Zusammenfassung
Diese Zeilen stammen aus einer kleinen, bislang kaum beachteten Druckschrift aus dem Jahr 1933. Sie trägt den Titel „Kritik der Eugenik. Vom Standpunkt des Betroffenen“. Der Autor, Rudolf Kraemer, war wissenschaftlicher Mitarbeiter des Reichsdeutschen Blindenverbandes. Er formulierte seine Kritik wenige Wochen nach der Machtübertragung an Hitler — zu einem Zeitpunkt, als ihm bereits klar war, daß die Nationalsozialisten „in allernächster Zeit“ ein eugenisches Sterilisationsgesetz erlassen würden und daher auch für Blinde „ein sehr dringender Anlaß“ bestünde, sich „mit der Sterilisierungsfrage“ zu beschäftigen.2 Kraemers Abhandlung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen handelt es sich um eine der ganz wenigen zeitgenössischen Publikationen, in denen die Prämissen der eugenischen Erb- und Minderwertigkeitslehre grundlegend hinterfragt wurden; der Autor ließ sich vom wissenschaftlichen Anspruch, mit dem Eugeniker und Rassenhygieniker daherkamen, nicht blenden: „Der Begriff der eugenischen Minderwertigkeit“, so konstatierte Kraemer an anderer Stelle der Schrift zu Recht, „ist nicht etwa naturwissenschaftlich begründet und abgegrenzt, sondern stellt ein Werturteil dar. Als minderwertig werden demnach solche Anlagen und Menschen bezeichnet, die nicht erwünscht sind.“3 Zum anderen benannte der Verfasser die mit eugenischem Gedankengut verknüpften Sehnsüchte, Leitbilder und Utopien, und er stellte den Bezug zur Gesellschaftskrise am Ende der Weimarer Republik her, die die Popularisierung des Denkens in Erbwerten ungemein forderte. Schließlich haben Kraemers mahnende Worte im Hinblick auf eugenische Heilslehren und Wissenschaftsgläubigkeit nur wenig an Aktualität eingebüßt, denkt man etwa an die Verheißungen der modernen Gen- und Reproduktionstechnik.4
„Eugenik heißt Menschenzucht. Wie der Pflanzen- oder der Tierzüchter durch bestimmte Maßnahmen möglichst schöne und gute Stücke zu erzielen sucht, so will der Eugeniker durch gleiche oder ähnliche Maßnahmen ein möglichst vollkommenes, in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht gesundes, tüchtiges, schönes und an die Erfordernisse des Lebens und der Gemeinschaft bestens angepaßtes Menschengeschlecht heranzüchten, das frei von Krankheit und Gebrechen, frei von Schwäche und Dummheit, frei von verbrecherischen und sonstigen gesellschaftsfeindlichen Neigungen ein paradiesisches Dasein fuhrt in Schönheit und Kraft, Ausgeglichenheit und Tüchtigkeit — wahrhaftig ein herrliches Ziel, die endgültige Verwirklichung des uralten Menschheitstraumes von Glück und Vollkommenheit! Kein Wunder also, daß die unter ihrer Unzulänglichkeit seufzende Menschheit namentlich in diesen Tagen dieser neuen Heilslehre begierig lauscht und daß sich viele, sehr viele ihr mit begeisterter Gläubigkeit hingeben.“1
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Literatur
Vgl. Norbert Frei: Einleitung, in: ders. (Hg.): Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, München 1991, S. 7–32 (im folgenden zit. als Frei, Einleitung), hier: S. l4f sowie ders.: Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 367–387, hier: S. 383.
Detlev J.K. Peukert: Rassismus und Endlösungs"-Utopie. Thesen zur Entwicklung und Struktur der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, in: Christoph Kleßmann (Hg.): Nicht nur Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, Düsseldorf 1989, S. 71–81, Zitat: S. 72.
Vgl. ebda sowie Ulrich Herbert: Traditionen des Rassismus, in: Lutz Niethammer u.a.: Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt a.M. 1990, S. 472–488, hier: S. 474.
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Nitschke, A. (1999). Einleitung. In: Die ‚Erbpolizei‛ im Nationalsozialismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90381-5_1
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