Zusammenfassung
Eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik, die als rekonstruktive Methode auftritt, legt ein beträchtliches Vertrauen in die Erschließung der Gegenstände, mit denen sie befaßt ist. Ihrem eigenen Anspruch nach wirft sie den Gegenständen keine vorab gefertigte Theorie über, die den Zugang zu ihnen erst ermöglichen soll, sondern versucht umgekehrt, theoretisch folgenreiche Erkenntnisse aus den Gegenständen selbst zu gewinnen.2 Begründung und Kritik methodischer Vorgehensweisen und gewonnener Forschungsergebnisse können deshalb letztlich immer nur fallbezogen entfaltet werden. Aus dieser Sichtweise könnte man eine positivistisch angelegte Korrespondenztheorie der Wahrheit herauslesen, die nach Art von Abbildtheorien die Gegenstände an sich zum Anhaltspunkt für die Möglichkeit objektiver Erkenntnis macht. Die Ablehnung dieser Vorstellung eint die verschiedenen Versionen des Konstruktivismus. Gegen den Realismus wird die selbstreferentielle Operationsweise von Erkenntnisprozessen zur Geltung gebracht. Damit wird der Anspruch einer Erkenntnis unhaltbar, die Sachhaltigkeit aus der Übereinstimmung mit einer äußeren Realität bezieht.3 Dieser Realismus wird als Bezugsproblem erkenntnistheoretischer und methodologischer Reflexionen irrelevant. Das läßt sich an dem Verdacht ablesen, der (radikale) Konstruktivismus führe erkenntnistheoretisch letztlich in Solipsismus und Relativismus (vgl. dazu auch Bora in diesem Band).
Für kritische Kommentare danke ich Alfons Bora, Michael Charlton, Heiko Hausendorf, Armin Nassehi, Wolfgang Luswig Schneider und Uwe Wiesenbacher.
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Sutter, T. (1997). Rekonstruktion und doppelte Kontingenz. In: Sutter, T. (eds) Beobachtung verstehen, Verstehen beobachten. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89945-3_11
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