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Fragen zur Struktur und Ordnung moderner Gesellschaften

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Die Soziologie Theodor Geigers
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Zusammenfassung

Zieht man die einschlägigen methodologischen Schriften Geigers heran, kann es keinen Zweifel geben: Mit größter Beharrlichkeit wird dort der Durchsetzung einer empirisch-problemorientierten, möglichst konkreten Soziologie das Wort geredet; zugleich werden aber auch verschiedentlich Bedenken gegenüber der Entwicklung einer umfassenden Gesellschaftstheorie zum Ausdruck gebracht. Dies ändert aber nichts an dem Sachverhalt, daß sich Geiger insbesondere in wichtigen Teilen seines Spätwerks dem Ziel verschreibt, die gesellschaftliche Moderne begreiflicher zu machen. Wie andere Klassiker auch versucht er Antworten auf die Frage zu geben, was die Moderne auszeichnet.299 Obwohl die hier angedeutete Zugehörigkeit wich-tiger Geigerscher Arbeiten zum makrosoziologischen Denken gelegentlich betont wurde (Mette 1980, Schmid 1980, Menzel 1985), muß man mit Horst Pöttker (1989, 286) beklagen, daß Geigers Beschäftigung mit den Aufbau- und Integrationsprinzipien der modernen Gesellschaft zumeist übersehen wurde, so daß bis heute die Aufgabe ungelöst ist, den konzeptionellen Kern der Geigerschen Beiträge zur Struktur der Moderne auszuloten.

Das gravierende Problem liegt in der Unfähigkeit der heute vorherrschenden Soziologie, zu einer Theorie der modernen Gesellschaft zu kommen. Eine wesentliche Aufgabe der Soziologie bleibt damit unerfüllt. (...) Man überläßt damit Redensarten wie ‘Ende der Geschichte’, ‘Postmoderne’, ‘Sieg der liberalen Marktwirtschaft über den Sozialismus’ und anderem öffentlichen Unfug das Terrain, für das die Soziologie eine eigene Zuständigkeit reklamieren könnte.

NiklasLuhmann(1992)

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Literatur

  1. Zu diesem Zweck verweist der frühe Geiger auf die Notwendigkeit sich mittels einer synthetischen Gesamtschau ein Bild zu machen: “Das Bedürfnis nach einer Synthese ist bekanntlich gerade gegenwärtig stark und ernsthafte Wissenschaft darf sich den Forderungen des Lebens um so weniger versagen, als sonst von minder verantwortlicher, halbwissenschaftlich-quacksalbernder Seite jene Forderungen in verhängnisvoller Weise ‘erfüllt’ werden” (1927, 368). Pointiert bringt auch Karl Mannheim das Erfordernis einer Synthese des gesellschaftlichen Totalitätszusammenhangs auf den Punkt (1932, 22f): “So vorsichtig man auch gegenüber allen Konstruktionen sein muß, die hier auftreten und auftreten werden -denn sie verführen allzu leicht in das Gebiet der unkontrollierbaren Spekulation -, so ist die Aufgabe, die hier vorliegt, in ihrer Echtheit nicht zu bezweifeln. Man kann sich so sehr gegen konkrete historische Systeme und Synthesen sträuben, man wird doch nicht leugnen können, daß die Aufgabe, die verschiedenen Teilergebnisse historisch-gesellschaftlichen Forschens zusammendenken zu müssen, unumgänglich ist. Nicht die Unersättlichkeit und Maßlosigkeit des Soziologen ist daran schuld, wenn er über sein wohlbegrenztes Sondergebiet hinausgeht und damit die Einzelwissenschaften unter Umständen stutzig macht. Die Wirklichkeit selbst hat es dahin kommen lassen. Denn sie hat den Einzelforschern nicht den Gefallen getan, sich in wohlabgegrenzten Spezialsphären zu entfalten, derart, daß die eine Spezialsphäre nichts weiß von dem, was sich in der anderen abspielt.”

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  2. Damit ist auch gesagt, daß Theorien der Moderne für den auf Empirisierung und Konkretisierung drängenden Geiger notwendigerweise ‘überambitionierte’ Unternehmen darstellen, die immer nur Bausteine zu einem niemals zu vollendenden, immer fragmentarisch bleibenden Projekt sind. Hierauf weist gerade Jürgen Habermas (1979, 7) mit Nachdruck hin, der sich ja mit seiner Theorie kommunikativen Handelns selber als Baumeister einer ‘Großtheorie’ der Moderne hervorgetan hat.

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  3. Rainer M. Lepsius (1979a, 167) verweist darauf, daß man es in modern-komplexen Gesellschaften nicht nur mit einem, sondern mit verschiedenen, z.T. völlig unabhängigen oder gar gegensätzlichen Strukturprinzipien zu tun hat, deren konkrete Mischung erst die Eigenart einer gesellschaftlichen Formation ausmacht. Daniel Bell (1975, 18f, 27ff; 1991, 9f.) spricht sich ebenfalls lautstark gegen jede monistisch ausgerichtete gesellschaftstheoretische Zugriffsweise aus. Nach Bell ist die moderne Gesellschaft durch die Gleichzeitigkeit verschiedener “axialer Prinzipien” geprägt, mit deren Hilfe nicht die Fragen nach Ursache und Wirkung beantwortet werden sollen, sondern nur die nach den Hauptachsen, um die sich eine Gesellschaft dreht (Bell 1975, 27). Er schlägt zu diesem Zweck eine analytische Unterteilung der modernen Gesellschaft in eine sozialstrukturelle, kulturelle und politische Ordnung mit ihren jeweils entsprechenden axialen Grundprinzipien vor. Eine Dreiteilung könnte man auch in der Modernitätskonzeption Geigers rekonstruieren: auf der Ebene der Sozialstruktur durch das Prinzip vertikaler und horizontaler Differenzierung, auf der Ebene der Kultur durch das Prinzip des Werteschismas und auf der Ebene der Politik durch das Prinzip des positiven Rechts.

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  4. Nichtsdestotrotz lassen sich anhaltende Unternehmungen benennen, die versuchen, die Gesellschaftsstruktur anhand eines axialen Prinzips, sozusagen aus einem Guß, zu deduzieren. Jüngere Beispiele im deutschen Sprachraum sind z.B. die “Erlebnisgesellschaft” von Gerhard Schulze (1992) oder die “Multi-optionsgesellschaft” (1994) von Peter Gross. Für eine tiefergehende Bestimmung der Struktur der modernen Gesellschaft und ihrer Gestaltungskräfte geben solche Vorhaben freilich wenig her. Sie sind zu sehr auf bestimmte Gesichtspunkte und auf äußere Erscheinungsformen fixiert, oft auch einfach zu modisch.

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  5. Die soziologische Modernitäts- und Modernisierungsdebatte ist seit jeher, mal eher gewollt, mal eher ungewollt, unweigerlich mit dem Problem der Bewertung der Sozialordnung verknüpft.

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  6. Diese, wenn man so will, ‘modernitätsfreundlichere’ Vorgehensweise kennzeichnet auch die Chicago School der amerikanischen Soziologie, die ihre Aufmerksamkeit auf die im Zuge der Modernisierungsprozesse erkennbaren neuen Sozial- und Gruppenbildungen richtet.

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  7. Schon in Geigers Soziologie der Masse wird die in Anbetracht seiner ansonsten deutlich marxistisch eingefärbten Analysen, die überraschende Ansicht formuliert, daß weniger in den wirtschaftlichen und politischen Umständen denn in dem Zerfall des traditionellen Wertekosmos der destruktiv-revolutionäre Charakter der Zeit zu suchen sei (MA, 44, 73).

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  8. Ähnliche Sichtweisen auf die archaische Sozialordnung findet man, — um nur ein Beispiel zu nennen -bei Thomas Luckmann (1979, 304): “Die institutionellen Normen, die das Handeln in der Alltagswirklichkeit bestimmten, waren einer außerordentlichen, rituell und symbolisch erfaßten, mythologisch gedeuteten Wirklichkeit untergeordnet. Sie wurden ‘religiös’ legitimiert und hatten keinen von umfassenden Welt- und Lebensdeutungen ablösbaren, ganz und gar eigenen und verselbständigten Sinn.”

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  9. Nach Emile Durkheim sorgt (1988, 205) das religiös imprägnierte Kollektivbewußtsein dafür, daß “das Bewußtsein aller im Einklang (vibriert)” . Dieses ‘überintegrierte’ Bild der einfachen Gesellschaften als Musterfällen sozialer Stabilität ist mittlerweile in Anbetracht vielfältiger Korrekturen und Nuancierungen durch die kulturanthropologische Forschung, wiewohl nicht grundsätzlich in Frage gestellt, so aber doch modifiziert worden. Dies braucht in unserem Zusammenhang nicht weiter zu interessieren, da es hier nur um eine bewußt idealtypisch stilisierte Kontrastfolie geht. Obwohl sich so lediglich hochgeneralisierte Bilder entwerfen lassen, die der faktischen Vielgestaltigkeit der Realität kaum gerecht werden, erfüllen sie die heuristische Funktion, den Abstand zwischen prämodernen und modernen Gesellschaften schlaglichtartig zu verdeutlichen.

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  10. Hinsichtlich der Säkularisierungsdiagnose darf natürlich nicht vergessen werden, daß es lediglich “eine einzige geographische Region und nur eine einzige übernationale Bevölkerungsgruppe gibt, auf welche die Säkularisierungstheorie voll und ganz zu passen scheint. Die Region heißt Europa und die Bevölkerungsgruppe besteht aus Personen, die — egal wo sie leben — eine höhere Ausbildung westlichen Stils genossen haben. Anders als in vielen anderen Teilen der Welt, wo es auch unter westlich gebildeten Menschen starke Gegenkräfte gegen die Säkularisierung gibt, lassen sich in der Region Europa bislang keine Anzeichen für eine Gegenbewegung entdecken” (Berger 1994, 36; ähnlich Berger/Luckmann 1995, 40f). Wichtig erscheint mir aber auch, daß man zwischen Entkirchlichung und Religionslosigkeit unterscheidet, um ein komplexeres Bild zeichnen zu können, als eine naive Lesart der Säkularisierungsthese nahelegt.

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  11. Unübergehbar zum Verständnis des Wandels der moralischen Grundlagen im Kontext fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse ist natürlich Emile Durkheims Schrift Über soziale Arbeitsteilung (1977), in der er die Denkfigur entwickelt, daß sich das Kollektivbewußtsein in dem Maße verringert, wie sich die Arbeit teilt (406). Während Gesellschaften segmentären Typs das “Individuum ganz eng einschließen (und) es stärker (...) an die Tradition (halten)” (Durkheim 1977, 343), wird im Zuge fortschreitender Differenzierung das Kollektivbewußtsein “schwächer und undeutlicher” (ebd., 194). Die “funktionale Vielfalt zieht eine moralische Vielfalt nach sich” (ebd., 403). Die Handlungsnormen folgen nunmehr den teilbereichsspezifischen Grundfunktionen oder sind zweckrational auf diese bezogen und haben die Anbindung an einen übergeordneten religiösen Sinnhorizont unwiderruflich verloren. Zum Problemkreis der moralischen Integration der Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung der Perspektiven u.a. von Emile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann vgl. jetzt auch: Firsching (1994, bes. Kapitel 5).

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  12. Sehr dezidiert rückt auch Karl Mannheim (1951, 24ff) das Chaos im Wertungssystem und die schroffe Gegensätzlichkeit der Lebensphilosophien in den Mittelpunkt seiner Zeitanalysen; allerdings zieht er hieraus völlig andere Schlußfolgerungen als Geiger.

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  13. Weber folgt einer Sicht, die die Ausdifferenzierung von Wertmustern, Lebensbereichen und Geltungsdimensionen (des Wahren, Guten und Schönen) unterscheidet. Hier setzt auch die evolutionistisch-systemtheoretische Lesart der Weberrezeption von Wolfgang Schluchter und Jürgen Habermas an, die die ‘eigenlogische’ Entwicklungsdynamik wechselseitig indifferenter Teilbereiche akzentuiert. Die Entwicklung der inneren Eigengesetzlichkeit der einzelnen Sphären bringt danach die gesellschaftlichen Spannungen hervor. Weber hat namentlich den Gegensatz zwischen den Gesetzmäßigkeiten der Politik, der Ökonomie und der Wissenschaft auf der einen und der Brüderlichkeitsethik auf der anderen Seite herausgearbeitet. Seine Rede von Wertsphären und Lebensordnungen formuliert die Vorstellung einer Eigenlogik gesellschaftlich ausdifferenzierter Bereiche, die dem unentrinnbaren Antagonismus der verschiedenen Wertordnungen zugrundeliegen. Wer sich der politischen, der religiösen, der intellektuellen oder der ästhetischen Sphäre voll und ganz verschreibt, der bekommt die Eigengesetzlichkeit des Dämons, der die Fäden des Lebens in den Händen hält, mit aller Macht zu spüren und wird, so Weber, fast zwangsläufig mit den Anforderungen der anderen Lebensordnungen in Konflikt geraten. Man sieht: Weber stellt sich weniger dem Problem gesamtgesellschaftlicher Wertintegration als dem Problem einer allgemein begründbaren, konsistenten ethischen Lebensführung. Vgl. genauer hierzu: Kalberg (1981) und Schluchter (1996).

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  14. In Anbetracht einer hochgradig pluralisierten Moderne gehen die Vertreter des radikalen Liberalismus davon aus, daß die Gesellschaft sich nur in Form sozialer Konflikte zu sich selbst in Beziehung setzen kann(Dubiel 1994, 114f).

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  15. Durch die zeitgeschichtlichen Umstände der nicht nur ökonomisch, sondern gerade auch politischkulturell gespaltenen Weimarer Demokratie dürfte Geiger in seiner theoretischen Position gestärkt worden sein. Der Zerfall einer kohärenten Glaubens- und Wertordnung bildet aber auch das alles überragende Thema der damaligen Wertphilosophie. In Nicolai Hartmanns viel zitiertem Topos von der Tyrannei der Werte findet dieses Bewußtsein eine Ausdrucksform: “Jeder Wert hat — wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person — die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht diametral entgegengesetzt sind” (Hartmann 1926, 524).

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  16. Adam Smith war der erste, der das Kompatibilitätsproblem moderner arbeitsteiliger Wirtschaftsstrukturen mit der gesellschaftlichen Moral in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Zu erwähnen ist hier aber natürlich auch Emile Durkheims Dissertation Über soziale Arbeitsteilung (1977), die für eine strikt moralistische Behandlung des Ordnungsproblems steht. Die Moral erscheint bei ihm als “das unentbehrliche Minimum (...), ohne das die Gesellschaften nicht leben können” (1977, 97). Im Anschluß an Durkheim erhebt dann insbesondere Talcott Parsons die Integrationsproblematik zum Grundproblem der soziologischen Analyse, wobei er aber auf den überragenden Stellenwert des kulturellen Wert- und Normensystems als zentraler Integrationsinstanz der Moderne insistiert. Eine Sicht, die ebenso wie die von Durkheim, mit Geiger nichts gemein hat.

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  17. Ähnlich fällt die Problemsicht Karl R. Poppers aus: Je mehr man versucht, zum heroischen Zeitalter der Stammesgemeinschaft zurückzukehren, desto sicherer landet man bei Inquisition, Geheimpolizei und einem “romantischen Gangstertum” (1957/58, Bd. 1, 268).

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  18. Bestrebungen einer Ethisierung der Gesellschaft finden sich bei Max Scheler, Ernst Troeltsch und Karl Mannheim als den bekanntesten Vertretern der Wissenssoziologie. Sie interpretieren die historische Entwicklung als Prozeß der Wertvernichtung und beabsichtigen deshalb, in einer Art Kultur synthèse die gegensätzlichen Wertstandpunkte durch neue Wertsetzungen zu reintegrieren.

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  19. Die Gegenthese findet sich bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1995, 27), wenn sie Gesellschaften ohne gemeinsame und verbindliche Werte zum Grundtyp einer “krisenanfälligen Gesellschaft” erheben.

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  20. Den Hauptmotor dieser Entwicklung macht Geiger in der Wirtschaft aus. In Anlehnung an Karl Büchers ökonomischer Evolutionstheorie wird eine über die Stufen der Haus-, Dorf- und Volks- bis hin zur Weltwirtschaft reichende Höherentwicklung diagnostiziert, weshalb die industriell-technische Zivilisation “mit kontinentaler, ja globaler Gesellschaft unlöslich verbunden” sei (1952a, 70). Tendenzen einer zunehmenden weltgesellschaftlichen Interdependenz werden in den Spätschriften Geigers immer wieder hervorgehoben (etwa: DoD, 173).

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  21. Verschiedentlich finden sich schon in den frühen Arbeiten Geigers Hinweise auf ein nicht-normatives, auf jegliche Wertstabilisierung verzichtendes Integrationsmodell, das seinen Glauben in die Kohäsions-kraft der arbeitsteiligen, zumal demokratisch organisierten Industriegesellschaft setzt. Schon in Masse und ihre Aktion wird am Beispiel der revolutionären Masse die Ablösung der traditionellen Wert- durch die “mechanische” Ordnungsstabilisierung (MA, 38f.) diskutiert. Diese hebt auf die durch demokratische und ökonomische Teilhabemechanismen erzeugte Interdependenzsteigerung ab, die das Proletariat “in einer höheren Einheit verbindet” (MA, 48f).

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  22. Eine ähnliche Sicht vertritt Norbert Elias (1983), der dem Sachverhalt zunehmender Interdependenz, d.h. der wachsenden Abhängigkeit der Individuen voneinander — neben der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols -, den größten Stellenwert in seiner Zivilisationstheorie zuweist: Im Zuge des “Wandels wird das Netzwerk der menschlichen Tätigkeiten zusehends komplexer, weiter gespannt und fester geknüpft. Mehr und mehr Menschengruppen und dementsprechend mehr und mehr Individuen werden in bezug auf ihre Sicherheit und Bedürfnisbefriedigung voneinander abhängig. (...) Es ist, als ob zuerst Tausende, dann Millionen und Abermillionen durch diese Welt gingen, die Hände und Füße mit unsichtbaren Fäden aneinandergebunden” (21).

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  23. Man handelt eben regelkonform, weil es üblich ist, von der Mitwelt erwartet und unter Zwangsandrohungen eingefordert wird oder ganz einfach, weil man aus pragmatisch-utilitaristischen Motiven die Ordnung als für sich nützlich erkennt. Das hier im Hintergrund stehende Menschenbild ist zweifelsohne das von Thomas Hobbes. Im seiner bekanntesten Schrift, dem Leviathan (1651), geht dieser davon aus, daß sich Menschen nicht nur durch ihre Leidenschaften, sondern auch durch die vernünftige Einsicht in ihre Handlungssituation auszeichnen. Will sagen: Bei dem Problem der Ordnungskonstitution wird das vernünftige (bürgerliche) Individuum unterstellt, das sich ausgehend von dem Bestreben seine Interessen zu wahren, zur rationalen Übereinkunft und Abstimmung mit anderen Akteuren bereit zeigt.

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  24. Unter den Bedingungen der Individualisierung und Autonomisierung wird den kollektiven Geltungsansprüchen der Moral das Wasser abgegraben. Geiger: “Wenn ich mich selbst als moralisch autonom anerkenne und meinen Wertungen nur Gültigkeit für mich selbst und Realisierbarkeit innerhalb meiner allerprivatesten Lebenssphäre zuerkenne, muß die moralische Wertung ihre praktische Bedeutung und ihr Interesse auch für mich selbst verlieren. Der moralische Subjektivismus macht meine Wertung unrealisierbar im wirklichen Zusammenleben mit anderen” (MuR, 67).

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  25. Schon der Arbeiterbildner Geiger (1925, 331) schreibt: Die Subjektivität der Werturteile muß (...) dem Hörer unbedingt klar werden (...) Die Relativität der Wertungen selbst ist wissenschaftliche Erkenntnis und noch dazu grundlegend. Geiger könnte mit dieser auf David Hume zurückgehenden Auffassung von Richard Thurnwald beeinflußt sein, der ausgehend von seinen ethnologischen Feldforschungen der frühen deutschen Soziologie die kulturelle Relativität aller Wert- und Moralvorstellungen einschärfte. Thurnwald war Mitherausgeber der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie und laut Erhard Stölting (1984, 177) Kristallisationspunkt einer mehr empirischen Richtung seines Fachs.

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  26. Im Klartext: Geiger nimmt gleichsam einen ‘Kausalnexus’ zwischen theoretischem und praktischem Wertnihilismus an.

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  27. Den Deutschen attestiert Geiger ihrem Hang zum Irrationalismus entsprechend eine “krankhafte Neigung zum Religiösen” (1923, 35). Wenn Paul Trappe (1978, 267) Geigers Hochachtung gegenüber der Kirche betont, ist das nur insoweit richtig als er im Katholizismus und vor allem im Zentrum — im Unterschied zu dem “ganz und gar sterilen, ideenlosen Protestantismus” (1929b, 358) — einen wichtigen Widerpart der NSDAP ausmachte. Als Trägerin einer dogmatisch-irrationalen Metaphysik konnte die Kirche dagegen nicht mit seiner Sympathie rechnen.

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  28. Seit Emile Durkheim gehört es zum Grundwissen der Soziologie, daß Religionen nicht nur eine Sache des Glaubens sind, sondern regelmäßig kollektive zeremonielle und rituelle Aktivitäten umfassen, die Gefühle der Gruppengemeinschaft und Solidarität bestätigen und den Einzelnen von den Dingen des profanen gesellschaftlichen Lebens in die heilige Sphäre des Erhabenen führen.

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  29. Hier kann Geiger an frühere Publikationen anknüpfen, in denen er formuliert, daß “Weltorientierung in erster Linie Orientierung im aktuellen Lebensraum ist, und daß hier wiederum die (unmittelbaren oder mittelbaren) sozialen Realitäten im Vordergrund stehen” (19301, 318). ‘Das Leben selbst’ nach dem unwiederbringlichen Verlust traditioneller Gewißheiten als neue Sinnquelle anzusehen, schlug der britische Philosoph John Locke schon im 17. Jahrhundert vor. Bei Daniel Bell (1991, 37) heißt es dagegen, daß es zu den tiefsten menschlichen Impulsen gehört, Institutionen und Überzeugungen zu heiligen, um dem Leben einen Sinn zu geben und nicht an die Sinnlosigkeit des Todes glauben zu müssen.

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  30. Damit ist offensichtlich, welchen enormen Beitrag Geiger der objektiven Erkenntnis bei der ‘religioi-den’ Funktion der Angst- und Kontingenzbewältigung zutraut — eine Position, die Günter Mette (1980, 122) treffend in der Formel zusammenfaßt: “Reduktion von Komplexität vermittels Theorie produziert Freiheit von Angst.” Zur Kritik dieser säkularreligiösen Vorstellung, nach der die neue Glaubensmacht Wissenschaft den Platz der Religion einnimmt, siehe Tenbruck (1989, 89–211).

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  31. Prototypisch ist hier Simmel. Er unterstreicht das illusionäre Moment des Glaubens, möchte die Religion aber aufgrund ihres sozialintegrativen und sinnstiftenden Potentials wiederbelebt wissen. Er befürchtet, daß ansonsten mit der fortschreitenden Säkularisierung der wichtigste Kitt, der die Gesellschaft zusammengefügt, verlorengeht (Simmel 1922, 48). Aber auch Karl Mannheim (1951, 152ff.) gehört zu denjenigen, die als Antwort auf die säkulare Neutralisierung aller Wertbezüge deren erneute religiöse Durchdringung fordert.

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  32. Ähnliches könnte man über namhafte gegenwärtige Repräsentanten der Religionssoziologie wie Daniel Bell (1991, 37), Peter Berger und Thomas Luckmann (1995, 27) behaupten, die allesamt die durch den Bedeutungsverlust der Religion ausgelöste kulturelle Krise bewegt.

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  33. Insofern läßt sich, so Geiger (DoD, 196), die Rolle des Wissenschaftlers mit der des Gläubigen zufolge nur im Sinn eines “spirituellen Doppeldaseins” vereinbaren. Ähnlich ist die Sicht Webers, der rät, die Spannung zu ertragen oder unter Opferung des Intellekts einem Glauben anzuhängen.

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  34. Ganz dahingestellt sei an dieser Stelle, wie Geigers szientistischer Vorschlag zu beurteilen ist, die empirische Realität und die wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnisse über sie gewissermaßen als kompensatorische Sinnquelle anzusehen.

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  35. Damit gehört Geiger zu den Ausnahmen derjenigen, die beide, Schichtungs- und Differenzierungsperspektive zugleich akzentuieren und sie nicht — wie zumeist üblich — gegeneinander ausspielen. Allerdings widmet er sich in seinen Arbeiten hauptsächlich der Schichtungsperspektive, während die Differenzierungsperspektive nur sporadisch abgehandelt wird. Auch fehlt der Versuch, beide Sichtweisen zu verzahnen — ein bis heute anhaltendes Desiderat. Erste instruktive Ansätze in diese Richtung finden sich bei Uwe Schimank (1998).

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  36. Kritisch könnte jedoch angemerkt werden, daß in der vorherrschenden, oftmals zeitgeistig-modisch bestimmten Pluralisierungsoptik der neueren Ungleichheitsforschung ein lediglich historisierendes Interesse an Geiger dominiert. Dabei wird übersehen, daß der komplexe Geigersche Ansatz, wie ich finde, für gegenwärtige neuere Aspekte der Ungleichheitsforschung keinesfalls ausgereizt ist. Dies bedürfte allerdings einer eigenen, hier nicht auszuführenden Erörterung.

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  37. Siehe: Dahrendorf (1965, 102f), Bahrdt (1978), Hradil (1987, 76ff), Mahnkopf (1985), Rodax (1992), vor allem aber Geißler (1985; 1995).

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  38. Wobei die Schichten im übrigen nicht nur übereinander, sondern auch nebeneinander gelagert sein können.

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  39. Mit dem Konzept der “Mentalität” leistet Geiger Grundlagenarbeit zum Zentralproblem der Vermittlung von Struktur- und Handlungsaspekt. Die Anschlußfahigkeiten zum Bourdieuschen Habitus-Konzept sind mittlenveile verschiedentlich registriert worden.

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  40. Man sollte allerdings nicht so weit gehen wie Michael Schmid (1980,1), der meint, Geiger “reibungslos” als Systemtheoretiker deuten zu können.

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  41. Damit hebt Geiger einen Grundsachverhalt hervor, den Niklas Luhmann später als den für die Moderne konstitutiven Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung beschreibt.

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  42. “Das ist nicht feiger und eisiger Relativismus, ein entmanntes Alles-gelten-lassen — es ist der letzte Schuß Lebensweisheit dieser Zeit, die erst das ganze Leben in seiner komplexen Mannigfaltigkeit und Eigengesetzlichkeit erschaut hat, die es gewagt hat, nicht mehr in Substanzen, sondern in Prozessen zu denken” (1930b, 418).

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  43. Jetzt zeigt er auch Anklänge, die heuristische Erkenntnisfunktion des soziologischen Organizismus im Sinne Herbert Spencers anzuerkennen (SOC, §8, 15f). Freilich versäumt er es nicht, sich mit Nachdruck vom strengen Organizismus mancher Epigonen — namentlich erwähnt werden Karl Dunkmann, Othmar Spann und Heinrich Treitschke — als geistigen Wegbereitern nationalsozialistischen Gedankenguts zu distanzieren. Kritisch fügt er an: “Es ist nicht schwer, sich von organizistischen Gesellschaftstheorien in die Staatsvergötterung des Faschismus und Nationalsozialismus (...) und in ihre Unterdrückung allen unabhängigen Gruppenlebens zu versetzen. Gleichschaltung ist nichts anderes als die Anwendung der therapeutischen Regeln des Organizismus” (SOC, §8, 18).

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  44. Das Gegenbild ist hier die “monozentrisch” um die Verwandtschaft gruppierte Sozialordnung traditioneller Art.

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  45. Diese Annäherungen an eine soziologische Substanz-Begrifflichkeit werden von Geiger andernorts radikal verworfen: “Keinesfalls darf der Gesellschaftsbegriff so strukturiert sein, daß er ein Primat- oder Prioritätsurteil zu Gunsten des Ganzen1 gegenüber ‘den Einzelnen’ oder eine dinghafte Auffassung der gesellschaftlichen Gebilde enthält. Am sogenannten atomistischen Individualismus ist richtig: Die Gesellschaft muß in und zwischen den Menschen, nicht ‘über” ihnen gesucht werden. Immer ist der Mensch, sind Menschen die Träger des gesellschaftlichen Geschehens (1933b, 210). Ähnlich heißt es in Aufgaben und Stellung der Intelligenz’. ‘“Die Geschichte’ hat keinen selbständigen, eigenwilligen Verlauf. Was immer im Geschichtsverlauf geschieht, ist Ausschlag menschlichen Handelns, und menschliches Handeln folgt den Antrieben menschlichen Willens. Der Geschichtsverlauf ist in jedem Augenblick bestimmt durch die Handlungsweisen von Menschen” (65).

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  46. Ungeachtet aller Mannigfaltigkeit der Kulturen archaischer Gesellschaften gehört die Betonung der Multifunktionalität fast aller Einrichtungen und Abläufe zu den Standardbeschreibungen der ethnologischen Rechtsforschung (Schott 1970, 11 Of). Geiger könnte hier von der ‘Schule’ des Soziologen und Ethnologen Richard Thurnwald beeinflußt sein.

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  47. Den Reiz modernen systemtheoretischen Denkens macht es freilich aus, daß es nicht nur den Blick für die Differenzierungsgewinne, sondern gerade auch für modernitätstypische Probleme schärft. Luhmann zeigt z.B., wie die operative Geschlossenheit, die wechselseitige Indifferenz und Blindheit autopoietisch operierender Systeme aufgrund mangelnder Systemreferenzen auf teilbereichsübergreifende Gefahrdungen kaum angemessen zu reagieren vermag. Da strukturelle Kopplungen von Teilsystemen nur funktionieren, wenn sie wechselseitig ihre Autopoiesis respektieren, wird das Grundproblem der mangelnden Steuerbarkeit der Gesellschaft unmittelbar einsichtig.

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  48. So auch Emile Durkheim (1988), der ungeachtet aller Probleme hinsichtlich der moralischen Solidarität den evolutionären Stellenwert der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hoch einschätzt; sie gilt als “notwendige Bedingung der intellektuellen und materiellen Entwicklung der Gesellschaften” und “Quelle der Zivilisation” (96).

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  49. Schroff fällt deshalb Geigers Kritik an Mannheim aus, der die “unspezialisierte, hierarchisch aufgebauten Mittelalter-Gesellschaft” preist (ebd., 40).

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  50. Eine Argumentation, die auch Bertrand Russell (1953, 122) als prominenter Repräsentant des englischen antimetaphysischen Empirismus vertritt. Mit Stoßrichtung gegen die neoromantische Kulturkritik formuliert dieser schon 1931: “Wollte man den Ruf nach Rückkehr zur Natur ernst nehmen, würde dies den Tod oder das Verhungern von einigen 90 Prozent der Bevölkerung der zivilisierten Länder bedeuten.” In dem Nachlaßwerk Demokratie ohne Dogma verweist Geiger auf Russell als den für sein Denken wichtigsten Kronzeugen und Impulsgeber. Aber auch schon der Geiger der 30er Jahre empfiehlt in der für ihn so charakteristischen Diktion dem von “schweißtreibender deutscher Gelehrsamkeit zermürbte(n) Leser” die Durchsichtigkeit und Klarheit der Gedankengänge Russells (193 lo, 133).

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  51. Eine verwandte Position formuliert Heinrich Popitz (1995, 30) mit Blick auf das erreichte Niveau der Maschinentechnologie. Er schreibt, daß eine Gesellschaft, die sich auf die Technik und ihre immanenten Entwicklungen einläßt, “an sie gefesselt wird mit Haut und Haaren, in ihrer puren Überlebensfähigkeit (...) Wir können gewiß die Maschinenentwicklung partiell steuern (...) , aber wir können nicht aus der Maschinentechnologie davonlaufen.”

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  52. Diesem Dualismus entsprechend stellt Geiger den sachlich-anonymen “Gesellschaftsgebilden II. Ordnung” die persönlich-emotionalen “Gruppen I. Ordnung” gegenüber. Zwischen diesen Gegensätzen liegen realiter natürlich Übergangsformen und Varianten. Es soll also nicht behauptet werden, daß sich persönlich-intime und sachlich-distanzierte Sozialverhältnisse wechselseitig ausschließen (DoD, 41). Worauf es Geiger vor allem ankommt, ist die Einsicht, daß gerade das Nebeneinander verschiedener Ordnungen der modernen sozialen Wirklichkeit ihre Signatur verleiht.

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  53. Unter den Klassikern ist es besonders Norbert Elias, der davor warnt, die Moderne vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihrer relativ unpersönlichen Interdependenzen in den Blick zu nehmen und dabei die fortdauernden emotionalen Bindungen der Menschen zu vernachlässigen (1970, 149f).

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  54. Aufschlußreich ist der kontrastierende Blick auf die Konzeption von Tönnies. Denn deren sozialpessimistische Pointe ist ja gerade die These, daß sich unter modern-’gesellschaftlichen’ Bedingungen keine ‘wirklichen’ Gemeinschaftsbildungen — also auch nicht in der Privatheit — als konstitutive Elemente der Gesellschaft entwickeln können; vielmehr wird behauptet, daß mehr oder weniger alle ‘gemeinschaftlichen Formen’ unter die Räder der ‘Gesellschaft’ und des in ihr vorherrschenden ‘Kürwillens’ geraten.

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  55. In den 60er Jahren bedient sich René König (1965, 557ff.) in ebenfalls anti-kulturkritischer Stoßrichtung in Anlehnung an Geiger genau dieses Arguments.

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  56. Diese genuin systemtheoretische Denkfigur findet in der Familiensoziologie in der bekannten Ogburn-schen These vom Funktionsverlust der Familie ihr Fortleben. In Deutschland sind es insbesondere René König und Hartmann Tyrell, die systemtheoretisch argumentierend das Zusammenspiel von Funktionsentlastung und Funktionssteigerung in der Familie thematisieren. Im gleichen theoretischen Kontext geht Meyer (1992) dem aktuellen Strukturwandel privater Lebensformen nach.

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  57. Eine Perspektive, die sich ganz ähnlich wenige Jahre später in Helmut Schelskys Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953) wiederfinden wird, wo die große Bedeutung der auf Restfunktionen konzentrierten Familie als Stabilitätsrest der Gesellschaft hervorgehoben wird. Anders als bei Geiger dominiert dort eine Perspektive, die den Menschen durch die ausgreifenden Funktions- und Organisationssysteme in seinen direkten Personbeziehungen gefährdet sieht (1973, 415). Dem entspricht die von Hans Freyer (etwa: 1955, 28) behauptete Vorherrschaft sekundärer Systeme, deren Superstrukturen der moderne Mensch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sei. Aber auch Arnold Gehlen, der vorgibt, sich von einer “gereizten Kulturkritik” abzuheben (1956, 1150), gelingt es in seinen Zeitdiagnosen nur allzu selten, sich der Suggestionskraft des Verdinglichungstheorems zu entziehen. Nicht anders ist die Sicht Adornos, der sich ebenfalls mißtrauisch zeigt, ob die Familie als Bollwerk gegen die Versachli-chungsprozesse kapitalistischen Wirtschaftens und bürokratischer Verwaltung standhält (1956).

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  58. Die Massenkritik verdankt nach Luhmann vor allem der Idealisierung des Individuums als Persönlichkeit ihre vordergründige Plausibilität: Weil die Struktur unserer Sozialordnung das Erleben und die Erlebniserwartung auf die konkrete Einmaligkeit des Menschen lenkt, finden wir da unsere Enttäuschungen. Das unentwegte Suchen nach ‘echten Persönlichkeiten’ und der Jammer mit dem Massenmenschen sind Folgen dieser sozial präformierten Optik (1965, 50).

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  59. Bekanntlich zählt die Rollentheorie auf deutschem Boden erst seit den 60er Jahren im Anschluß an Ralf Dahrendorfs (kritischer) Rezeption der amerikanischen Rollentheorie von Ralph Linton und Talcott Parsons im Homo Sociologicus (1977) und der dadurch ausgelösten Grundlagendiskussion zum Kernarsenal soziologischen Denkens.

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  60. Daß im Unterschied zu den strukturell festliegenden Rollenkombinationen einfacher Sozialordnungen in der Moderne gerade umgekehrt das Individuum als das Konkrete erscheint, von dem in sozialen Rollen stets nur spezifische und insofern abstrakte Ausschnitte sichtbar werden, bildet das Herzstück der einige Jahre später in Deutschland kursierenden rollentheoretischen Modernitätssicht, so etwa bei Luhmann (1965, 50) und Hans-Peter Dreitzel (1980). Letzterer diskutiert das Phänomen der Vervielfältigung der Rollen und der Isolierung der Verhaltenbereiche. Außerdem werden — und dies ist schlechterdings konstitutiv für Dreitzels Sicht — die Pathologien des Rollenverhaltens (Verdinglichung, Affektverdrängung, Fragmentierung) diskutiert.

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  61. Geiger begrüßt den Individualismus aber auch aus politischen Gründen. Mit ihm verbindet er die -historisch leider nur allzu drastisch widerlegte — Hoffnung, daß sie die Bevölkerung weniger “regierlich” mache. Geiger: “Die Schar eigenständiger, aufgeklärter, selbstverantwortlich denkender Persönlichkeiten duldet weniger leicht, daß ein Führer für sie denkt, als eine Schar mehr nach der Seite des Gemüts hin entwickelter Menschen” (1928b, 85).

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  62. Emile Durkheim unterstreicht aber, daß die Freisetzung vom Druck institutionalisierter Verhaltenszumutungen in Form von neuen normativen Erwartungsimperativen wiederkehrt: “Niemand bestreitet heute mehr den verpflichtenden Charakter der Regel, die uns befiehlt, eine Person und immer mehr eine Person zu sein” (Durkheim 1977, 445f). Dieser Idee folgt Parsons mit seinem Konzept des “institutionalisierten Individualismus” als dem spezifischem Wertmuster der Moderne. Ein Theorem, welches in der aktuellen Individualisierungsdebatte m.E. vielzu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Ideologiekritische Überlegungen zur Semantik der Individualität, die gleichsam kompensatorisch auf die faktisch stärkere Abhängigkeit der Individuen reagiert, finden sich auch bei Luhmann (1989, 160).

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  63. Simmel arbeitet heraus, wie die je individuelle Kombination der Kreise das Individuum erst seine Unverwechselbarkeit und seinen Eigenwert gewinnen läßt. Neben diesem — die gesellschaftliche Bedingtheit hervorhebenden — “soziologischen Individualismus” betont Simmel (1968, 533) einen quasi natürlichen oder anthropologischen Besonderungs- und Individualitätstrieb des Menschen.

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  64. Es ist wichtig zu betonen, daß es Geiger hier um eine strukturell gerichtete Argumentation geht: Gemeint ist, daß der moderne im Vergleich zum vormodernen Gesellschaftsaufbau strukturell eine Freisetzung des einzelnen hervorbringt. Dies heißt nicht, daß die konkreten zeitgeschichtlichen Umstände und das konkrete Handeln der Akteure diese Strukturbedingungen nicht zumindest ein Stück weit unterlaufen können. Geiger: “Die Gesellschaft der Gegenwart gibt kraft ihrer Gesamtstruktur dem Einzelnen größere Möglichkeiten des Für-sich-selbst-seins. Damit ist freilich nicht gesagt, daß er sich dieser Möglichkeit auch bedient” (DoD, 50).

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  65. Dieser Gesichtspunkt gehört unter dem Terminus der Pluralisierung der sozialen Lebenswelten zu den Angelpunkten einer der phänomenologischen Wissenssoziologie verpflichteten Modernitätsanalyse, die davon ausgeht, daß der einzelne sich früher “stets in der gleichen Welt” befand, während die Moderne den Menschen in den verschiedensten Bereichen des Alltagslebens mit sehr verschiedenartigen, wenn nicht gegensätzlichen Bedeutungs- und Erfahrungswelten konfrontiert (Berger/Berger/Luckmann 1975, 60).

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  66. Auch in Geigers Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, die den Wandel der Sozialkontrolle im Zuge der Herausbildung der Rechts- und Staatsgesellschaft behandeln, sind es die “außerordentlich intensive” Einschmelzung des einzelnen in die enge Wertgemeinschaft und der geringe Grad persönlicher Emanzipation, die die Stellung des einzelnen in der archaischen Sozialordnung bestimmen (RS, 134).

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  67. Emile Durkheim (1988, 182) spricht davon, daß die Bewegungsfreiheit und die Individualität “gleich Null” ist. Für ihn ist vor allem der “‘Despotismus des Kollektivbewußtseins’”(Tyrell 1985, 19) die Instanz, die den einzelnen in die Gesellschaft einschmilzt und die Ausbildung differenzierter Bewußtseins-formen verhindert.

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  68. Vgl. hierzu auch den Überblicksartikel von Schroer (1997), der die Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen Individualisierungsansätze prägnant herausarbeitet.

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  69. Während Simmel den Differenzierungsprozeß anfangs unumwunden begrüßt, wird er in den Schriften seit dem Ausgang der 90er Jahre in zunehmend dunkleren Farben gezeichnet. Besonders in der Philosophie des Geldes öffnet sich Simmel dem entfremdungstheoretischen Diskurs und rückt das Problem einer zunehmend gefährdeten ganzheitlichen Subjekthaftigkeit ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit (vgl. hierzu auch: Frisby 1984; Breuer 1996, 236ff).

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  70. Drastischer noch verläuft die Debatte in der frühen französischen Sozialtheorie, wo der Individualismus von Alexis de Tocqueville über Henry Saint-Simon und Louis G.A. de Bonald bis Emile Durkheim fast nur unter negativen Wertvorzeichen diskutiert wird. Dem spezifisch modernen Mangel an Einbindung und normativer Orientierung sowie den Problemen eines überschießenden Egoismus gilt die Aufmerksamkeit (Tyrell 1993, 127f).

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  71. Dieses Arguments bemächtigt sich auch Norbert Elias bei seiner Beschreibung des Zivilisationsprozesses: Mehr und mehr Menschen lebten in wachsender Abhängigkeit voneinander, während jeder Einzelne zugleich verschiedener von allen wurde (Elias 1987, 185). Simmel spricht im gleichen Zusammenhang treffend von “individualisierender Differenzierung” (1968, 529). 170 Emile Durkheims Tragik der Modernität findet sich bekanntlich in dem Befund einer sich zur Dauerkrise auswachsenden Anomie, die die Handlungssicherheit der Individuen sowie die Integration der Gesellschaft insgesamt in Frage stellt. Die Sinnstrukturen der verschiedenen, ihren eigenen Gesetzen folgenden Gesellschaftsbereiche und die von ihnen bestimmten sozialen Rollen können — so sein Befund -keinen zusammenhängenden, dem einzelnen subjektiv einleuchtenden, kollektiven Moral- und Sinnzusammenhang mehr errichten. Vgl. hierzu auch den von Durkheim (1990) aufgewiesenen Zusammenhang von individualistischer Vereinzelung und Selbstmord. Wenn man von Marx absieht, der die Anomie zum bürgerlichen Scheinproblem degradiert, gehört das Problem normativer Desorientierung zu den Themen, die alle Klassiker bewegten.

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  72. Horst Pöttker (1997, 327, Fn. 81) interpretiert diese und andere Stellen aus Demokratie ohne Dogma als Beleg für die vorsichtige Nähe Geigers zum Entfremdungsdiskurs — eine Deutung die m.E. Miß-verständnisse nahelegt: Denn nicht die von der Zivilisationskritik so überstrapazierte Entfremdungsthematik, sondern die Nichtangepaßtheit des Menschen an die Moderne ist es, die Geiger primär umtreibt. 172 Peter Berger et. al. (1975, 168) halten der “befreienden Wirkung” der Modernität den “hohen Preis” der “Heimatlosigkeit” entgegen. In ähnlicher Diktion hebt Thomas Luckmann (1979, 293) die “massenweise Problemhaftigkeit” der Identität als ein hervorstechendes Merkmal komplexer Gegenwartsgesellschaften hervor. Ohne die Relevanz dieser Diagnosen pauschal in Abrede zu stellen, bedeutet dies doch -wie Uwe Schimank (1985, 447) treffend feststellt — eine “Bankrotterklärung” soziologischer Aufklärung, da deren Daseinsberechtigung doch nur in dem Maße besteht, wie es ihr gelingt, das Alltagsbewußtsein zu überschreiten.

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  73. Auch Ralf Dahrendorf (1981, 92) meint, daß hinter den modernen Idealen der Autonomie die Gefahr eines Orientierungsverlusts lauert: “Je näher Gesellschaften an die Realisierung des Traums vom autonomen Menschen kommen, desto klarer entdecken sie, daß der autonome Mensch tatsächlich der anomische Mensch ist. Die Ketten waren nämlich auch Bindeglieder zur Welt, Ariadnefaden der Orientierung.”

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Meyer, T. (2001). Fragen zur Struktur und Ordnung moderner Gesellschaften. In: Die Soziologie Theodor Geigers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89595-0_7

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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