Zusammenfassung
Eine deutsche Autorin deckte in ihren Texten Strukturmerkmale eines gesamtkulturellen Verschweigens auf, und dann schwieg auch sie. Für den kurzen Zeitraum von fünf Jahren betrat Birgit Pausch die Bühne deutschsprachiger Literaturproduktion, um zuletzt einen bewußten, aufrechten Gang ins Nicht-mehr-Schreiben zu inszenieren. Dieses Schweigen, das folgte, ist ein anderes geworden als dasjenige, von dem (von dem her) Pausch geschrieben hatte, denn es trägt die Geschichte einer Bewußtmachung von Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens und des Schweigens in sich ein und aus, verweist immer von Neuem auf die eigenen Anfänge und erinnert an einen ursprünglichen Wunsch, einem gewaltsam erzwungenen Verstummen zu entkommen. Ein in Pauschs Darstellungen stets aufgerissener Blick auf die Dialektik der Verhältnisse, unter denen das Zur-Sprache-Kommen von Menschen verhindert, aber zugleich doch “noch möglich” sei, forderte eine literarische Praxis heraus, die sich auf der Höhe einer radikalen diskurskritischen Perspektivensuche bewegt. In der Nach-Moderne steht jede Subjektstellung, von der aus eine solche Suche (Diskursopposition als Seinsweise und Überlebenschance) hervorgehen kann, der Kunst nah. Aber nur ganz selten ist diese Nähe so sorgsam, prüfend und ernsthaft in literarische Reflexions- und Vermittlungsarbeit aufgenommen worden, wie in den Texten von Birgit Pausch. Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal und Max Horkheimer u.a. schlugen ihrerseits einen verwandten Weg ein, der das selbst-kritische Bewußtsein bei aller Suche nach Halt durchaus auch an die Grenzen seiner Auflösung ins Haltlose führen kann. Und wie bei Pausch ist auch in der Kritischen Theorie die Kunst als Gedächtnisraum und Phantasiequelle bei brennenden Fragen nach Subjekt-Autonomie aufgerufen. Aber dort ist die Bewegung des Erkennens einer “Theorie-Bildung” verpflichtet, in der z.T. andere Nöte herrschen als in der Literatur. Pausch bindet Probleme der Darstellbarkeit von Bewußtwerdung in eine Formsuche ein, die für “Theorie” zuletzt immer als Gegenstand figuriert — für sie aber als Schwerkraft und Kosmos. Sie teilte ihrem Schreiben eine prinzipielle Frage mit, die Literaturtheorie verfolgen muß, wenn sie ihrem Gegenstand nachkommen will: Welche “emanzipatorische” Kraft ist Literatur trotz aller kulturellen Vereinnahmungsinstanzen zu vermitteln befähigt? Literarisch gestellt richtet sich diese Frage an Realität, die nicht nur abgebildet, sondern auch gegen-gestiftet wird.
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Anmerkungen
Eintrag zum “Plusquamperfekt” im Duden 1984.
Las Meninas wird in Verweigerungen, S. 24-29 unter dem einleitenden Ausspruch “Die Malerei wiederentdecken” eingehend beschrieben.
Vgl. z. B. Foucault 1971, S. 31-45.
Vgl. Abbildung 1 im Anhang.
Im folgenden eingestreute Beschreibungsmerkmale aus Pausch 1977, S. 25 ff.
Dieser Dialektik ist Theodor Adorno in seiner Ästhetischen Theorie nachgegangen.
Ein Fortschreiben der vom Begriff her geöffneten Metaphorik; im spanischen Bürgerkrieg war “spanische Reiter” eine Bezeichnung für Barrikaden.
“[.] noch unter den Eindrücken der Straßenkämpfe, hatte er zwei von ihm angefertigte Spanische Reiter ausgestellt. Sie wurden von der Kunstkritik gefeiert. Museen und Kunstgalerien forderten seine Reiter an, und das Geld, das er einnahm, stiftete er zu großen Teilen auf den Vietnamkundgebungen den Studenten. Bis er diese Spanischen Reiter nicht mehr sehen konnte, bis er den Irrtum erkannte, daß er, gegen Gewalt ankämpfend, selber gewalttätig wurde. Denn als das Sit-in in der Kunsthalle losging, hatten die Studenten seine Spanischen Reiter benutzt, um sich mit ihnen zu verbarrikadieren.” (Pausch 1985, S. 72).
In seinen Untersuchungen zu Las Meninas sammelt Hermann Ulrich Asemissen (1981) überzeugende Anhaltspunkte dafür, daß Velazquez sein Gemälde mit der Hilfe einer Spiegelwand schuf. Vergleiche der im Gemälde dargestellten Raumverhältnisse mit überlieferten Plänen vom Grundriß des Saales, in dem das Bild entstanden ist (‘pieza de la galeria’ oder’ pieza principal ‘im Alcázar), offenbaren, daß der Raum des Gemäldes seitenverkehrt zu dem seiner Entstehung ist: “Sieht man die Meninas als Bild eines Spiegelbildes, so erklärt sich die Seitenverkehrtheit des Bildraums. So erklärt sich aber auch die Haltung der Infantin, die Ausrichtung der Blicke — besonders die Blickrichtung der rechten Menina —, das Hineinragen der Rückseite der Leinwand in das Bild, die Selbstdarstellung des Malers. Und nur so ist auch zu verstehen, dass er seine Modelle von vorn sehen und malen kann, obwohl er hinter ihnen steht.” (S. 24 f.) Darüber hinaus geht es aus dem Inventar des Alcazars hervor, daß Velazquez über sieben Spiegel verfügte, die jeweils die Größe des Königspaarspiegels. im Gemälde besaßen. Im “Sommer-Arbeitsraum des Königs [.] wurden auf Wunsch des Königs die Meninas untergebracht und mit ihnen also diese Spiegel. Wie aus dem Inventar hervorgeht, waren sie zu einer Spiegelwand zusammengesetzt.” (S. 25) Außerdem offenbart ein Vergleich der Infantin in Las Meninas mit einem nur kurz vorher in Wien entstandenen Portrait, daß “der Scheitel — und entsprechend der Kopfschmuck” in Las Meninas “auf der anderen Seite” — also in einem spiegelverkehrten Verhältnis zum früheren Bild — liegen.
Vgl. Schweikert, Nachwort zu Bildnis in Pausch 1985, S. 116. Der Titel Bildnis der Jakobina Völker, für den Pausch sich letztlich entschied, beinhaltet einen Hinweis auf ein anderes Kunstwerk, das nicht von Rethel ist. Dieses Bildnis und die Holzschnittfolge von Rethel werden auf der Widmungsseite des Buches explizit angeführt: “Das [im Text] erwähnte Fresko [.] ist eine freie Variation auf Alfred Rethels Holzschnittfolge Auch ein Totentanz von 1849. / Den Namen Jakobina Völker entlehne ich einem altdeutschen Portrait, das sich im Städelschen Museum in Frankfurt befindet.” Der Umschlag der Ullstein-Ausgabe (1985) ist unter Verwendung des benannten Gemäldes “Marie Jakobine Völker” entworfen.
Vgl. Walter Benjamins Ausführungen zum Konzept des dialektischen Bildes in Benjamin 1983, S. 570-611 sowie die Fortschreibungen des Begriffs in Über den Begriff der Geschichte (Benjamin 1980, S. 691-704), wo das wahre “Bild der Vergangenheit” sich im “Augenblick der Gefahr” eines “historischen Subjekt(s)” einstellt.
Das einleitende Kapitel von Bildnis, In den Archiven, endet mit der Szene eines vorbereitenden Gespräches für die Festrede. Jakobina erkennt, daß es dem Schuldirektor um “Vertrauensbeweise” geht, wenn er ihr dazu rät, die “dumme Geschichte” mit dem Brand, nicht zu erwähnen. “Sein Auftrag zur Ausarbeitung der Festrede war eine Warnung: sie wußte, daß sie vor einem Inquisitor saß, der ein Bekenntnis fordert.” (S. 17).
Zum Vergleich sind die letzten zwei der sechs Bilder in der Folge als Abbildungen 2 und 3 im Anhang zu sehen.
In einem Brief an Reinick vom 22. April 1849 schreibt Rethel: “[.] daher schnell zur Sache, die denn auch zunächst einfach darin bestehen soll, Dir meine rechte Freude über Deine schöne Dichtung, besonders über Dein herrliches Schluβwort hier auszudrücken, durch letzteres hat erst das Ganze die gewünschte Rundung bekommen, ganz durchaus notwendig war ein solcher Schluß, und famos in Schwung und Zug sind Deine Worte; es ist eine sehr glückliche Steigerung in Deiner ganzen Dichtung und zum Schluß wird man recht im innersten erwärmt und gepackt und zu einem besseren Hoffen und Erwachen geführt.” (Rethel 1957a, S. 23-24, H. v. m.).
“Er schreit: ‘Du Volk, dies Schwert ist dein, / Wer sonst kann richten? Du allein! / Durch dich spricht Gott, durch dich allein!’ / ‘Blut, Blut’ viel tausend Kehlen schrein.” (S. 22).
Als Kunstlehrerin kennt Jakobina Völker kunsthistorische Hintergründe des Bildes, von denenihre Schülerinnen aber nichts wissen wollen: “In den Pausen versteckten sich die jüngeren Mädchen mit ihren Filzstiften und Vokabelheften hinter den Pfeilern [.] und starrten neugierig und herausfordernd auf die bemalte Wand zwischen den Verstrebungen, auf den mittelalterlichen Sensenmann, die brennende Stadt, auf das Gewimmel der Menschen, die Soldaten in den fremden Uniformen: es war ihnen grauenhaft und unverständlich, und wenn Jakobina das Fresko erklären wollte, hörten sie nicht hin” (Pausch 1985, S. 13).
Ein Forschungsblick auf die Tradition politischer Zuschreibungen im Bezug auf Rethels Auch ein Totentanz in der Kunsthistorie trifft auf wenige Zeugnisse einer kritischen Loslösung des Kunstwerks aus einer plump-polaren Einbindung des Bildes im propagandistischen, kontra-revolutionären Funktionszusammenhang. Wo 1929 von Karl Koetschau noch erinnert wurde, daß Rethel zwischen den Stühlen der politischen Sitzordnung seiner Zeit stand, und “das wollen wir doch nicht vergessen: er empfindet mit der Leidenschaft eines heißen Herzens das tragische Geschick, in das die mißleiteten Massen ein übermächtiger Führer hineingestürzt” (S. 232), resümiert Albert Boime (1991) nach einer umfangreichen Untersuchung zum Bild und zur Bildgeschichte “Rethel’s cycle was counterrevolutionary in both form and content.” (S. 598).
Vgl. Anmerkung 14.
In einem Brief an seine Mutter vom 4. Mai 1849 schrieb Rethel: “[.] unter Sturmgeläute von allen Glocken, und starkes Schießen, habe ich den gestrigen Nachmittag in meinem Atelier arbeitend zugebracht, ein trauriger Contrast, rechts zum Fenster hinein die herrliche Frühlingspracht und den Gesang der Vögel, und links das wildeste unheimlichste Getöse. Die ganze Stadt ist mit Barrikaden bedeckt. und meine Neugier weicht stets einer vernünftigen Klugheit.” (Rethel 1957c, S. 25).
Vgl. Anmerkung 14.
Zum Verfahren der Bildannäherung bei Weiss siehe Herding 1983.
Vgl. Anmerkerung 14.
Der einzige von Pauschs Texten, der mit der Gattungsbezeichnung Roman herausgegeben wurde.
Vgl. z. B. dazu: “In der Zeit der hochspezialisierten Berufe ist die Künstlerin, immer noch der feudale Hauslehrer, der Tanzmeister, der Nebenbeimaler, der Nebenherschriftsteller. Kunst als laues Fußbad nach hartem Börsentag, als Hobby, ist sowieso das Ideal der Herrschenden wie der Beherrschten [.] ” (Pausch 1978, S. 33).
Das Bild von Adorno und Horkheimer ist dem Kunstbereich der Musik entnommen: “Der Gefesselte wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus.” (S. 41) Dieser Zusammenhang und auch das “Auswechseln” von Kunst-Einlagen wie die Glasfacetten eines Kronleuchters ist in Schiffschaukel szenisch abgebildet. Unmittelbar nachdem Viktoria ihren Text über Laura Ferri vorgetragen hat, heißt es: “Beifall beendete die Lesung. Viktoria blieb unschlüssig auf dem Podium stehen, während die Mitglieder eines kleinen Orchesters von hinten an sie herantraten und sie baten, ihren Platz zu räumen. Ehe sie die Situation überschaut hatte, war sie von Musikern umgeben, die ihre Instrumente stimmen wollten.” Als könnte diese Dialektik des Beifallspendens kaum noch auf ihre Ablösung durch den nächsten Mini-Rausch abwarten.
Literatur
Andersch, Alfred 1977: Wegwerf-Literatur, in: Literatur Konkret, 1977/78, Heft 1, S. 34.
Asemissen, Hermann Ulrich 1981: Las Meninas von Diego Velazquez, in: Kasseler Hefte für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, Kassel, Heft 2, S. 20–27.
Benjamin, Walter 1980: Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften (Werkausgabe), Frankfurt a. M., Bd. 1.2, S. 691–704.
Benjamin, Walter 1983: Passagen-Werk, Abschnitt “N”, Frankfurt a. M., S. 570-611.
Boime, Albert 1991: Alfred Rethel’s Counterrevolutionary Death Dance, in: The Art Bulletin, Bd. 73, Nr. 4, S. 577–598.
Duden 1984: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Duden Bd. 4, 4. Aufl., Mannheim — Wien — Zürich.
Duden, Anne 1985: Das Judasschaf, Berlin/West.
Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.
Heine, Heinrich 1981: Die Heimkehr, II, in: ders., Sämtliche Schriften in 12 Bänden, Bd. 1, hg. von Klaus Briegleb, Frankfurt/M, Berlin, Wien.
Herding, Klaus 1983: Arbeit am Bild als Widerstandsleistung, in: Die Ästhetik des Widerstands. Materialien, Frankfurt a. M., S. 246-284.
Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno 1988: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.
Koetschau, Karl 1929: Alfred Rethels Kunst vor dem Hintergrund der Historienmalerei seiner Zeit, Düsseldorf, S. 220-245.
Pausch, Birgit 1977: Die Verweigerungen der Johanna Glauflügel, Berlin/West.
Pausch, Birgit 1978: Die Feindschaft der Neuen Frauen, in: Literatur Konkret, Heft 2/1978, S. 33 f.
Pausch, Birgit 1984: Die Schiffschaukel, Hamburg (Erstdruck: Darmstadt, 1982).
Pausch, Birgit 1985: Bildnis der Jakobina Völker, Frankfurt a. M. (Erstdruck: Düsseldorf, 1980).
Reinick, Robert 1957: Verse zu Auch ein Totentanz, in: Theodor Heuss, Auch ein Totentanz, Stuttgart, S. 22.
Rethel, Alfred 1957a: Brief an Reinick vom 22. April 1849, in: Theodor Heuss, Auch ein Totentanz, Stuttgart, S. 23.
Rethel, Alfred 1957b: Brief an seine Mutter vom Mai 1949, in: Theodor Heuss, Auch ein Totentanz, Stuttgart, S. 26 f.
Rethel, Alfred 1957c: Brief an seine Mutter vom 4. Mai 1949, in: Theodor Heuss, Auch ein Totentanz, Stuttgart, S. 25.
Schweikert, Uwe 1985: Nachwort zu Bildnis der Jakobina Völker, in: Pausch 1985, S. 115-125.
Weiss Peter 1986: Ästhetik des Widerstands I, Frankfurt a. M.
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Boyd, T.K. (1996). Fortschreiben in Bildern. In: Kramer, S. (eds) Das Politische im literarischen Diskurs. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90285-6_9
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