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Recht als Ordnungsform moderner Gesellschaften

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Die Soziologie Theodor Geigers
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Zusammenfassung

Versucht man mit Geiger Antworten auf die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften zu finden, empfiehlt es sich, besonders seine rechtssoziologischen Schriften in den Blick zu nehmen. Seit Geigers juristischer Dissertation Die Schutzaufsicht haben ihn Fragen zur Rechtsoziologie bis zu seinem Lebensende nicht mehr losgelassen. Mit Debat med Uppsala om Moral og Ret (1946, dt. 1979) und vor allem den Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1947) gelang es ihm dann, neben Eugen Ehrlich und Max Weber zum Wegbereiter der Rechtssoziologie zu avancieren (Hirsch 1973, 159). Überdies entfaltet Geiger in diesem Zusammenhang eine Theorie sozialer Ordnung, deren Konzepte von Norm und Sanktion Heinrich Popitz (1993, 109) als die “randschärfsten Grundbegriffe” rühmt, die bisher in der Soziologie präsentiert worden sind.

Es ist bewiesen, daß man in Demokratien friedlich zusammenleben kann, auch wenn man einander nicht liebt. Schließlich beruht das gesellschaftliche Zusammenleben — genauso wie das der Staaten — nicht auf Liebe und Freundschaft, sondern auf der Einsicht, daß Koexistenz mit anderen nicht nur möglich, sondern notwendig und normal ist.

Eric J. Hobsbawm(1999)

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Literatur

  1. Ausnahme: Die über vier Jahrzehnte alte und unpubliziert gebliebene Dissertation von Paul Trappe. Erwähnenswert ist vor allem aber auch die Machtsoziologie von Heinrich Popitz (1992) und seine Schrift Die normative Konstruktion von Gesellschaft (1980), in die viele, zumeist leider allerdings nicht genauer kenntlich gemachte Gedanken aus Geigers Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts Eingang und eine z.T. brillante Weiterentwicklung gefunden haben. Eher selektiven Forschungsinteressen folgen dagegen die Arbeiten von Klaus Ziegert (1978), Athanassios Gromitsaris (1992), Raimund Jakob (1995) und Gregoris Robles (1995). Ihnen gelingt es deshalb auch nicht, den eminent allgemeinsoziologischen Gehalt der Geigerschen Rechtssoziologie auch nur annäherungsweise herauszuarbeiten.

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  2. Auf ein wohlfeiles Bekenntnis zum Recht und gegen die Macht kann Geiger deshalb, auch auf die Gefahr hin als “verkappter Machtphilosoph verschrien zu werden” , verzichten. Bekenntnisse zu allgemein gebilligten Meinungen — fügt er hinzu — können nicht der rechte Ausgangspunkt für sachliche Einsicht sein (RS, 338).

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  3. In dieser Ausweitung der Perspektive wird angedeutet, was konstitutiv für Geigers Rechtssoziologie ist und sie allgemeinsoziologisch so interessant macht: nämlich die Frage nach dem sozialen Ordnungsmechanismus als solchem. Wenn Geiger sich der Macht-, Massen- oder Rechtsthematik zuwendet, bleibt immer das Problem gegenwärtig, nach welchen Prinzipien sich welche Verhaltensregelmäßigkeiten entwickeln.

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  4. Der Sachverhalt sozialer Interdependenz, den Paul Trappe (1959, 210) den “Urgrund” jeder Ordnungswirklichkeit nennt, findet mittels verwandter klassischer Konzepte wie dem der Arbeitsteilung von Adam Smith über Karl Marx bis Herbert Spencer, Auguste Comte, Emile Durkheim und Georg Simmel eine große Betonung. Daran hat sich in der Soziologie bis heute nichts geändert. Den Gedanken der Gesellschaft bezieht die Soziologie aus der Tatsache, daß Menschen, welche in durchgängigen Wirkungszusammenhängen stehen, voneinander wechselseitig abhängig sind. Heinrich Popitz — wohl auch hier von Geiger beeinflußt — definiert Gesellschaft allgemein als “Einheitlich umgrenzbares soziales Gebilde mit einem gewissen Intensitätsgrad sozialer Interdependenz” (1980, 69). Vor allem aber Elias’ Figurations-konzept stellt den in der biologischen Konstitution des Menschen angelegten Sachverhalt der “universalen Interdependenz” an den Beginn allen soziologischen Denkens (1970, 147).

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  5. Für eine an der sozialen Wirklichkeit ausgerichtete Soziologie kann es freilich genügen, wie Geiger in der für ihn typischen Skepsis gegenüber weitreichenden philosophischen Spekulationen erklärt, ohne weitere Ursachenforschung von der “‘geselligen Natur’”(RS, 46) des Menschen als einem der unmittelbaren Anschauung gegebenen, evidenten Tatbestand auszugehen.

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  6. Für Geiger sind Streit und Konflikt, Feindschaft und Krieg genuin soziale Größen (RS, 47), schon allein deshalb, weil, wie es in einem frühen Text heißt, alle Gesellschaften strukturell “Gegnerschaftsverhältnisse” in sich bergen (193le, 629). Gegen den “Spannungsreichtum modernen sozialen Lebens” die angeblich friedvolleren Formen vergangener gemeinschaftlicher Lebensformen in die Waagschale zu werfen, heißt für ihn deshalb, “ungeschichtlich” und “wirklichkeitsfeindlich” zu denken (1928b, 84). Bekanntlich hat sich zuerst Simmel am Beispiel des Streits gegen ein Verständnis gewandt, das ein allzu harmonisches Bild sozialer Kohäsion malt. Er begreift — ähnlich wie Max Weber — den Streit als eine zentrale Form der Vergesellschaftung, die nicht das Ende der Sozialität, sondern die konstitutive Aufeinander bezogenhe it des Füreinander und Gegeneinander jeder sozialen Einheit hervorhebt (1908a, 248f). Als soziale Grundtatsache und gleichsam ‘automatische’ Kehrseite universeller Herrschaftsstrukturen stellte in der späteren bundesrepublikanischen Soziologie vor allem Ralf Dahrendorf (1957) — mit Stoßrichtung gegen den Strukturfunktionalismus — die positive, den sozialen Wandel vorantreibende Rolle von Konflikten heraus (ähnlich: Coser 1965).

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  7. An anderer Stelle verweist Geiger darauf, daß neben dem aus der sozialen Interdependenz erwachsenden sozialen Verbundenheitsgefühl des einzelnen sich gleichzeitig das Bewußtsein seiner selbst als unverwechselbares Subjekt (“social-self”) herausbildet, in dem es sich als individuelles Einzelwesen von den anderen, mit denen man zusammenlebt, als unterschiedlich erlebt (SOC, §6, 95f). Damit ist, anders ausgedrückt, das heute vorrangig mit den Namen von George Herbert Mead und Erving Goffman verbundene Problem personaler Identität angesprochen.

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  8. Auch hier wird wieder deutlich: Egal ob Geiger sich mit dem Recht, mit Problemen sozialer Schichtung, Normierung oder Ordnung beschäftigt — das mit dem Sozialen untrennbar verknüpfte Phänomen der Macht gilt es gesondert zu berücksichtigen. Er läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß die auf Ungleichheit beruhende Koordination des Handelns nicht den Ausnahmefall, sondern den Regelfall darstellt. Bei der sozialen Interdependenz handelt es sich somit zumeist um Abhängigkeitsbeziehungen, die auf Über- und Unterordnungsverhältnissen beruhen. Dieser Einsicht entsprechend hat Geiger (RS, 50) eine Untersuchung über die sogenannte Klassenjustiz — also nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit der Ungleichheit des Ordnungsgefüges Recht — angekündigt (RS, 40), die er jedoch nicht mehr zu realisieren vermochte.

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  9. Luhmann, der sich ebenfalls dem Grundproblem der Vermeidung von Handlungser-wartungsenttäuschungen oder, positiv formuliert, der Herstellung von Erwartungssicherheiten stellt, geht noch einen Schritt weiter: Für ihn gehört es zu sinnhaft geordneten Verhaltenserwartungen, mögliche Enttäuschungen einzuplanen und mögliche Reaktionen zu antizipieren. Vgl. hierzu auch Menzel (1985, 52f), der Luhmann und Geiger vergleichend gegenüberstellt.

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  10. Diese Akzentsetzung ist wohl gemeint, wenn Elmar Menzel (1985, 34) eher verdunkelnd als erhellend schreibt: “Der Komplex an Strukturen, die sich infolge von Gesellschaft bilden, deren Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen sind Geigers zentrales Erkenntnisinteresse.”

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  11. Obwohl Sittenregeln aus Gewohnheiten und Bräuchen hervorgehen, können diese aufgrund ihrer normativen Indifferenz unter den hier interessierenden Aspekten der Ordnungssicherung vernachlässigt werden.

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  12. Legt man hier Geigers Machtbegriff zugrunde, kann man ganz allgemein formulieren, daß sich mit dem Staat die Chance verbindet, gewisse Ereignisverläufe steuern zu können. Wobei vorausgesetzt wird, daß sich durch die einspielenden Routinen der Machtausübung eine nach Regeln geleitete Herrschaft verfestigt.

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  13. Die Konzentration Geigers auf die in der Rechtsordnung verkörperte Interdependenz heißt nicht, die der modernen Gesellschaft eigene Pluralität der Ordnungsgebilde zu übersehen. Neben dem Zwang des Rechts finden auch die anhaltende Wirkmächtigkeit von Traditionen, Sitten und Gewohnheiten als Leitmotive des menschlichen Handelns ihre Berücksichtigung (RS, 159f; 328f).

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  14. Nochmals: Dem rechtspositivistischen Ansatz Geigers entsprechend versteht es sich von selbst, daß nicht unter material-inhaltlichen Gesichtspunkten die Besonderheiten der Rechtsordnung gegenüber anderen sozialen Ordnungsgefügen ausfindig gemacht werden können. Hierzu erhält man allein in der Betrachtung des Typus des ordnungsbewahrenden Gesellschaftsintegrates und der Struktur des Ordnungsmechanismus eine Auskunft (RS, 161). Mit Geiger läßt sich lediglich formal und strukturell argumentieren, daß die Zentralmacht diejenigen Lebensverhältnisse rechtlich zu regeln sucht, deren Existenz funktional für die bestehende Gesellschaft ist. Vgl. hierzu auch Günter Mette (1980, 175), der in einer systemtheoretischen Lesart den funktionalistischen Zuschnitt der Geigerschen Argumentation unterstreicht.

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  15. Diesen Terminus wählt Geiger in Anlehnung an Georges Gurvitch, der zwischen Mißtrauens- und Zutrauenssphäre unterscheidet, um rechtliche von vorrechtlichen Sozialordnungen abzuheben.

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  16. Dieser Gedankengang soll natürlich nicht besagen, daß die Integration der Gesellschaft in Gänze im Lichte der im Recht verkörperten zwanghaften sozialen Interdependenz zu betrachten ist. Geiger kehrt zwei Aspekte, den des Zwangs und den der “freiwilligen funktionalen Abstimmung” (Mette 1980, 67), hervor. Denn zum einen stehen die in den Primärgruppen wirksamen “vitalen Zusammenhänge” der sozialen Interdependenz in eben jener “zwangfreien Unmittelbarkeit” , mit der man sich dort mit den anderen verbunden weiß, dieser Auffassung entgegen. Und zum anderen ist sich Geiger — um es zu wiederholen — bewußt, daß das Recht natürlich nur einen, wenn auch zentralen Faktor in der Gesamtheit zahlreicher Ordnungsgefüge darstellt. Die Argumentation, daß nicht nur der Rechtszwang, sondern die aus dem Zusammenleben erwachsenden Zwänge den Rechtsgehorsam bedingen, findet sich auch bei dem Rechtssoziologen Eugen Ehrlich, der schon 1913 festhält: “Der Mensch handelt daher dem Rechte gemäß in erster Linie, weil ihn gesellschaftliche Zusammenhänge dazu nötigen” (1967, 51). Einiges spricht dafür, daß Geiger — der Ehrlichs Grundlegung der Soziologie des Rechts positiv rezensiert (1929f) — von diesem befruchtet wurde. Belegen läßt sich dies freilich nur ansatzweise, da seine nur mit spärlichen bibliographischen Verweisen versehene Rechtssoziologie von Ehrlich, ähnlich wie übrigens von Max Weber, expressis verbis nur am Rande Notiz nimmt.

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  17. Geiger spricht gelegentlich auch von “Veräußerlichung” (RS, 294), um zum Ausdruck zu bringen, daß die Ordnung des Rechts dem einzelnen als ein organisatorisch objektiviertes Sozialgebilde, d.h. eine externe Macht außerhalb seiner selbst gegenübertritt. Oder, wie Geiger auch sagt, die Stufe der “Alleno-mie” ist durch die der “Heteronomie” abgelöst worden (RS, 265f.).

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  18. Dem Zusammenhang von Gewalt und Macht mißt Geiger einen hohen Stellenwert bei. Den Ursprung hierfür sieht er in der physischen Kraft des Menschen. Überlegene Körperstärke gilt ihm — neben Schlauheit, Charme, Wissen und Überredungskunst — als von der Natur gegebener “primärer Machtfaktor” , der zumindest implizit die Androhung oder Ausübung von physischer Gewalt beinhaltet. Er nennt ein Machtverhältnis immer dann ein Gewaltverhältnis, “sofern die Chance der Steuerung menschlichen Verhaltens auf der Anwendung physischen Zwangs oder Drohung damit beruht” (RS, 341). Vgl. hierzu auch die offensichtlich von diesen Ausführungen inspirierte Gewaltkonzeption von Heinrich Popitz (1992, 43 ff).

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  19. Der völligen Beliebigkeit im Herrschaftshandeln entspräche die “in Reinkultur durchgeführte Despotie” , die aber ein Gedankenkonstrukt bleibt, da sich in jeder Herrschaftsform gewisse Regelmäßigkeiten herausbilden, die für das Herrschaftshandeln eine verbindliche Wirkung haben (RS, 376).

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  20. Neben der Rechtsbindung der Herrschaft ist es der zur Herrschaftsausübung erforderliche bürokratische Apparat, die Gewaltenteilung und nicht zuletzt die Widerstandsbereitschaft der Beherrschten, die die Machtfülle des Staats relativiert.

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  21. Mit dem Begriff der “interkursiven Machtverhältnisse” (RS, 342) thematisiert Geiger das komplexe Gewebe der in einer Gesellschaft widerstreitenden Machtgruppen. Wichtig ist danach zu betonen, daß Machtbeziehungen niemals einseitig und monolithisch gedacht werden können. So ist auch das Verhalten der Machtunterlegenen immer nur bis zu einem gewissen Grad, nie aber restlos steuerbar. Immer hört die Macht der einen dort auf, wo die Gegenmacht der anderen sich meldet, so daß durch die bloße Voraussicht des Widerstands der Machtgebrauch der Mächtigen kontrolliert wird.

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  22. Die Gestaltungsspielräume, die sich mit den Herrschaftsregeln in der Praxis verbinden, gehören natürlich auch in den Bereich der Machterscheinungen. Immer haben die Träger des Herrschaftsapparats Entscheidungsspielräume und verfügen insofern über Macht. Kurz: Herrschaft und Macht treten miteinander verbunden auf.

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  23. So kann die Zentralmacht beispielsweise das Richterkorps, trotz des Abhängigkeitsverhältnisses in der Regel nicht als Ganzes zur Räson zwingen. Es gehört aber, wie Geiger anmerkt, zur “unauslöschlichen Schuld” des Richterstandes im Nationalsozialismus, hier die Abweichung von der Regel ermöglicht zu haben. Es heißt, daß der Stand “allzuwenige Persönlichkeiten zählte, an deren um persönlicher Gefahr unbekümmerter Standhaftigkeit kollektiver Widerstand des Richterstandes als ganzen sich hätte emporranken können. Statt dessen erwies sich der Stand als ein Heer depravierter Kreaturen der brutalen Gewalt” (RS, 380).

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  24. Mythen sind ähnlich wie Wertideen und Ideale für Geiger “ein begleitendes Epiphänomen, ein spiritueller Überbau des Machtverhältnisses” (MuR, 42ff).

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  25. Zu dieser Beharrungskraft tragen vor allem auch Habitualisierungseffekte auf Seiten der Herrschenden wie auch Beherrschten bei. Bestehen Rechtsnormen erst einmal, so die Argumentation, wirken sie mit dem Beharrungsvermögen einer Institution (RS, 343), und es kommt als Folge tatsächlicher Herrschaftspraxis zu einer “gewohnheitlichen Legitimierung von Herrschaftsdispositionen” (RS, 355), die wiederum den Herrschaftsstatus perpetuieren.

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  26. Insofern ist die Verfassung eine auf einer labilen Machtbalance beruhende Übereinkunft, auf die sich die Herrschenden und Beherrschten haben einigen können.

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  27. Der Zusammenhang von institutionalisierter Erwartungshaltung und potentieller Widerstandsbereitschaft gilt für alle eingeübten herrschaftlichen Handlungsweisen. Umgekehrt verbindet sich mit dem vorläufigen Verzicht auf herrschaftliche Eingriffsrechte immer auch das Problem, für einen späteren Zeitpunkt, wie Geiger schreibt, alle “Dispositionsmöglichkeiten verwartet (zu) haben” (RS, 378).

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  28. Da der Staat Inhaber des Monopols auf Zwangsanwendung ist, fügt Geiger spitz an, wird er im Falle eines Verfassungsbruchs die Verhängung von Sanktionen gegen sich selbst zu relativieren wissen (RS, 375).

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  29. Der erkenntniskritische Hintergrund ist klar: Für Geiger sind Handlungen niemals wesenhaft gut oder schlecht; dieser Charakter wird ihnen lediglich gesellschaftlich zugeschrieben. Der Gehalt der Moral, d.h. das konkret Gute und Schlechte sind hiernach “völlig imaginäre” und für ein rationales Weltbild inexistente Größen (RS, 299): “Erfahrungswissenschaft kann sich mit dergleichen nur in der Weise befassen, daß sie sie als psychologische Merkwürdigkeiten verzeichnet und analysiert. Sie ihren Inhalten nach ernst zu nehmen ist das Vorrecht der Laien, die von ihnen besessen sind, der Metaphysiker, dogmatischen Theologen und Politiker. Leider leisten nicht wenige Juristen ihnen Gesellschaft” (RS, 299f.).

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  30. Dabei ist es nur in idealtypischer Zuspitzung gerechtfertigt, eine strikte Trennung moralischer und spezifisch rechtlicher Gehorsamsmotive zu unterstellen. In Wirklichkeit sind Recht und Moral “die systematisch differenten Begriffe von interferierenden Erscheinungskreisen” (RS, 297). So hat — um nur ein Beispiel zu nennen — die Verurteilung des Mordes sowohl in den Rechts- wie auch in den Moralvor-Stellungen eine gemeinsame Grundlage. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die Inhalte vieler Rechtsregeln moralisch indifferent sind, wie es etwa für rein ‘technisch’ begründete Verfahrensregeln gilt. Umgekehrt gibt es zahlreiche Moralnormen, die keinerlei Niederschlag im Recht gefunden haben.

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  31. Nach Geiger sind idealtypisch drei historisch aufeinanderfolgende Grundformen der Moral zu unterscheiden (RS, 303ff): Erstens die “traditionelle” , durch althergebrachte Gewohnheit und ständige Wiederholung eingeübte Moral. Zweitens die “dogmatische Moral” , die — entweder auf der Grundlage der Theologie oder einer profanen Metaphysik stehend — die objektive Gültigkeit bestimmter Wertideen unterstellt. Drittens die mit den Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung und Individualisierung verbundene “autonome Gewissensmoral” , die die evolutionär höchste Entwicklungs- und Verinnerli-chungsstufe repräsentiert und den einzelnen als selbstverantwortlichen Sittengesetzgeber erscheinen läßt, der die Maximen seines Handelns zur reinen Angelegenheit seines Gewissens macht (RS, 305ff; MuR, 67f). Jetzt ist die Individualmoral sozusagen eine Richtschnur für das solitäre Dasein, “in dem der Mensch einsam im Angesicht seiner Wertidee (seines Gottes) steht” (RS, 302). Dabei glaubt Geiger, daß die eher philosophisch-theoretisch als empirisch gewonnene These einer hochgradig subjektivierten Gewissensmoral in der Realität deshalb wenig Bestätigung findet, weil die Menschen nur höchst selten in der Lage sind, von der ihnen zugebilligten Autonomie Gebrauch zu machen. Vielmehr würden sie sich zumeist den von Tradition und Milieu vorgezeichneten Bahnen anschließen (DoD, 162). Deshalb sind es genau genommen weniger interindividuelle Differenzen der Moralvorstellungen als die Unterschiede zwischen den Gruppen und Milieus, die die Differenzierungslinien der Moralordnung bestimmen.

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  32. Geiger hat größte Probleme mit dem Kollektiv- und Abstraktionsbegriff des “Rechtsbewußtseins” , sobald nicht das Individuum, sondern Kollektive als Träger gedacht werden (RS, 110).

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  33. Dieses Credo betrifft ausdrücklich auch die lediglich auf einen Kern kollektiver Moralsubstanzen beschränkte, ansonsten aber sittlich indifferente Rechtsordnung. Wegen der Tiefe des normativen Dissen-ses glaubt Geiger nicht an eine Konzeption, die im Recht die auf Zwang gründende Verwirklichung eines moralischen Minimums sieht (MuR, 173).

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  34. Vgl. hierzu insbesondere: MuR 24–55, 169ff; RS 319ff; DoD 181–208.

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  35. Vgl. hierzu das Streitgespräch Über Moral und Recht (MuR), welches an vielen Stellen bezeugt, wie wohl sich der Querdenker Geiger in der Nähe der von der “Spießbürgeröffentlichkeit” als kulturgefährlich und moralauflösend verketzerten Uppsala-Philosophie unbeschadet aller Kritik im Detail fühlte (MuR, 24f).

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  36. Alfred Weber (1953) beschwört einige Jahre später — genau umgekehrt — die Gefahr eines pragmatischen Nihilismus. Karl Mannheims Einsatz für eine von den Intellektuellen getragene kollektive Wertstiftung folgt ähnlichen Ängsten.

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  37. Aber nicht nur das; Geiger kreidet Hägerström an, stellenweise den sozialen Nutzen von Wertvorstellungen regelrecht glorifiziert zu haben (ÜMR, 26).

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  38. Kritisch könnte man hier einwenden, daß die Einsicht in die Erkenntnisillegitimität der Werturteile noch nichts über ihre empirische Funktion im Kontext der Gesellschaft sagt. Denn ob moderne Gesellschaften normativ integriert sein müssen und inwiefern eine derartige Integration förderlich für bestimmte soziale Funktionen ist, stellt ein faktisches und nicht ein logisches Problem der Erkenntnistheorie dar. Vor allem in dem Buch Demokratie ohne Dogma wird deutlich werden, daß es das Zusammenspiel erkenntnistheoretischer Erwägungen einerseits und zeitdiagnostischer Befunde andererseits ist, welches dem von Geiger vertretenen Wertnihilismus seine Grundlage gibt.

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  39. Freilich schätzt Geiger die Gefahr des Umschlags von der subjektiven zur kollektiven Wertorientierung hoch ein, da aller Wertglaube auf die Bestätigung durch den kollektiven Kult hindrängt: “Der Gläubige sucht andere, die seinen Glauben teilen” (DoD, 145).

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  40. Dies ist auch gemeint, wenn Geiger postuliert, ihm sei “nichts heilig” (DoD, 206).

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  41. Dieses Argument ist es auch, weshalb Günter Mette (1980, 174) zu Recht betont: Neben dem Problem der Macht ist es vor allem das der “Funktionalität” des Rechts, das Geigers Ansatz zugrunde liegt.

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  42. Zur Gefahr einer moralisch entleerten Gesellschaft merkt Geiger nur an: “Aufgelöster als unser moralischer Standard durch das Schisma sittlicher Vorstellungen heute schon ist, kann er durch keinen Wertnihilismus werden” (DoD, 208).

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  43. In einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Nachlaß kommentiert Geiger hierzu (o.J.b UN, 11): “Nennen Sie das (...) nach Belieben eine Gesellschaftsordnung jenseits sittlicher Maßstäbe oder nennen Sie es einen übergeordneten sittlichen Standpunkt, die Moral der moralischen Toleranz. Es kommt auf das gleiche hinaus.”

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  44. Geiger verhehlt nicht, daß sich die Durchsetzung der Lehren des Wertnihilismus mit Schwierigkeiten verbinden wird. Spöttisch merkt er deshalb an: “Die Schutzengel der Moral können beruhigt sein — vorläufig droht keine Gefahr, daß der Wertnihilismus populär wird. Dafür ist er zu subtil — und zu zivilisiert. Eher werden wir uns noch einige Zeit im Namen der alleinseligmachenden Moral herumschlagen” (ÜMR, 35). Legt man Demokratie ohne Dogma zugrunde, ist Geiger aber guter Dinge, daß die Beharrungskräfte der Tradition und Konvention längerfristig den Erfolg des Wertnihilismus kaum verhindern werden können (DoD, 255).

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  45. Siehe hierzu auch Helmut Dubiel (1995), nach dessen Überzeugung in nachtraditionellen kulturelle Ordnungen weder durch Rechtszwang noch durch einen staatlich dekretierten moralischen Autokratismus politische Wertkonflikte bewältigt werden können. Er sieht sich ebenfalls gezwungen, auf die Notwendigkeit einer “einsichtsvollen individuellen Gemeinschaftsverpflichtung” (731) der Bürger abzuheben.

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  46. Die Notwendigkeit einer auch für moderne Gesellschaften erforderlichen normativen Integration konkretisiert Durkheim bekanntlich an der Idee einer quasi ständischen Berufsethik als intermediären Moral.

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  47. Geiger bescheidet, daß man sich “nun einmal mit anderen im gleichen Boot befindet und sich mit ihnen flott halten oder gemeinsam untergehen muß” (DoD, 168).

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  48. Siehe hierzu auch Fußnote: 321

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  49. Die aus der sozialen Interdependenz erwachsende Notwendigkeit der Einfügung in die bestehende sozialen Ordnung nennt er jetzt sogar eine neue Form der “Moral” (DoD, 167). Freilich meint dies etwas anderes als im herkömmlichen wertethischen Sinn. Denn diese Art der Gesellschaftsmoral befindet sich nicht nur jenseits aller idealistisch-metaphysischen Überhöhungen, sondern sie “steht und fällt geradezu mit dem praktischen Verzicht auf Werturteile” (DoD, 167). Ausführlich beschäftigt sich Geiger mit diesem Problem in Fortidens Moral ogfremdtidens (1952b) (Die Moral der Vergangenheit und Zukunft).

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  50. Inwiefern moralische Enthaltsamkeit, die nach Geiger keinesfalls auf den Bereich der Rechtsordnung beschränkt sein soll, zur Befriedung der Gesellschaft beitragen kann, erläutert Geiger (1951a) in einer Publikation, die sich mit der Stigmatisierung Homosexueller auseinandersetzt. Dort wird das Zurückbleiben allgemeiner bürgerlicher Moralbegriffe hinter der in der modernen Rechtsentwicklung sich ausdrückenden moralischen Befreiung der Gesellschaft beklagt. Geiger (1951a, 750) setzt auf eine ideologiekritische, sich von allen moralischen Fragen verabschiedende Aufklärung, um zu erreichen, daß “Mitmenschen mit homosexuellen Neigungen mit spießbürgerlichen — und in vielen Fällen heuchlerischen — moralischen Urteilen in Frieden gelassen werden.”

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  51. Welches nichts anderes heißt, als daß sich mit dem ethisch neutralisierten Recht auch die Chancen einer freiwilligen Selbsteinfügung erhöhen.

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  52. Einiges spricht dafür, daß Luhmann (1972, 26), der wohl kaum zufallig Geigers Rechtssoziologie in den höchsten Tönen preist, hier unmittelbar inspiriert wurde; dafür spricht auch, daß Luhmann — trotz seinen wiederholten Distanzierungen gegenüber einer ‘Klassikersoziologie’ — einer der Hauptredner eines Symposiums in Basel im November 1991 aus Anlaß des 100. Geburtstags Geigers war.

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  53. Wenn Luhmann die Ethik als Reflexionstheorie der Moral bestimmt, die sich mit der Beschreibung ethischer Normen begnügt, da sie diese nicht begründen kann, sondern vorfindet (1989, 360), entspricht das exakt der Behandlung, die Geiger der Moral zukommen läßt. Für Geiger wie Luhmann gilt es, zu allen moralischen Wertungsfragen Abstand zu gewinnen und nach Möglichkeit aus einer rein beobachtenden Außenperspektive moralische Phänomene in den Blick zu nehmen.

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  54. Dem rechtspositivistischen Plädoyer für die Trennung von Recht und Moral, das von Geiger und Luhmann vorgetragen wird, widerstreitet mit allem Nachdruck Jürgen Habermas (1992). In dessen diskurstheoretisch geleiteter Rechtstheorie wird — ohne die funktionalen Erfordernisse eines ausdifferenzier-ten positiven Rechts grundsätzlich in Abrede zu stellen — das Recht und seine Entwicklung explizit an die politischen Diskurse über Moral und Gerechtigkeit angebunden.

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  55. Der Funktionscode muß “auf einer Ebene höherer Amoralität eingerichtet sein” , denn nach Luhmann verlangt die Logik des Systems das motivlose Akzeptieren von Entscheidungen (1990, 24). Diese Sicht wird von konkurrierenden Paradigmen durchaus geteilt. So etwa, rollentheoretisch akzentuiert, in der phänomenologischen Soziologie Thomas Luckmanns (1979, 306).

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Meyer, T. (2001). Recht als Ordnungsform moderner Gesellschaften. In: Die Soziologie Theodor Geigers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89595-0_8

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