekritische Thematisierung des Menschenbildes der hier gemeinten Art, die nämlich darin besteht, ausdrücklich darauf zu insistieren, daß man nicht durch eine Phänomenologie des menschlichen Wesens zu einem ideologiekritischen Menschenbild gelangen kann, sondern nur durch eine Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse das aufzudecken vermag, was zuvor als das Wesen des Menschen, als allgemeine Menschennatur, ausgegeben wurde (vgl. Sève, 19732, S. 66). So ist das in der Pädagogik hypostasierte Menschenbild oftmals in doppelter Hinsicht ideologieverdächtig: es entbehrt — aus der Perspektive Fromms gesehen — gleichermaßen des materialistischen Gesellschaftsbezugs wie der soziopsychoanalytische Selbstthematisierung. Im Zusammenhang mit Bildsamkeit etwa ist in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nie die Frage gestellt worden, welches die soziopsychoanalytischen Prozesse sind, die Bildsamkeit als Ausdruck der produktiven menschlichen Möglichkeiten von der repressiven oder mani-pulativen Erzwingung spezifischer „Tilgenden“ und „Leistungen“ unterscheiden. Der hier in der Pädagogik übliche Rekurs auf den Willen und die Zustimmung des Heranwachsenden stellt aus psychoanalytischer Perspektive kein ausreichendes Kriterium bereit. Der Begriff der Bildsamkeit erscheint so bar jeder gesellschaftskritischen, psychoanalytischen und sozialcharakterologischen Reflexivität. Es geht also — kurz gesagt — in die pädagogische Reflexion nicht ein, daß die Zustimmung auf der Ebene der kulturellen Indoktrination im Sinne der Vermittlung kultureller Selbstverständlichkeiten eine schon erzwungene ist.

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  8. Das in der orthodoxen triebtheoretisch orientierten Psychoanalyse gegebene Bild von der „unsozialen“ Menschennatur stellt einen Rückschritt hinter den Stand der erziehungssoziologischen Diskussion dar, wie er bereits in den 20er und 30er Jahren gegeben war. Die Bestimmung des Menschen als „soziales Wesen“ verbietet es zudem, Individuum und Ge-Seilschaft als einen Gegensatz zu fassen. So machte Theodor Geiger in seinem Aufsatz über „Erziehung als Gegenstand der Soziologie“ ([1930] 1974, S. 104) deutlich: „Es gehört zum unverlierbaren Bestand gegenwärtigen Erziehungsdenkens, daß die Gesellschaft nicht nur, wie die idealistische Philosophie gemeint hat, sittliche Bestimmung des Menschen sei, sondern daß von Anfang an Sozialität eine Abmessung im Anlagegut des kindlichen Menschen ist. Wir erziehen also nicht mehr fiir die Gesellschaft, vielleicht nicht einmal durch sie, sondern in Vergesellschaftung. Im Kinde ist die Neigung, ja die konstitutionelle Notwendigkeit zu gesellschaftlichem Sein vor aller erzieherischen Einwirkung angelegt...“ (Geiger [1930], 1974, S. 104).

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  9. Stellvertretend für in den Problemkreis „Gesellschaft und Erziehung“ einführende erziehungssoziologische Arbeiten sei hier genannt: Henecka, 1980.

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  10. Gerade das Bild des „Prägestempels“ ist mehrfach dahingehend in Frage gestellt worden, ob es überhaupt soziologisch zutreffend sei. Dies wird hier bejaht. Um im Bild zu bleiben: der Prägestempel trifft ja das Äußere (die sichtbare Konformität des Verhaltens, das nach Maßgabe gesellschaftlicher Funktionserfordernisse notwendig und erwünscht ist). Was innerlich durch die Einflüsse der Gesellschaft geschieht, ist damit noch nicht sichtbar und entschieden. Zwar ist auch das Innere (die Psyche, die Triebstruktur, die Charakterorganisation) gesellschaftlich — dem erwarteten Verhalten entsprechend — geformt, doch läßt sich das konforme Verhalten nicht bruchlos in die Innerlichkeit zurückverlängern. Konrad Pfaffs These vom „unbewußten Anarchisten“ (Pfaff, 1981, S. 20ff.) — Frommschen Ausführungen nicht unverwandt — läßt sich so verstehen, daß viele Menschen unbewußt ein Potential an Rebellion in sich tragen, dieses aber aufgrund innerer und äußerer Kontrolle nicht ausdrücken und ausleben, sondern innerhalb der Schranken dieser Kontrolle verbleiben. Bedürfniskomponenten, die Rebellion und Selbstrealisierung in sich tragen, haben sich noch nicht aus der Ambivalenz in die Entscheidung verschoben, gleichwohl können sie als ein — wenn auch zunächst latent bleibendes — Potential an Veränderung betrachtet werden. Geht auch — nach Herbert Marcuse — die gesellschaftliche Prägung bis tief in die Triebstruktur der Menschen, so gebietet doch ein Kernbereich der Psyche dem repressiven Zugriff Einhalt und beinhaltet das energetische Potential der „Großen Weigerung“ (Marcuse). Um nochmals das Bild des Prägestempels zu bemühen und im Kontext der symbolisch-interaktionistischen Sozialisationstheorie zu verwenden: das, was vom Selbst des Menschen vom Prägestempel getroffen wird, ist das „me“; das „I“ bleibt jedoch im Kern diesem Einfluß mehr oder weniger entzogen.

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  11. Diese ordnungstheoretische Sichtweise ist der auf sozialen Wandel gerichteten untergeordnet. So formuliert Fromm, den Prämissen des radikalen Humanismus folgend, die Hypothese, daß dem „Wandel der menschlichen Charakterstruktur“ Vorrang zukommt: „Wenn die Voraussetzung richtig ist, daß uns nur ein fundamentaler Wandel der menschlichen Charakterstruktur, ein Zurückdrängen der Orientierung am Haben zugunsten der am Sein, vor einer psychischen und ökonomischen Katastrophe retten kann, so stellt sich die Frage: Sind tiefgreifende charakterologische Veränderungen möglich, und wie kann man sie herbeiführen?“ (1976a, GA 2, S. 389). Vgl. auch seine Ausführungen zur partiellen Funktionsbestimmung des Gesellschafts-Charakters als „Sprengstoff“ der Gesellschaftsordnung (1932a, GA 1, S. 57; 1949c, GA 1, S. 211; 1976a, GA 2, S. 364).

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  12. Mit Fromm läßt sich dieses System auch charakterologisch beschreiben. Bei dieser Beschreibung wird vorausgesetzt, daß die eigenen Charakterorientierungen dem Individuum ja nicht bewußt sein müssen. Im Charaktersystem sind die „verinnerlichten Muster“ als generative Strukturen, die eine verläßliche Wirklichkeitssicht erzeugen und angepaßte Handlungen nach sich ziehen, kodiert. Die individuellen Charakterstrukturen sind — wie auch der Habitus — als geronnene lebensgeschichtliche Praxis zu verstehen (vgl. Preuß, 1975, S. 46).

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  13. Vgl. hierzu: Bourdieu/Passeron (1973, S. 91): „Die Soziologie der Erziehung gibt sich ihren eigenen Gegenstand, wenn sie sich als Wissenschaft von den Beziehungen zwischen der kulturellen Reproduktion und der sozialen Reproduktion konstituiert, d.h. wenn sie sich bemüht, den Beitrag festzustellen, den das Unterrichtssystem zur Reproduktion der Struktur der Kräfteverhältnisse und der symbolischen Verhältnisse zwischen den Klassen leistet, indem es an der Reproduktion der Struktur der Verteilung des kulturellen Kapitals unter diesen Klassen mitwirkt. Die Wissenschaft der Reproduktion der Strukturen, die verstanden werden als ein System der objektiven Beziehungen, die den Individuen, vor und nach denen sie existieren, ihre relationeilen Eigenschaften verleihen, hat nichts mit der analytischen Registrierung der Beziehungen gemein, die sich innerhalb einer bestimmten Population herstellen, handele es sich nun um die Beziehungen zwischen dem Schulerfolg der Kinder und der sozialen Stellung ihrer Familie oder um die Beziehungen zwischen den Stellungen, welche die Kinder und die Eltern einnehmen:...“ (Bourdieu/Passeron, 1973, S. 91).

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  14. H.-G. Rolff zitiert hier Fromm (Der moderne Mensch und seine Zukunft, Frankfurt/M. 1960, S. 70). Dieses Zitat sei hier nach der autorisierten Übersetzung in der Gesamtausgabe wiedergegeben: „Wir müssen zwischen den Faktoren, die für die speziellen Inhalte des Gesellschafts-Charakters verantwortlich sind, und den Methoden, durch die der Gesellschafts-Charakter gebildet wird, unterscheiden. Man darf annehmen, daß die Gesellschaftsstruktur und die Funktion des Individuums in der Gesellschaftsstruktur den Inhalt des Gesellschafts-Charakters bestimmen. Andererseits kann man die Familie als die psychische Agentur der Gesellschaft, als die Institution ansehen, deren Funktion es ist, die Erfordernisse der Gesellschaft dem heranwachsenden Kind zu übermitteln“ (1955a, GA 4, S. 61f.).

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  15. Rainer Funk neigt zu der begründeten Auffassung, Fromm habe das in der Soziologie verbreitete Verständnis von Gesellschaft nicht geteilt: „Für Fromm gibt es die Gesellschaft als solche nicht...“ (Brief v. 25.7.1989). Jedoch läßt sich m.E. aus dem Gesamtwerk Fromms keine eindeutige Antwort entnehmen. Zwar findet die Auffassung Funks insofern Bestätigung, als Fromm immer vom Menschen her denkt, doch hat er darüber die Existenz der gesellschaftlichen „Megamaschine“ (L. Mumford, 1980) nicht ignoriert, die ja gerade bedeutet, daß wenig lebensdienliche systemische Strukturen in Widerspruch zu den menschlichen Bedürfnissen nach Orientierung und Wirkmächtigkeit geraten. Bei all seinen Thematisierungen gesellschaftlicher Strukturen betrachtete Fromm diese nicht als vom Menschen abgelöste, sondern mit seinen Charakterstrukturen verwobene. Funk verweist auf Fromms Aufsatz Psychoanalyse und Soziologie (1929a, GA 1). In diesem plädiert Fromm dafür, als den Gegenstand der Soziologie „nicht eine abstrakte Gesellschaft als solche“ (ebd., S. 3) anzunehmen. Als Beleg führt Funk das folgende Zitat an: „... daß der Mensch in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen System lebt, charakterisiert durch seine spezifischen Produktionskräfte, Produktionsverhältnisse, Klassenverhältnisse etc.’Gesellschaft’ hat also die von Marx zum ersten Mal klar gesehene Bedeutung“ (1970d/1977g, GA 8, S. 250). Die mit diesen Ausführungen und Zitaten verdeutlichte Position halte ich sachlich für sinnvoll und richtig. Ich meine jedoch: Die von Fromm hier oder andernorts gebrauchten Begriffe wie Gesellschaftsstruktur, Produktionsverhältnisse etc. lassen sich nicht als konkrete Beschreibungen menschlicher Beziehungen verstehen, sondern als Strukturbeschreibungen: sie beschreiben eine Realitätsebene („Gesellschaft“), die im Zusammenwirken der Menschen — und von diesem Zusammenwirken untrennbar — entsteht: Gesellschaft als eine bedingte Realität, die in ihren Makrostrukturen unabhängig von menschlichen Beziehungen thematisiert werden kann. Damit scheint mir der Frommsche Ansatz zutreffend beschrieben zu sein. Fromm erhebt Gesellschaft nicht in den Rang eines „Subjekts“, billigt ihr jedoch eine gewisse „Eigenlogik“ zu: „Ich möchte damit nicht behaupten, daß eine Gesellschaft denke oder sonst irgend etwas tue, doch hat ein soziales System seine eigene Logik und Dynamik und setzt zu seinem Funktionieren eine bestimmte Art des Verhaltens und Fühlens voraus“ (u1956, S. 16; deutsch: 1992a, S. 107).

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  16. Rainer Funk ist der Ansicht, daß diese Frage das Frommsche Konzept verfehlt, weil es ja gerade Fromms Verdienst sei, diese Ansätze in eine Kombination gebracht zu haben (Brief v. 5.9.1989). Folgt man dieser Deutung, dann kann es sich bei diesen Gesetzen jedoch nicht um psychologische, soziologische etc. handeln, sondern nur um Gesetze einer Wissenschaft vom Menschen (wobei das Problem des Verhältnisses von Soziologie und Psychologie bestehen bliebe).

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  17. Diese anthropologische These von den in der „Natur“ des Menschen verankerten Widerstandskräften, die auch gegen das „übersozialisierte Menschenbild“ formuliert wird, ist keineswegs allein auf Fromm beschränkt, sondern war bereits in der frühen Erziehungssoziologie formuliert. So machte Theodor Geiger die — wie er sagt — „Tatsache“ deutlich, „daß dem Individuum Eigenständigkeit und schöpferische Kraft innewohnt, daß also eine bis zum Gruppenkretinismus restlos durchgesetzte soziale Uniformierung nicht statthaben kann. (Wir alle sind ja vieles, vielleicht das Beste dessen, was wir sind, nicht durch unsere Erziehung, sondern in Abwehr gegen sie geworden.)“ (Geiger [1930], 1974, S. 95). Das läßt sich im Kontext Frommscher Argumentation so verstehen: Der Gesellschafts-Charakter als eine Form oder Schablone — Durkheim sprach sehr treffend vom „Prägestempel“ — kann die völlige „soziale Uniformierung“ nicht garantieren, denn er repräsentiert keine erschöpfende Beschreibung der Sozialisations- und Erziehungsprozesse. Das in der „Natur“ des Menschen liegende Potential von „Eigenständigkeit und schöpferischer Kraft“ — so Geiger — erweist sich Uniformierungstendenzen gegenüber als widerständig.

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  18. M.E. vertritt Fromm die Ansicht, daß jede Gesellschaft dem Menschen Verletzungen zufügt, ihn mithin verkrüppelt — doch je nach Gesellschaft mehr oder weniger (vgl. die folgenden Zitate aus: 1965c, GA 5, S. 402ff.; Hervorhebungen von B.B.). „Der Gesellschafts-Charakter ist die Form, in welche die menschliche Energie gebracht wird, um sie als Produktivkraft im Gesellschaftsprozeß benutzen zu können“ (1965c, GA 5, S. 402). „Der Begriff des Gesellschafts-Charakters kann erklären, wieso die menschliche Energie von einer Gesellschaft genau wie jeder andere Rohstoff für die Bedürfnisse und Zwecke dieser Gesellschaft genutzt wird. Tatsächlich ist der Mensch eine der formbarsten Naturkräfte:...“ (ebd., S. 404). „... daß der Mensch das Problem seiner Existenz nur durch die volle Entfaltung der ihm eigenen Kräfte lösen kann. Je mehr eine Gesellschaft den Menschen verkrüppelt, umso kränker wird er, selbst wenn er auf einer bewußten Ebene mit seinem Schicksal zufrieden ist. Unbewußt jedoch ist er unzufrieden, und eben diese Unzufriedenheit macht ihn schließlich bereit, die ihn verkrüppelnde Gesellschaftsform zu ändern. Gelingt ihm dies nicht, dann stirbt diese spezifische Form von pathogener Gesellschaft aus. Gesellschaftliche Veränderungen und Revolutionen werden nicht nur durch neue Produktivkräfte hervorgerufen, die mit älteren Formen der gesellschaftlichen Organisation in Konflikt geraten, sondern auch durch den Konflikt zwischen unmenschlichen gesellschaftlichen Zuständen und unveränderlichen fortbestehenden menschlichen Bedürfnissen....“ (ebd., S. 404).

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  19. Mir scheint es sich bei diesem Kriterium nur um eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Produktivität zu handeln. Der zerebral reduzierte Mensch — so wie Fromm ihn versteht — kann sehr wohl effektiv und ohne Reibungsverluste z.B. bei technokratischen Planungsprozessen sein, er ließe sich aber kaum als produktiv beschreiben.

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  20. Die folgenden Ausführungen sind durch eine Diskussion mit Rainer Funk über den „Gesellschafts-Charakter“ angeregt worden. Meinungsverschiedenheiten, die sich in der Diskussion als fruchtbar erwiesen haben, blieben bestehen. Es handelt sich also bei den Überlegungen zur Frage, ob der Gesellschafts-Charakter „produktiv“ sein bzw. ob es produktive Gesellschafts-Charakterorientierungen geben kann, um keine Verteidigung des Frommschen Ansatzes, sondern um die Diskussion desselben.

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  21. Hier läßt sich auf die 6. Feuerbachthese verweisen: „... das menschliche Wesen ist... das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx/Engels, MEW, Bd. 3, S. 6).

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  22. Zur „Natur“ des Menschen betont Fromm immer wieder: „Die menschliche’Natur’ betrachte ich nicht als eine bestimmte unveränderliche Substanz, die als solche beobachtbar wäre, sondern als einen Widerspruch...“ (1970d u. 1977g, GA 8, S. 244). „All unser Wissen vom Menschen beruht auf den bisherigen Erfahrungen des Menschen und ist deshalb fragwürdig und unvollständig. Welche noch ungeahnten Möglichkeiten dem Menschen innewohnen, können wir nicht wissen. Das’Menschen-Mögliche’ ist unbekannt und kann sich erst im geschichtlichen Prozeß manifestieren. Deshalb ist der Mensch letztlich undefinierbar und unbeschreibbar...“ (ebd., S. 247).

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  23. Diese Kritik verstärkt Maccoby am Ende seines Aufsatzes: „Fromms produktiver Charakter enthält keine Beschreibung der positiven Züge des in der heutigen Welt existierenden Gesellschafts-Charakters. Sein abstraktes religiös-mystisches Ideal kann den Blick für die produktive Entwicklung dieser Charakterzüge trüben. Zu beschreiben wären die sich entwickelnden positiven Charakterzüge mit den ihnen gemäßen Mitteln, in Begriffen ihrer Haltungen, ihrer Sprache und Erfahrung, sowie in Beziehung zur Technologie und Organisation unserer Zeit“ (Maccoby, 1982, S. 81f.; eigene Übersetzung).

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  24. Maccoby über Fromm: „Seine Unterstützung radikaler Reform ist ebenso klar wie seine Anprangerung menschlicher Ausbeutung und des Militarismus. Das Problem liegt darin, daß Produktivität mit implizit widersprüchlichen Typen konfundiert wird: mit individualistischen Künstlern, autokratischen Zen-Meistern etc. Diese Modell führt m.E. eher zu Es-kapismus als zu den von Fromm unterstützten Zielen. Natürlich gehören Elemente der produktiven Orientierung — Liebe, Biophilie, Selbstbesinnung — zum Ziel einer jeden humanistischen Religion und Philosophie. Wir brauchen Fromm nicht, damit er uns darüber etwas mitteilt. Die Frage ist, was Fromm uns über die religiöse Mahnung hinaus, Vertrauen zu haben, anbietet“ (Brief v. 14.3.1989; eigene Übersetzung).

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  25. Eine auf Disziplingrenzen bedachte Soziologie, die sich der Selbstreflexion gegenüber verschließt, erweist sich schon bei dem Versuch einer Diskussion des Problems einer gesell-schaftstranszendierenden Produktivität als insuffizient. Mindestens muß die wissenschaftliche Rationalität sich die Anfragen von A.W. Gouldner gefallen lassen, der in seiner Reflexiven Soziologie die „Hintergrundannahmen“ aufzudecken bestrebt ist, die die soziologische Erkenntnis leiten, und deren Affinitäten zu den von ihm so bezeichneten „erlaubten“ und „unerlaubten Welten“. In seinem Entwurf einer reflexiven — und zugleich „moralischen“-Soziologie sieht Gouldner die existentielle Bedeutungsdimension des Wissens („Bewußtheit vom eigenen Selbst“) untrennbar verknüpft mit der Erkenntnis der sozialen Welt. Das Ideal der produktiven Persönlichkeit gehört zu den von Fromm explizit formulierten Hintergrundannahmen, die im Sinne Gouldners den meisten Schulsoziologen als den „unerlaubten Welten“ zugehörig erscheinen, da sie einen Maßstab der Kritik an dem Mächtigen beinhalten und die Forderung der Wertfreiheit konterkarieren.

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  26. Sein aus dem Nachlaß publizierter Band (1989a) gibt Anregungen für Schritte vom Haben zum Sein. Die Zurückhaltung Fromms, dieses Manuskript als ein Kapitel von Haben oder Sein zu publizieren, zeigt, daß Fromm nicht mißverstanden werden wollte als ein Erfolgsautor, der einem solchen Eskapismus den Weg bahnen könnte. Im Gegenteil ging es Fromm immer um eine Desillusionierung und Kritik. Die von ihm vorgeschlagene Selbstanalyse und transtherapeutische Analyse machen dies deutlich; doch sind seine Ausführungen nicht davor gefeit, als eine popularistische Abkürzung zum befreiten Sein mißverstanden zu werden.

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  27. Vgl. die problemerschließende Studie von Kempe/Kempe (1980); zum emotionalen Miß-brauch vgl. auch: Helm Stierlin (1978), Richter (1969).

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  28. Zur Selbstdarstellung und Kritik der Antipädagogik siehe etwa: Bittner, 1980; v. Braunmühl, 1975;Deneke, 1982; Lehmann/Oelkers, 1981; Miller, 1979ff., Oelkers, 1983; v. Schoenebeck, 1985; Weiler, 1987; Winkler, 1982, 1985.

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  29. Vgl. die von Katharina Rutschky herausgegebene Arbeit über Schwarze Pädagogik (1977), die nachweist, was Kindern im Namen von Erziehung angetan wurde und wird.

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  30. Zur Kritik der antipädagogischen Konzeption vgl. auch Helmut Wehr, der die Übernahme der Rousseauschen Sichtweise der „guten“ Natur des Kindes durch die Antipädagogen kritisiert. Es sei zuwenig, die kindlichen Impulse zum alleinigen Maßstab erzieherischer Kommunikation zu machen. „Der überbetonte Autonomieanspruch des Kindes idealisiert es und vernachlässigt die von Fromm u.a. betonte Gesellschaftlichkeit des Menschen. Deshalb verstellt die Antipädagogik dem schon immer bezogenen kindlichen Subjekt, das auf liebende Zuwendung und strukturierende Autorität angewiesen ist, die Möglichkeit ein selbsttätiges Subjekt und gleichzeitig sozialisiertes, gesellschaftsfähiges Individuum zu sein, bzw. zu werden“ (Wehr, 1987, S. 146). Diese m.E. zutreffende Kritik basiert auf der Frommschen Unterscheidung von rationaler und irrationaler Autorität (vgl. ebd., S. 145). Alice Miller macht eindringlich deutlich, daß ihre antipädagogische Haltung sich „gegen Erziehung überhaupt“ wende (Miller, 1980, S. 118). Diese Haltung beruhe auf „Erfahrungen“ (vgl. ebd., S. 119ff.) und habe „mit dem Rousseauschen Optimismus über die menschliche’Natur’ nichts gemeinsam“ (ebd., S. 118). „Erstens sehe ich das Kind nicht in einer abstrakten’Natur’ aufwachsen, sondern in einer konkreten Umgebung seiner Bezugspersonen, deren Unbewußtes einen wesentlichen Einfluß auf seine Entwicklung ausübt. Zweitens ist Rousseau’s Pädagogik im tiefsten Sinne manipulatorisch....“ (ebd.). Dennoch kommt in ihren Ausführungen ein Optimismus bezüglich der menschlichen Natur zum Ausdruck, der das Kind idealisiert. Damit zusammenhängend wird eine Gesellschaftsblindheit sichtbar, die dazu führt, die Kategorie des Unbewußten einseitig zu psychologisieren und das Kind mit seinen Bezugspersonen aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herauszunehmen. Schließlich nimmt sie in bezug auf Erziehung einen pessimistischen Standpunkt ein, insofern es für sie keine humane Erziehung geben kann.

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  31. Im Sinne des „soziologischen Denkens“ von C.W. Mills geht es darum aufzuweisen, wie die psychische Struktur mit der Sozialstruktur verknüpft ist. „Soziologisches Denkvermögen erlaubt uns, Geschichte und persönlichen Lebenslauf und ihre Verbindungen in der Gesellschaft zu erfassen“ (Mills, 1973, S. 38). Mills unterscheidet lebensgeschichtliche Ereignisse nach der Zurechenbarkeit auf das Individuum („persönliche Schwierigkeiten“; ebd., S. 41) oder die Sozialstruktur („allgemeine Sachverhalte einer Sozialstruktur“; ebd.).

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  32. Der Begriff „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. Unter einem Trauma läßt sich der Prozeß (mitsamt seinen Folgen) einer plötzlichen, körperlich oder seelisch schädigenden Gewalteinwirkung verstehen. Traumatisch sind die Folgen eines überwältigenden, erschreckenden oder lähmenden Ereignisses, das die Verarbeitungsmöglichkeiten des Kindes überfordert. Zum einen gibt es einmalige traumatische Situationen, zum anderen eine gewohnheitsmäßige Wiederholung von belastenden Situationen. Beides führt zu psychischen Störungen und Auffälligkeiten.

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  33. Fromm hat bereits 1937 festgestellt, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der inzestuösen Wünsche von Kindern bereits eine Reaktion auf sexuelle Stimulierung durch die Eltern sei (1992a, S. 40). Die Fälle, „in denen Eltern bewußt und manifest sich sexuell ihren Kindern nähern und in der einen oder anderen Form verführen“, sei „bei weitem nicht so selten, wie das gewöhnlich geglaubt wird“ (ebd.). „Die Tatsache, daß sich in Eltern sexuelle Wünsche mit Bezug auf die Kinder entwickeln, ist... in der gesellschaftlichen Situation begründet, nämlich in der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen relativen sexuellen Unbefriedigtheit der meisten Menschen“ (ebd.). Der Ödipuskomplex resultiere aus der „spezifischen Struktur der bürgerlichen Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd., S. 41f.). Die später von Fromm geäußerten und plausibel gemachten Verdachtsmomente, Freud habe aufgrund seiner patriarchalischen Haltung und auf persönlichen Druck hin — und zudem sachlich unbegründet — die Verführungstheorie wieder verworfen, ja schließlich sogar entschieden bekämpft (vgl. Fromm, 1966k, GA 8, S. 145; 1970d/1977g, GA 8, S. 240f.; 1991a, S. 56f.), finden sich in der Schrift von Jeffrey Masson voll bestätigt (vgl. Masson, 1986, S. 129ff.). Masson hat die Entstehung der Psychoanalyse anhand von Archivmaterial detailliert untersucht. Nach neueren Forschungen, insbesondere von Marianne Krüll (1979) und Jeffrey Masson (1986), konnte Freud aus sozialen und persönlichen Gründen seine Entdeckung nicht aufrechterhalten, da er von sozialer Ächtung bedroht war und es diese Falle von sexueller Verführung wahrscheinlich auch in seiner eigenen Familie gab. Freud hatte sich zwar nie völlig von der Traumatheorie getrennt, weil es offenbar immer Fälle gab, bei denen in der Analyse erzählte Erlebnisse, insbesondere von Patientinnen, auf real geschehene Verführungen zurückgingen. In seiner Revision der Traumatheorie, die ihn schließlich zur Triebtheorie führte, meinte Freud, den spezifischen Einfluß der Phantasietätigkeit entdeckt zu haben. Das heißt: Frauen haben die in ihrer Kindheit geschehenen Verführungen nicht wirklich erlebt, sondern sie sich gewünscht, was Freud als Ausdruck des ödipalen Konflikts deutete, eines Konflikts, in dem die Rivalität des Kindes dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber in Erscheinung tritt.

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  34. Unter Trieb läßt sich abgekürzt folgendes verstehen: Es handelt sich um ein Antriebsgeschehen, das unabhängig vom Bewußtsein in Gang kommt, jedoch durch Phantasien in Richtung und Stärke beeinflußt werden kann und auf Reduzierung bzw. Befriedigung der als Drang erlebten Triebspannung gerichtet ist (vgl. ausführlich: Laplanche/Pontalis, 1973, S. 525ff.).

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  35. Zur psychoanalytischen Begrifflichkeit des „wahren“ und „falschen Selbst“ vgl. insbesondere: H. Kohut, 1979; R.D. Laing, 1976 und 1977; D.W. Winnicott, 1974.

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  36. Obwohl Geiger die Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit beider Disziplinen, der Soziologie und der Pädagogik, betont, gesteht er eine Identität der Auffassung von Erziehung in beiden Wissenschaften zu: „Die autonome Pädagogik wehrt sich dagegen, eine bloße Kunstlehre dafür zu sein, wie ein ihr von außen her vorgegebenes Ziel am Menschen verwirklicht werden solle. Sie wagt die Behauptung, der pädagogische Vorgang sei eigener Sonderart, trage in sich seine Gesetzlichkeit, die zu erforschen ihr allein aufgegeben sei. Es ist, wenn ich recht verstehe, der Gedanke der Bildsamkeit, der sich einerseits (passiv) als Entfaltungsfähigkeit des Menschen, andererseits (aktiv) als Gestaltungsdrang des Menschen darstellt. Während alle andern Wissenschaften diese beiden Funktionen notwendig auseinanderreißen, sieht eigentlich pädagogisches Denken (nach Ansicht der Autonomisten) die beiden Funktionen in einem einzigen Prozeß unlösbar miteinander verschmolzen. Damit bricht sowohl die Brücke zum pädagogischen Objektivismus (Kulturwert-Pädagogik) als auch zum pädagogischen Subjektivismus (Expressionismus und Naturalismus) ab. Nach des Verfassers Überzeugung besteht hier eine unbedingte Übereinstimmung mit der Auffassung von der Erziehung, wie die erfahrungswissenschaftliche Soziologie diese Erscheinung sehen muß“ (Geiger [1930], 1974, S. 91).

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  37. Dies ist jedoch nicht im Sinne einer strikten Aufgabenteilung gemeint. Geiger merkt kritisch an: „Wie heute der Soziologe sich hütet, Prophezeiungen künftiger Gesellschaftsentwicklung in die Welt zu senden, so kann auch der autonome Pädagoge einsehen, daß ihm nicht zusteht, den Büttel und Kerkermeister einer heute errichteten Gesellschaftsform zu spielen, noch auch als göttliche Vorsehung in der Gesellschaftsgeschichte aufzutreten, indem er sein Wunschbild der Zukunft als’das Erziehungsziel’ propagiert. Er legt die gesellschaftliche Sendung des Erziehungsvorgangs zugrunde. Sie lautet: Vergesellschaftungsdrang und Drang zur Eigentätigkeit liebend fördern“ (Geiger, a.a.O., S. 96). Diese „Sendung“ basiert nicht auf einem Wunschbild, sondern auf der Vorstellung der Bildsamkeit und der erfahrungswissenschaftlichen Einsicht in die gesellschaftliche Determiniertheit und Funktion von Erziehung. Wie F. Jonas über Theodor Geiger als einem der bedeutenden „Vertreter einer humanistisch engagierten Soziologie“ sagt, verbindet sich in seinem Werk „das Bestreben, soziale Zusammenhänge als Faktizitäten ohne Einmischung metaphysischer Vorstellungen zu untersuchen, mit einem dezidierten Bekenntnis zu einer humanistischen Werthaltung“ (Jonas, 1976, Bd. 2, S 249). Geiger geht es immer darum, „einen bestimmten Wert, zuletzt den des intellektuellen Humanismus, zur Grundlage und zum Bezugspunkt seiner soziologischen Arbeiten zu machen“ (ebd.).

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  38. Die derzeitigen Grenzen einer Kooperation zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft lassen sich auch in wissenschaftshistorischer und -soziologischer Perspektive aufzeigen. So stellt W. Brinkmann zum Verhältnis von Soziologie und Pädagogik die folgende Diagnose, die ihren Ausgang daran nimmt, daß sich beide Disziplinen — statt interdisziplinäre Kooperation zu pflegen — überwiegend in Konkurrenz, Abschottung und Ausgrenzung zueinander verhalten: „Das heißt: Es ist neben dem Interesse an’reiner’ wissenschaftlicher Erkenntnis auch ein Interesse an der Abgrenzung des eigenen Fachs, an der Sicherung von Reputation und Prestige, von Macht und Herrschaft, von Finanzquellen, Definitionsmonopolen usf. im akademischen Spiel.... Jenseits aller programmatischen Beteuerungen scheint... de facto noch immer zu gelten: Soziologie der Erziehung ist in Deutschland Soziologie und nichts als Soziologie, ein thematisch spezialisiertes und differenziertes Expertenwissen der soziologischen Profession, die ihre definitorische Herrschaftsposition und ihre etikettierende Macht sorgfaltig hütet.... Von den Soziologen wird auch kontrolliert, wer im einzelnen als’Erziehungssoziologe’ und was konkret als Soziologie der Erziehung gelten darf.... Damit wird die’Soziologie der Erziehung’ soziologisch annektiert und vereinnahmt, und das vielversprechende Programm einer disziplinübergreifenden,’integralen’ Systematik wird unterlaufen und konterkariert von emer intradisziplinären Selbstbehauptung und Selbstbeschränkung. Die Kommunikation und Kooperation zwischen Soziologie und Pädagogik — den beiden konstitutiven Säulen der Soziologie der Erziehung — wird nachhaltig behindert, und die Vergewisserung der historischen Identität des Faches wird, einäugig, erheblich beeinträchtigt“ (Brinkmann, 1986, S. 25f.).

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  39. Karl Mannheim sah bekanntlich in seiner Zeitdiagnose, in der er auch die gesellschaftliche Funktion der Soziologie erörterte, den Mangel an Bewußtheit als den „Mangel einer umfassenden soziologischen Orientierung“. Bewußtheit war für ihn kein bloßes Wissen, sondern eine „Geisteshaltung“, deren Verhinderung er als abhängig auch von unbewußter Angst betrachtete. „Unter’Bewußtheit’ (Gewahrwerden) verstehe ich nicht die bloße Ansammlung verstandesmäßig erfaßten Wissens. Bewußtheit bedeutet im Leben des Einzelnen sowohl wie in jenem der Gesamtheit die Bereitschaft, die eigene Lage als eine Ganzheit zu sehen und seine Handlungen nicht nur mit unmittelbaren Aufgaben und Zielen in Einklang zu bringen, sondern sich auf einen weiten Horizont einzustellen....“(Mannheim [1943], 1951, S. 89f.). Diese und ähnliche Stellungnahmen Mannheims zur Aufgabe und Bedeutung des soziologischen Denkens lassen sich aus seiner erkenntnistheoretischen Position ableiten, derzufolge „die Gefährdung der Objektivität“schon bei der „Gegenstandskonstitution“einsetzt (Mannheim, 1964, S. 601). Das bloße Postulat der Wertfreiheit mache sich die Sache folglich zu leicht. Auch hat Mannheim — auf der Grundlage seiner Unterscheidung von Ideologie und Utopie — das auf Zukunft gerichtete verstehend-entwerfende Denken nicht pauschal als unwissenschaftlich verworfen. Trotz aller Differenzen, die sich zwischen Fromm und Mannheim herausarbeiten ließen, sind mit diesen kurzen Hinweisen doch einige entscheidende Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten hypothetisch identifiziert, die zudem für das wissenschaftliche Selbstverständnis der Erziehungssoziologie und ihrer gesellschaftlichen Funktionen und Aufgaben relevante Themen bilden.

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Anmerkungen zur Nachbemerkung

  1. Die Frage, warum die Frommsche Theorie nicht schon früher Fragestellungen und Beiträge zur erziehungswissenschaftlichen Diskussion geliefert hat, wird von Bernhard Claußen mit einem Verweis auf die gesellschaftlichen Bedingungszusammenhänge der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beantwortet. Diese hätten die Rezeption der Kritischen Theorie auch in den Erziehungswissenschaften bis in die späten 60er Jahre verzögert (vgl. Claußen, 1989, S. 7ff.). Die schließlich einsetzende Rezeption zeigte sich vielerorts als punktuell und kurzatmig, mithin als modisch-opportunistisch, so daß das Verhältnis von Kritischer Theorie und Pädagogik mehr oder minder prekär blieb. „Die in der sozial-liberalen Ära einsetzende erziehungswissenschaftliche Rezeption der Kritischen Theorie war von Anfang an vor die Schwierigkeiten gestellt, die sich aus den Aporien der bis dahin führenden geisteswissenschaftlichen und allmählich sich etablierenden empirischen Pädagogik sowie aus deren Verwickeltheit mit bürgerlichem Idealismus und kapitalistischer Verwertungslogik gerade zwangsläufig ergeben mußten. Die vordergründige, Fundamentalkategorien der Frankfurter

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  2. Schule nicht eben selten zu Schlagworten degradierende und ansonsten im Aussagenzusammenhang beliebig wie in einem wissenschaftlichen Selbstbedienungsladen herumstochernde Adaption der Kritischen Theorie durch manche Vertreter Kritischer Erziehungswissenschaft und Kritischer Didaktik ist dafür symptomatisch....“ (ebd., S. 8). Claußen weist auf Verkürzungen in den pädagogischen Rezeptionsversuchen hin, sieht jedoch die langfristig angelegte Möglichkeit, „Rezeptionsversäumnisse nachzuholen, Erziehungswissenschaft selbst als Kritische Theorie auszuarbeiten und pädagogisch reinterpretierte emanzipatorische Gesellschaftskritik in einem nicht-instrumentellen Sinne fruchtbar werden zu lassen“ (S. 9).

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  3. An solchen Fragen ist problematisch, daß sie im Sinne des Entweder-Oder formuliert sind. Hätten Fromm und Marcuse ihre Position nicht unvermittelt gegenübergestellt, hätten sie nicht streiten können. Faßt man die verschiedenen Konzepte als Heuristiken, als Triebheuristik und Kulturheuristik, auf, dann sind sie wie zwei Schlüssel, die in dasselbe Schloß passen. Damit ist jedoch keine Aussage über das Schloß gemacht; die Aussage lautet lediglich: der Schlüssel paßt. Es ist nicht auszuschließen, daß es zwei verschiedene Schlüssel gibt, die dasselbe Schloß aufsperren (vgl. v. Glasersfeld, 1985, S. 20, 30f.). Von ihrer Wirklichkeit strukturierenden und beschreibenden Leistung her gesehen, erscheinen die Triebheuristik und die Kulturheuristik bei Marcuse bzw. Fromm gleichermaßen geeignet, als Grundlage humanistischer Kritik zu dienen und die Bedingungen und Folgen von Erziehung zu erfassen.

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Bierhoff, B. (1993). Erziehungssoziologische Implikationen des Frommschen Kulturalismus. In: Erich Fromm. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90630-4_4

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