Zusammenfassung
In den Abschnitten dieses Kapitels versuche ich, Bachelards modifizierten Kantianismus darzustellen. Ich beginne mit Ausführungen zur “Öffnung” der Kategorie der Substanz, stelle Bachelards Kritik an Kant dar, und skizziere schließlich seine Antwort auf das Dilemma der Philosophie im Zeitalter der neuen Physik. Es wird deutlich werden: der Nichtkantianismus ist ein Neukantianismus.
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Literatur
Bei Prigogine, Stengers 1980, wird Bachelard nur in einer Fußnote erwähnt und wegen der These vom Bruch zwischen Alltag und Wissenschaft getadelt (Anm. 12, S. 74, Text auf S. 298). Man findet sich statt dessen auf Whitehead verwiesen, dem Auffassungen zugeschrieben werden, die, was die Rolle von Sein und Werden betrifft, auch bei Bachelard und was die Ontologie betrifft, auch bei — Boutroux stehen könnten (vgl. 101 ff und 290f). Die Untersuchung dieser Zusammenhänge ist ein Desiderat. Man wird ihnen nachgehen müssen, wenn man den Wandel in den begrifflichen, den konzeptuellen und den philosophischen Orientierungen der zeitgenössischen Wissenschaft begreifen will.
“Le pluralisme cohérent de la chimie moderne”, ist der Titel eines Buches von Bachelard aus dem Jahre 1932. In der “Philosophie des Nein” wird der Ausdruck für jegliche Dialektisierung einer Kategorie gebraucht (z.B. 1940, 103).
Ich halte es nicht für abwegig anzunehmen, daß sich Bachelard bei seiner Theorie der verschiedenen Begriffsniveaus eines Grundbegriffs von der Idee der “Anregung” der Korpuskeln in der Mikrophysik hat anregen lassen.
Vorher heißt es: “Gibt es ein besseres Beispiel für jene umfassende Dialektik als die Ausdehnung des Begriffs der Parallelen, wenn man von der euklidischen Geometrie zur nichteuklidischen Geometrie überwechselt? Man gelangt dabei von einer geschlossenen, erstarrten und linearen begrifflichen Fassung zu einer offenen, freien und sich verzweigenden begrifflichen Fassung. Man befreit sich dabei von der Verknüpfung von Erfahrung und ursprünglichem Denken. In den neuen Geometrien hat der Begriff der Parallele ganz eindeutig seinen Absolutheitscharakter verloren. Er wird in Relation gesehen zu einem ganz bestimmten System von Postulaten”.
Wenn man philosophischen Diskussionen folgt, fragt man sich mitunter, ob das Bewußtsein nicht ein Index-Bewußtsein ist, ein Bewußtsein davon, mit dem Finger auf die Dinge zu zeigen» (1951, E, 61).
“Es ist für Kant nicht wesentlich zu behaupten, daß seine Bedingungen hinreichend seien, um das wirkliche Vorkommen einer Selbstzuschreibung von Erfahrung zu erklären. Es ist genug, wenn sie für ihre Möglichkeit notwendig sind” (Strawson 1966, 87).
Mit Gonseth bezeichnet Bachelard die allgemeine Logik als “Physik des beliebigen Objekts” (1940, 124.; Hervorheb. vernachlässigt). Vgl. die Definition der transzendentalen Logik und der Logik des besonderen Verstandesgebrauchs bei Kant 1781/87, B76.
Bachelards Begriff von Dialektik bezieht sich auf die in sich differenzierte Einheit der Kategorien.
Vgl. auch: “Wir müssen verstehen, daß der Besitz einer Erkenntnisform automatisch eine Reform des Geistes bedeutet. Wir müssen also unser Forschen in die Richtung einer neuen Pädagogik lenken” (1940, 145).
Es kommt der “Zeitpunkt neuen Bewußtseins, wo der Rationalismus plötzlich die Geschichte des Erwerbs der Ideen negiert, um die konstitutiven Ideen zu bestimmen und sie zu organisieren” (1951; zit. nach Vadée 1975, 146).
Die Fortsetzung des Zitats aus Anmerkung 10 lautet: “Sobald sich das wissenschaftliche Denken dieser Aufgabe wesentlicher Reorganisation des Wissens bewußt wird, erscheint die Tendenz, die ursprünglichen historischen Gegebenheiten dort einzutragen, als echte Desorganisation”. In diesem Sinne kämpft der wissenschaftliche Geist gegen “die Geschichtlichkeit des Rationalen”.
Ich erinnere nochmals an die spiritualistische Abkunft dieses Gedankens: “Es ist nicht das Wesen der Dinge, das den höchsten Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchungen auszumachen hat, sondern ihre Geschichte” (Boutroux 1874, HD.
Hier könnte ein Exkurs einsetzen, der diesen Gedanken zu den Untersuchungen Kuhns über die zeitliche Unscharfe wissenschaftlicher Entdeckungen in Beziehung setzen würde (Kuhn 1962; vgl. Hacking 1981, 129). Nach Bachelard wäre diese Unscharfe für die neuen Wissenschaften unmöglich. Es darf in ihnen nicht passieren, daß etwas entdeckt wird, ohne daß man genau weiß, was es sei. Diejenigen, die Positronen beobachtet hatten und die Aufnahmen als fehlerhaft verwarfen, hatten nach Bachelard recht (vgl. aber 1949, E, 122f).
Die Frage also, ob sich die gegenseitigen Beeinflussungen der Körper einmal so aufschaukeln werden, daß zwei Planeten kollidieren oder ein Planet in die Sonne stürzt.
Zuerst hatte das Raspail im Jahre 1855 vorgeschlagen. Er kann aber nicht als Vorläufer von Rutherford gelten, denn seine Spekulation gehört dem alten Topos der Analogie von Makro- und Mikrokosmos an (in der anderen Ausdehnungsrichtung der Analogie postulierte Lambert ein Planetenmodell des Universums mit einer gigantischen Zentralmasse).
Nach dem Muster dieser Überlegung muß es auch im Kern Elektronen geben, da sie doch bei gewissen Vorgängen aus ihm herauskommen. Das ist in Bachelards Terminologie die Wirkung eines Erkenntnishindernisses.
Wenn auch nicht so, daß der Spin entdeckt worden wäre, weil jemand bemerkte, daß Planeten eine Eigendrehung vollführen. Ebenso ist es eine nachträgliche Rationalisierung, wenn Jeans eine Analogie zwischen einem Bohrschen und einem Ein-steinschen Kontinuitätsprinzip herstellt: mit wachsender Quantenzahl gehe die Atomdynamik in die klassische Mechanik ebenso über wie die allgemeine Relativitätstheorie, die die Anomalie der Merkur Bahn erklärt, für größere Bahnradien die newtonschen Ergebnisse reproduziert (Jeans 1942, 115).
Bachelard bezeichnet es als “Surobjekt” “Das Atom ist... die Verkörperung des Surobjekts” (1940, 159f). Es ist für ihn also weder ein Erkenntnis- noch ein Realobjekt. Es ist, horribile dictu, ein Amalgam beider.
Ich möchte nahelegen, das vor dem Hintergrund der “Erkenntnismythen” (Becker 1983) zu betrachten. Bei Bachelard konkurrieren zwei Modelle miteinander: ein Erleuchtungsmodell, nach dem der Zustand des neuen wissenschaftlichen Geistes nur durch eine brüske Veränderung erreicht werden kann, die einer Vergangenheit widerspricht und ein Modell der hermetischen Steigerung, nach dem der Adept alle Stufen des Einweihungsprozesses durchlaufen muß, um der Wahrheit teilhaftig zu werden.
Die Konvergenz einer Folge läßt sich bestimmen, indem man den Abstand der einzelnen Glieder der Folge zu einem der Folge nicht notwendig angehörenden Element studiert oder, wenn man keinerlei Vermutung über die Art eines geeigneten Elementes hat, indem man die Abstände der Folgenglieder voneinander untersucht. Im ersten Fall muß auf ein Gliedbezug genommen werden, daß der Folge äußerlich ist, ihr nicht anzugehören braucht, im zweiten wird die Konvergenz nur aus inneren Eigenschaften der Folge bestimmt.
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Schöffel, G. (1987). Bachelards nichtkantianische Philosophie der Wissenschaften. In: Denken in Metaphern. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89755-8_19
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