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Geiger und der Nationalsozialismus

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Zusammenfassung

Zur postulierten Sonderstellung Geigers gehört es, daß er nicht zur “arglosen Gesellschaft im universitären Elfenbeinturm” (Körte 1992, 136) zählte, die sich in politischer Ahnungslosigkeit von den Zielen und der Dynamik des Nationalsozialismus überraschen ließ. Ganz im Gegenteil: Geiger war eine der seltenen Ausnahmen, die sich nicht nur schon vor 1933 wissenschaftlich mit dem Nationalsozialismus beschäftigten, sondern diesen auch einer ausdrücklichen Bewertung unterzogen. Aber auch eine Sichtung seines Spätwerks bezeugt: Das für die Nachkriegsjahre der Soziologie so charakteristische Beschweigen des ‘Dritten Reiches’ findet in ihm keinen Anhänger; weite Teile seiner Beiträge etwa zur Demokratietheorie, zur Soziologie des Rechts, der Intelligenz und der Massengesellschaft müssen teils als direkte teils als indirekte Auseinandersetzung mit dem braunen Terror gelesen werden.

Er war enorm prägnant, manchmal scharf und sogar sarkastisch und hielt mit seinen politischen Ansichten, wenn sie am Platze waren, nicht zurück. Er war, glaube ich Sozialist, jedenfalls entschieden gegen die Nazis und hatte das so deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er seine geliebte Katze in den ersten Märztagen 1933 zerstückelt mit einer gemeinen Drohung vor seiner Wohnungstür fand.

Nellie Friedrichs (1973), (Studentin von T. Geiger)

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Literatur

  1. Svend Riemer (1932) ist als weiterer Vorläufer der hier formulierten These vom Mittelklassen-Extremismus zu erwähnen. Ihm gebührt zusammen mit Geiger das Verdienst, die später von Seymour Martin Lipset geprägte und immer noch geläufige Formel vom Extremismus der Mitte frühzeitig vorbereitet zu haben. Auch wenn die These von der faschistischen Anfälligkeit der Mitte mittlerweile gewisse Relativierungen erfahren hat, ist sie in ihrem Kern als empirisch fundiertes soziologisches Deutungsmodell des Nationalsozialismus unwidersprochen geblieben. Dies bestätigt auch Jürgen W. Falters (1991) brillante Grundlagenstudie, die der Komplexität der Wählerbewegungen zur NSDAP nachgeht. Dort wird zwar die pauschale Mittelstandsthese in aller Vorsicht durch den Befund einer höheren Anfälligkeit der Arbeiter und einer niedrigeren Anfälligkeit der Angestellten für den Nationalsozialismus etwas eingeschränkt. Die Mittelschichten insgesamt stellen aber mit relativer Stabilität auch nach dieser Untersuchung mit ca. 60% einen überproportional hohen Anteil der NSDAP-Wähler (371), so daß Falter seine Ergebnisse in dem Bild einer Volkspartei des Protests mit Mittelstandsbauch zusammenfassen kann. Zur ungebrochenen Aktualität der Mittelstandsthese siehe auch Kraushaar (1994).

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  2. Hinter dieser schichtungssoziologisch inspirierten Vorgehensweise fallen die späteren Deutungen Emil Lederers (1979/1940) und Hannah Arendts (1951, 515ff.) wieder zurück, die amorphe, unbenannte Massen ins Zentrum ihrer Faschismusanalysen rücken. Die moderne Massengesellschaft in ihrer “völligen Ungegliedertheit” sei es, so etwa Hannah Arendt (ebd. 516), die dem totalitären System den Boden bereitet habe.

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  3. Lage und Mentalität “des kleinen Büroangestellten, des smarten Verkäufers, des ein wenig zunftstolzen, oft eigenbrötlerischen technischen Angestellten und der älteren Garde der Werkmeister sind notwendig verschieden” (Geiger 19301, 645).

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  4. Angeregt wird Geiger hier von der einflußreichen Angestelltenkritik Siegfried Kracauers (1971) in einer Artikelserie der Frankfurter Zeitung aus dem Jahr 1929. Ganz im Einklang mit Kracauer prangert Geiger das an der Illustriertenkultur orientierte, angestrengte Distinktionsstreben des ‘Stehkragenproletariats’ an.

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  5. Der eklektische Charakter des nationalsozialistischen Ideenguts läßt Martin Broszat (1960, 21) von einem “bewußt unbestimmten” “Ideenbrei” und “Mischkessel” als Charakteristikum der braunen Weltanschauung sprechen. So auch Geiger, wenn er in Demokratie ohne Dogma von einem “gemischten Salat, dessen Ingredienzien von allen Ecken und Enden her zusammengerafft sind” , redet (DoD, 18). Schon Anfang der 30er Jahre heißt es bei Geiger: Die NSDAP ist in ihrer Substanz so “ideenarm wie ihr rhetorischer Häuptling” (1930e, 649).

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  6. Dieses Schlagwort, meinte Geiger, sei “besonders wirksam bei der Lehrerschaft und in der intellektuellen Jugend. Den Landlehrern — als begeisterte kleine Heimatforscher nicht wenig romantisch angehaucht — sagt die Forderung der Pflege des alten Volkstums mächtig zu. Kriecks ,völkische ‘Menschenformung’ klingt ihnen lieblich in den Ohren: Es ist so viel bedeutungsvoller, ‘die Nation zu ihrer geistigen Form’ zurechtzukneten, geistiger Führer zu sein, statt ein bescheidener Lehrer des Einmaleins” (19301, 650).

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  7. Die letztgenannten Topoi zielen nach Geiger auf das Beamtentum: “Hier sind viele Ressentiments als Rückstände gekränkten Ehrgeizes aufgesammelt; namentlich bei den (uniformtragenden) unteren Eisenbahnbeamten, den Zöllnern und Förstern solle die Propaganda der NS. stark eingeschlagen haben — genau wie bei der Reichswehr, die nicht nur durch die Wehrpolitik der SPD verschnupft ist, sondern eben überhaupt einen Machtstaat braucht, um Bedeutung zu haben. Die Kleingewordenen rebellieren” (Geiger 19301, 650).

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  8. Die sozialistische Rhetorik kann Geiger nicht darüber hinwegtäuschen, daß die NSDAP einen “nicht gerade geringen Teil” an Unterstützung den “deutschen Großkapitalisten verdankte, die dafür im Gegenzug von den störenden Faktoren der Gewerkschaften befreit wurde” (1934b, 4).

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  9. Wobei die Agitatoren des Nationalsozialismus, wie Geiger anmerkt, vom Marxismus sogar “in seiner plumpesten Form” sowenig Ahnung haben “wie ihre geduldigen Zuhörer. Je unklarer die mit dem Wortsymbol verbundene Vorstellung ist, desto leichter übt sie auf die verschiedenen Kreise spezifische Wirkung aus” (1930e, 649).

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  10. Vgl. jetzt die instruktive Studie von Franz Janka (1997), Die braune Gesellschaft, die mit guten Gründen vorschlägt, die Gemeinschaftsidee zum zentralen Angelpunkt einer Soziologie des Nationalsozialismus zu erheben.

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  11. Dieser “gesinnungsmäßigen Verspießerung” entspricht die zur Konvention erstarrte Protestkultur: “Es gibt heute ein Maifeier- und ein Demonstrationsspießertum, das peinlich anmutet, weil es dem Sinn der Demonstration zuwiderläuft; ich war vor einigen Wochen ehrlich erschüttert, als ich einen Zug kommunistischer Demonstranten vorüberziehen sah. Solofrage und Sprechchorantwort sind im katholischen Umzugsritus heute, nach Hunderten von Jahren, noch nicht so abgeleiert, wie sie hier erscheinen. Die Massendemonstration wird schon zur geprägten, gültig-allzugültigen Form; sie ist öfter geübt worden, als die Volksseele kochen kann” (1931g, 550).

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  12. Ähnliches gilt nach Geiger für die in der Verelendungsthese behauptete Durchgangsstufe der Proletarisierung, die auf den alten Mittelstand nur abschreckend wirken kann.

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  13. Im Kollektivbewußtsein des Mittelstands verbindet sich nach Geiger, anders als bei der Arbeiterschaft, mit dem Begriff des “Proletariats” nicht die historische Erfahrung der gemeinsamen Kämpfe und Leiden um gesellschaftliche Emanzipation. Für die Angestellten fällt die Assoziation der stolzen inneren Beteiligung am Aufstieg der Klasse somit fort. Außerdem ist es der als Prestigeverlust empfundene Lohnarbeiterstatus, der sie eine entschiedene Abgrenzung gegenüber dem Proletariat suchen läßt.

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  14. Geiger ist der Meinung, daß die SPD es aus ihrem falsch verstandenen Internationalismus heraus versäumt habe, nach dem Versailler Vertrag eindeutiger gegen die Kriegsschuldthese und die Reparationsleistungen Stellung zu beziehen.

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  15. Geiger betrachtet schon in seinem ‘Masse-Buch’ (1926) die Sozialisierung der Wirtschaft nur als “vorläufig” (49, Hervorh. T.M.) noch nicht erreicht. Er glaubt für die Gesellschaft seiner Zeit — die er vor wie auch nach dem Krieg “Zeitalter des Spätkapitalismus” (1929a, 673; IW, 85) nennt — Ansätze einer Wirtschaftsdemokratie und “Vorahnungen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung” entdecken zu können (1929a, 673). In den Schriften der folgenden Monate zeigt er sich dann allerdings skeptischer, wobei er — mit Stoßrichtung gegen die ihm verhaßte KPD — die Schwierigkeiten erwähnt, auch nur eine halbwegs einheitliche sozialistische Front herzustellen (193le, 622).

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  16. Damit ist aber zugleich gesagt, daß der Staatsform mit all ihren Mängeln keine “Art von Ewigkeitsgeltung” eingeräumt werden soll. Der Sozialismus bleibt das Ziel, weshalb auch “eine zu unbedingte” Geltung des Parlamentarismus abzulehnen sei (1931g, 553).

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  17. Deshalb tut Geiger sich auch schwer damit, die so häufig angeprangerte Verbürgerlichung des Proletariats vorwiegend unter negativen Vorzeichen zu diskutieren.

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  18. Der gradualistisch-antirevolutionäre Politikbegriff Geigers deckte sich mit der realpolitischen Legalitätstaktik von Führung und Mehrheit der SPD. Die jüngere Forschung zeigt, daß die Weimarer Sozialdemokratie mehr oder weniger durchgängig in einem überaus spannungsreichen Verhältnis zur Oktoberrevolution und dem sowjetischen Modell überhaupt stand. Spätestens seit Mitte der 20er Jahre optierte sie eindeutig für eine Westorientierung Deutschlands (Zarusky 1992).

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  19. Ich zitiere nachfolgend nach einem unveröffentlichten Übersetzungsmanuskript, welches Philipp Micha im Auftrag von Rainer Geißler und mir besorgte. Meine zweite Textgrundlage bildet ein unveröffentlichte Manuskript aus dem Nachlaß Geigers mit dem Titel Der Nationalsozialismus in soziologischer Perspektive (o.J. UN), welches sich, abgesehen von einigen wenigen Ergänzungen, weitgehend mit dem Beitrag in Socialt Tidsskrift deckt.

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  20. Daß der Nationalsozialismus mit Vehemenz auf die Bühne trat und sich als Bewegung revolutionärer Veränderung versteht, ist deshalb kein Widerspruch zur Logik der Argumentation, weil die intendierte Abkehr von der Dynamik, so Geiger, nur ein einmaliges, letztes dynamisches “Ausschwingen” hin zur stationären Epoche des Dritten Reichs meint (1934b, 6).

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  21. Das nationalsozialistische Pendant zum dynamischen Unternehmer war nach Geiger die im statischen Denken verhaftete Rolle des NS-Betriebsführers.

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  22. Die Vorstellung, daß Stände im Unterschied zu bloßen Klassenaggregaten echte Gemeinschaften seien, wird Geiger nach dem Krieg mit harscher Kritik überziehen. Vor allem über Othmar Spann als herausragenden Repräsentanten anti-demokratischer Gemeinschaftsideologie ergießt sich die ganze Polemik Geigers: “Den Gipfel der Torheit hat in dieser Hinsicht O. Spann im Artikel über Klasse und Stand im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (24. Auflage) erklommen, und es zeugt von geringer Umsicht der Redaktion, daß sie dem metaphysischen Sterndeuter in Wien gerade dieses Stichwort zur Mißhandlung überließ” (1955, 442). Siehe hierzu auch Lothar Gall (1995), der die ideologischnormativen Implikationen des Ständekonzepts deutlich herausarbeitet.

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  23. Wobei das Tragische, wie Geiger hinzufügt, weniger diese Forderung als der Sachverhalt ist, daß die “Intelligenz zum großen Teil offenbar nur allzusern bereit ist, dieses sacrificium darzubringen” (o.J. UN, 27).

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  24. Aber nicht nur auf Seiten der Intelligenz, sondern auch unter den breiten Massen des Volkes sieht Geiger die “Mystik in tausend Gestalten (wuchern)” (DoD, 17): “Der Katholizismus erlebte eine neue Blüte, die Glaubensphilosophien Persiens und Indiens kamen in Mode, Rabindranath Tagores Vortrags-reise durch Europa wurde zum Siegeszug des Pantheismus, die christlichen Mystiker des Mittelalters wurden durch Neudrucke der Vergessenheit entrissen, Martin Buber, heute Professor der Soziologie in Jerusalem, brachte sogar die Kabbala und die Wunderlegenden der Chassadin zu Ehren” (DoD, 17).

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  25. Mittlerweile gehört es zum commen sense der NS-Forschung, die Gemeinschaftsideologie ins Zentrum der nationalsozialistischen Modernitätsablehnung zu rücken. Sieferle schreibt hierzu (1984, 211): “Der Nationalsozialismus versprach nicht nur eine Rettung des sozialen Status, sondern die Verwirklichung des utopischen Traums von einer gesellschaftlichen, rassischen und kulturellen Einheit in der Volksgemeinschaft. Wunschziel vieler seiner Anhänger war die ‘Rückkehr’ in die vermeintliche Identität einer nichtzerrissenen, d.h. nicht in autonome Subsysteme differenzierten Lebenswelt, mit dem Versprechen von Einheit, Gemeinschaft, Rücknahme der psychischen und kulturellen Irritationen und Zumutungen der Moderne.”

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  26. Vertreter der neueren Romantikforschung widerstreiten freilich einer allzu engen Verbindung von Romantik und Faschismus und betonen die spezifisch modernen Seiten der Romantik (Mederer 1987; Klinger 1995, bes. Kap. 6).

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  27. Der romantischen Innenschau der Lebensphilosophie stellt Geiger mit unverhohlener Sympathiebekundung den realistischen Pragmatismus des “nüchternen Englands” gegenüber (DoD, 23): In Deutschland wird die “Seele (...) auf den Thron erhoben, der vermeintlich unfruchtbare Intellekt auf die Schandbank gesetzt. Die Gestaltungen des äußeren Daseins werden zugunsten des Innenlebens entwertet. Man schwelgt in Gefühl und Stimmung, achtet handfeste Tätigkeit und Leistung gering. Das organisch Lebendige (wird) angebetet, das künstlich Geschaffene verachtet. Ein wahrer Kreuzzug wird entfesselt gegen alles das, wofür der Engländer seine Ehrfurcht ausdrückt in den Worten The Established Things of Life. Brütende Innenschau siegt über nüchterne Umschau in der Welt der Dinge” (DoD, 11).

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  28. Die vielfältigen Affinitäten und Berührungspunkte zwischen der — mit der Soziologie vielfach verbundenen — Jugendbewegung und der nationalsozialistischen Ideologie sind mittlerweile schon häufig untersucht und belegt worden (etwa: Becker 1946; Pross 1959; Hartmann 1972). Wenn Walter Z. Laqueur (1962, 7) schreibt, daß die Jugendbewegung “in ihrer Art ein Mikrokosmos des Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts” war, deckt sich dies unmittelbar mit der Sicht Geigers.

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  29. Geiger führt aus: “Nicht in dem naiven Sinne, daß nun irgendein benannter Stammvater des Nationalsozialismus gefunden, irgendeine philosophische Richtung zur unmittelbaren Vorläuferin der Hitlerbewegung ernannt werden sollte. Die vielen mehr oder minder geistreichen Versuche dieser Art sind nur zu belächeln. Bald soll Fichte verantwortlich sein, dessen deutscher Nationalismus sich gegen Napoleon, den Diktator, richtete, bald Nietzsche, der den Staat haßte, oder Friedrich Wühlern Hegel, der ihn vergötterte, bald Bismarck, der preußisch-deutsche Imperialist. Die ganz Tiefsinnigen beschuldigen den angeblich ‘totalitären’ Katholizismus, andere seinen religiösen Gegenfüßler Luther, die eigentlichen Bahnbrecher und Vorläufer des Nazismus zu sein. Es kennzeichnet solche Behauptungen, daß für jeden einzelnen plausible Gründe angeführt werden können, obwohl die genannten Männer und Richtungen durch Ab-gründe voneinander geschieden sind” (DoD, 18).

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  30. In Anlehnung an die Meinung Geigers sieht Horst Pöttker in dem modernitätsfeindlichen, romantisch-zivilisationskritischen Gehalt des Nationalsozialismus dessen Erfolg begründet: “Der Faschismus ist in seiner Ideologie eine romantische, regressive Bewegung, die ihren Erfolg den psychischen Defiziten verdankt, die in scheinbar eigendynamischen Sozialstrukturen und gegenüber bürokratischen Großinstitutionen typischerweise entstehen. Indem er das Grundbedürfnis nach umweltprägender Aktivität und zwischenmenschlicher Wechselwirkung, das in solchen Verhältnissen leicht, aber nicht notwendig unverhüllt bleibt, durch ebenso vollmundige wie unerfüllbare Versprechen beispielsweise auf ein selbständiges ‘Schmieden’ der eigenen Zukunft durch Krieg, auf die schützende Wärme einer Volks-’GemeinschafV oder eben auf die unmittelbare Interaktion mit dem ‘Führer’ zu stillen vorgibt, vermag er Massen zu überzeugen und zu ergreifen” (1997, 281).

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  31. Diese Konzeption entspricht strukturell der in der Protestantismusthese Webers aufgezeigten Wirkung von Ideen, die dann, wenn sie eine weite Verbreitung finden, in der Lage sind, bestimmte soziale und politische Begegnungen zu begünstigen, ohne darum deren einzige Ursache zu sein.

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  32. Bemerkenswert ist es, daß auch Hans Freyer den Nationalsozialismus in der Kontinuität kulturkonservativer deutscher Geistestraditionen sieht. Allerdings sind hier die normativen Vorzeichen umgekehrt wie bei Geiger: Der Nationalsozialismus wird als Krönung der Kulturkritik und der Jugendbewegung der Jahrhundertwende begrüßt (Stern 1984, 17).

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  33. Seit 1930 lautet das Motto Joseph Goebbels, “die modernsten Werbemittel in den Dienst unserer Bewegung zu stellen” (zit. nach: Westphal 1989, 27).

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  34. Etwa: Bracher (1978), Mommsen (1991, 408, 418ff), Reichel (1991, bes. Kap. 5). Die Forschungsergebnisse zeigen aber auch, daß der Anspruch der nationalsozialistischen Propaganda, alle Poren der Gesellschaft zu durchdringen, an der Realität scheiterte; dennoch erreichte sie in der Endphase der Weimarer Republik einen bis dahin in Deutschland unbekannten Gipfelpunkt.

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  35. Schon in der Faschismusanalyse Emil Lederers (1970/1940) findet sich die These von der propagandistisch erzeugten Emotionalisierung der Gesellschaft.

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  36. Die spezifisch modernen Seiten des Nationalsozialismus und seine Affinitäten zur Technik sind es dann auch, die Geiger immer wieder vor dem Zusammenspiel fortentwickelter Propagandamethoden und modernster Kriegsmittel warnen lassen (1955d, 77): “Wo mit Kollektivgefühlen geladene Menschenmassen und moderne Großtechnik einander begegnen, dort lauert soziales Chaos und brutale Diktatur um die Ecke” (1952a, 73; vgl. auch 1955d, 79).

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  37. Peter Reichel (1991, 43, 102) unterstreicht ebenfalls die widersprüchliche nationalsozialistische Doppelstrategie und spricht in Anlehnung an den britischen Historiker Jeffrey Herf treffend von “reaktionärer Modernität” (101). Georg Lukacs meint nichts anderes, wenn er von der “Verschmelzung von deutscher Lebensphilosophie und amerikanischer Reklametechnik” (1954, 573) redet. Auch Rolf Peter Sieferle (1984) sieht den Nationalsozialismus als “gigantische Modernisierungsbewegung” (223) und als “technokratische Bewegung in romantischem Gewand” (221; ähnlich ders. 1995, 198ff).

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  38. Bemerkenswerte Hinweise in diese Richtung finden sich aber auch schon in Helmuth Plessners Aufsätzen über Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche aus dem Jahr 1935.

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  39. Grundlegend für den Zusammenhang von ‘deutscher Ideologie’ und Nationalsozialismus sind weiterhin die Pionierstudien von Peter Viereck (1941) und Hermann Glaser (1964). In der Soziologie kann man auch Talcott Parsons erwähnen. Dieser sieht den Nationalsozialismus als Bewegung, die “die sehr tiefwurzelnden romantischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft für den Dienst einer der aggressivsten politischen Bewegungen zu mobilisieren” wußte. Zugleich nennt er sie als die Verkörperung eines “‘fundamentalistischen’ Aufstandes gegen die rationalistische Tendenz” der Moderne (1968, 281). Und auch nach Karl R. Popper (1957/58, Bd.I, 21) entspringt der moderne Kollektivismus und Totalitarismus dem anti-modernistischen Versuch, der Last der Zivilisation zu entfliehen mit dem Ziel, die bereits eingetretene Öffnung der Gesellschaft wieder rückgängig zu machen.

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  40. In der bundesdeutschen Diskussion über den Zusammenhang zwischen Kulturpessimismus und Nationalsozialismus fand vor allem George L. Mosses The Crisis of German Ideology (1964) ein großes Echo.

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  41. Mit Fritz Stern kann man auf die wenig beachtete Arbeit von Wanda von Baeyer-Katte aus dem Jahr 1958 verweisen, die den hier interessierenden Zusammenhang auf den Punkt bringt: “Allgemein könnte man vielleicht sagen, daß der Kulturpessimismus als Epochenstimmung beim Auftreten des Nationalsozialismus bereits einen Grad der Verbreitung und Eingängigkeit in die Gemüter erreicht hatte, daß er gewisse Menschen für einen plötzlichen Umschlag aus einer bloß anklagenden in eine neue aktive Haltung reif machte” (zit. nach Stern 1986, 346). Auch die schon mehrfach erwähnte Studie Kurt Sontheimers Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1978, zuerst 1962) verdient es in diesem Zusammenhang, nochmals hervorgehoben zu werden. Ohne sich mit dem Nationalsozialismus genauer auseinanderzusetzten, gilt das Interesse dort dem geistigen Irrationalismus, der durch die Verdrängung der kritischen Vernunft zum (mehr oder weniger ungewollten) Handlanger des politischen Barbarismus avancierte. Denn “aus der Verwerfung der Vernunft wurde im Endeffekt das gedankenlose und tatendurstige Schwelgen in einem Irrationalismus, der sich keinerlei Kontrollen unterwarf und im Namen neuer Werte auch das Barbarischste und Inhumanste zu rechtfertigen bereit war” (63). Vgl. hierzu auch die Arbeit von Rolf Peter Sieferle (1984, Kap. 17), der die tieferliegenden Verbindungslinien zwischen Kulturpessimismus und Nationalsozialismus bloßlegt.

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  42. Peter Reichel (1991) interpretiert in seiner instruktiven Arbeit zur Massenpropaganda und Ästhetik des dritten Reichs den Nationalsozialismus ähnlich als Protest gegen die Entzauberung der modernen Welt, der sich, so seine Interpretation, vor allem gegen die “‘Entartungserscheinungen’ der ästhetischen Moderne” (45) richtete.

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  43. Eine Deutung, wie sie in jüngerer Zeit besonders von Zygmunt Bauman (1989; 1995) vorgetragen wird, der nachdrücklich ein der Hybris der Moderne entsprechendes Selbstdestruktionspotential betont. Die Verbrechen Hitlers (aber auch Stalins) erscheinen hiernach als extreme Fälle einer rationalistischen Sozialtechnologie und als “legitime Kinder des modernen Geistes” (1995, 45, Hervorh. T.M.). Auch Carola Klinger (1995) stellt die These vom Faschismus als antimoderner und romantischer Revolte vor dem Hintergrund der neueren Romantikforschung vehement in Frage. Nach ihrer Auffassung geht das Problem des Totalitarismus weniger von antimodernen Ressentiments als von bestimmten Entwicklungen der Moderne und ihrer Rationalität selbst aus. Für sie stehen die Romantik wie auch der Faschismus auf dem Boden der Moderne. Der Nationalsozialismus wird am Beispiel der ihm eigenen ästhetischen Prinzipien als “modern itäts form ige Ideologie” (199) beschrieben. Indem Klinger allerdings betont, daß der Nationalsozialismus das “in der Moderne verdrängte Thema” (204) nach Sinn, Ganzheit und Einheit auf seine Fahnen schrieb und damit zielgenau die der Moderne eingeschriebenen Schwachstellen besetzte, ist sie von den Analysen herkömmlicher Art, die sie kritisiert, gar nicht so weit entfernt, wie sie glauben machen will.

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Meyer, T. (2001). Geiger und der Nationalsozialismus. In: Die Soziologie Theodor Geigers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89595-0_5

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