Zusammenfassung
Liest man in den Nachrufen auf und der Literatur über Heiner Müller1, so findet sich dort immer wieder das vertraute Bild eines Autoren, der sich ganz in der Tradition der Helden des Bildungsromanes die jugendlichen Hörner abgestoßen hat, die Hoffnung, mit der er einst aufbrach, fahren ließ, und schließlich in Resignation, Zynismus und Verdüsterung endete. Diesem Bild widerspricht nur teilweise, daß Müller bei seinem Tod als Repräsentant — für welches Deutschland auch immer — gefeiert, als Klassiker verehrt und mit einer öffentlichen Anteilnahme beerdigt wurde, wie sie nur wenigen Schriftstellern in der jüngeren Geschichte zuteil wurde.
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Anmerkungen
Vgl. zur Sekundärliteratur die umfangreiche Bibliographie von Schmidt und Vaßen (1993).
Vgl. Müller 1996. Im folgenden kurz: Germania 3. Die Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf diesen Text. — Unser Aufsatz wurde vor der Uraufführung des Textes in Bochum (24. 5. 1996) abgeschlossen.
Ausführlich entwickeln wir diesen Zusammenhang im Rahmen einer Dissertation zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Sie wird voraussichtlich 1997 erscheinen.
Mit der Kennzeichnung seines Stückes als “montage” und “gestentafel” verteidigte sich Brecht im Exil gegen das Lob von Lukécs. (Vgl. Brecht 1974, S. 18).
Vgl. zu dieser Einordnung die erste, noch immer lesenswerte zusammenfassende Darstellung von Müllers Werk bei Genia Schulz (1980).
Vgl. zum Begriff der Fiktion: Lacoue-Labarthe (1990).
Vgl. zur “Ermüdung” Müller 1994, S. 155; es wäre vielleicht möglich, diese Ermüdung über die umgangssprachliche Feststellung hinaus in philosophischer Hinsicht als Verdoppelung der Dialektik im Moment ihres Schließens zu beschreiben. Aufbauend auf dieser bei Benjamin, Adorno und Derrida zu findenden Figur beschreibt Philippe Lacoue-Labarthe in den Schriften Hölderlins die “Zäsur des Spekulativen” als Ermüdung der Dialektik. Lacoue-Labarthe, Philippe (1981), S. 203-231.
Der Begriff der “heteronomen Erfahrung” wird von Levinas ausgiebig entfaltet in seinem Aufsatz “Die Spur des Anderen”, in: Levinas, Emmanuel (1983).
Müllers Darstellung von Hitler in Germania 3 wie schon in Germania Tod in Berlin dürfte nach dem Vorbild der von Brecht als “Gruselmärchen” bezeichneten Zwischenspiele von dessen Schweyk im Zweiten Weltkrieg gestaltet sein. Vgl. Brecht 1982, Bd. 5, S. 1995.
Vgl. zu diesem Begriff Nancy 1988, S. 13 ff. u. 32 f. und Lacoue-Labarthe 1990, S. 211 ff.; Nancy bezeichnet mit dem Begriff des Immanentismus die “Vision einer Gemeinschaft von Wesen, die wesensmäßig ihre eigene Wesenheit als ihr Werk herstellen und darüberhinaus genau diese Wesenheit als Gemeinschaft herstellen”. Der Begriff ersetzt (und verändert) den von Hannah Arendt (1986) geprägten des “Totalitarismus”.
Jankas Dokumentation der Ereignisse jener Tage wurde, auch auf Initiative Müllers, am 28. Oktober 1989 im “Deutschen Theater” unter dem Titel “Schwierigkeiten mit der Wahrheit” vorgelesen. Vgl. Janka, Walter (1989): Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek: Rowohlt. S. 35 f., 53 f., 61, 90 f., 119.
Vgl. zur Entwicklung des Kommunismus auch Lyotard, Jean-François (1987), S. 282-285.
Vgl. zur Frage der in sich gespaltenen Gründungsfigur jeder Rechtsordnung: Derrida (1991) und Hamacher (1994).
Die Bearbeitung des Coriolan durch Wekwerth (des Brecht-Schülers, nicht der Müller-Figur) kritisiert Brechts Idealisierung des Volkes, läßt so im Theater jene “Paternalisierung” der Bevölkerung durch die Partei zum Ausdruck kommen, die Müller in der Wekwerth-Figur vorführt; vgl. Wekwerth (1967).
Vgl. zur Logik der Gespenster: Derrida 1995. Im Zusammenhang der Texte Müllers hat Hans-Thies Lehmann im Rahmen eines Vortrages bei einem Heiner Müller-Symposium in Sydney 1994 dem Motiv und Phänomen des Gespenstes ausführlich nachgespürt.
Samuel Weber hat dargelegt, daß und wie das Modell dieses “reaktionären” Staates, der auf die Intervention des Anderen reagiert, erstmals in Carl Schmitts politischer Theorie entworfen wird. (Weber 1995, S. 12-17) Müllers Schreiben kann als Subversion der von Schmitt begründeten Freund/Feind-Dichotomie begriffen werden, insofern es die Stabilisierung der Unterscheidungen verhindert. Diese in sämtlichen Stücken zu beobachtende Tendenz hat einige Berliner Literaturwissenschaftler nicht daran gehindert, in Müller einen Schmittianer und Parade-Feind ihrer eigenen Neo-Liberalität zu entdecken.
Müllers Position zum Schreiben “nach Auschwitz” kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht angemessen diskutiert werden. Eine solche Diskussion könnte ihren Ausgang nehmen von der III. Szene von Germania 3, in der Kriemhilds Darstellung von Siegfrieds Tod zur Allegorie des Ereignisses wird, für das Adorno den Namen “Auschwitz” synekdocheisch setzte: “Und erst, wenn Siegfrieds Tod gerochen ist / Gibts wieder Missetaten auf der Erde. / So lange aber ist das Recht verhüllt / Und die Natur in tiefen Schlaf versenkt.” (26).
Vgl. zu einem solchen Modell von Politik auch: Bailly und Nancy (1991).
Literatur
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Janka, Walter (1989): Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek: Rowohlt.
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Lyotard, Jean-Francois (1987): Der Widerstreit. München, 2. Aufl.: Fink.
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Marx, Karl (1974): Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Ders. und Friedrich Engels: Staatstheorie. Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein.
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Müller, Heiner (1975a): Theater-Arbeit. Berlin: Rotbuch.
Müller, Heiner (1975b): Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande. Berlin: Rotbuch.
Müller, Heiner (1977): Germania Tod in Berlin. Berlin: Rotbuch.
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Müller, Heiner (1985): Shakespeare Factory 1. Berlin: Rotbuch.
Müller, Heiner (1989a): Material. Texte und Kommentare. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Leipzig: Reclam.
Müller, Heiner (1989b): Shakespeare Factory 2. Berlin: Rotbuch.
Müller, Heiner (1990a): Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Frankfurt: Verlag der Autoren.
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Müller, Heiner (1991a): Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt, 2. Aufl.
Müller, Heiner (1991b): “Jenseits der Nation”. Heiner Müller im Interview mit Frank M. Raddatz, Berlin: Verlag der Autoren.
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Müller, Heiner (1992b): Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer u. Witsch.
Müller, Heiner (1994): Gesammelte Irrtümer 3. Interviews und Gespräche. Frankfurt: Verlag der Autoren.
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Schmidt, Ingo u. Florian Vaßen (1993): Bibliographie Heiner Müller 1948–1992. Bielefeld: Aisthesis.
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Völker, Klaus (1988): Bertolt Brecht. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt.
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Müller-Schöll, N. (1996). Ersetzbarkeit. In: Kramer, S. (eds) Das Politische im literarischen Diskurs. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-90285-6_10
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