Zusammenfassung
Mit der Aufklärungslehre des Intellektuellen Humanismus versucht Geiger in seinem eigens als “nichtwissenschaftlich” (1968, 162) apostrophierten politischen Vermächtnis Demokratie ohne Dogma sein Wunschbild einer “kritisch-aufgeklärten Gesellschaft” (DoD, 203) auf den Begriff zu bringen. Geprägt von dem lebensgeschichtlich folgenreichen Zentralereignis des Nationalsozialismus ist es sein Grundmotiv, wie er mit ungewohntem Pathos formuliert, “die Sache des Menschen zu führen, des ewig getretenen, gequälten, geschändeten” (DoD, 8); dementsprechend heißt die ihn umtreibende Frage, welche politischen und sozialen Ordnungsformen den Rückfall in die Barbarei verhindern und ein demokratisches Zusammenleben garantieren können.516
Ich weigere mich, die intellektuelle Entwicklung der Menschheit als abgeschlossen, ihren Gipfel als erreicht zu betrachten. Vielmehr scheint mir der größte Fehler der bestehenden Gesellschaft der zu sein, daß sie bisher den Menschen planmäßig daran gehindert hat, seinen Intellekt gleichen Schrittes mit der Rationalisierung der Gesellschaft und ihres Daseinsapparates zu entwickeln.
Theodor Geiger (DoD)
Chapter PDF
Literatur
Trotz der bedeutungsvollen demokratietheoretischen Implikationen vieler Schriften von Geiger und seines gesellschaftspolitisch engagierten Wissenschaftsethos ist — um es nochmals zu sagen — die nachträgliche “Entpolitisierung” seines Werks zu beklagen (Baier 1987; Trappe 1978, 254).
Parallelen zum späteren Wunschbild einer ideologiefreien, offenen Gesellschaft im Sinne des Kritischen Rationalismus sind nicht zu übersehen, wenn Hans Albert (1975, 88f.) schreibt: Aufklärerische Ideologiekritik hat die Aufgabe, “die Irrationalität des sozialen Lebens dadurch zu vermindern, daß die Ergebnisse und Methoden kritischen Denkens für die Bildung des sozialen Bewußtseins und damit auch der öffentlichen Meinung fruchtbar gemacht werden. (...) Das bedeutet vor allem die Förderung einer Erziehung zu rationalem Problemlösungsverhalten und damit zu einem Denkstil, der dem Modell kritischer Rationalität entspricht. Es kommt weniger darauf an Detailwissen zu vermitteln, als die Methoden zu lehren, die es dem einzelnen ermöglichen, sich ein selbständiges Urteil zu bilden und damit auch die Strategien der Immunisierung, Vernebelung und Verklärung (...) zu durchschauen. Die Zielsetzung solch einer Erziehung bestünde also darin, die Immunität der Mitglieder einer Gesellschaft gegen irrelevante Arten der Argumentation zu erhöhen, sie aber dafür empfänglicher zu machen für echte und relevante Kritik.” Die hierzu konträre, aufklärungskritische Sicht verkörpert Schelsky, der das Aufklärungspathos zu den Heilsideologien der Gegenwart rechnet: “Immer mehr Aufklärung durch Information, immer mehr Einsicht durch Belehrung (...) das ist das illusionäre Syndrom des sozialen Heilsglauben” und gehört zur gegenwärtigen “Herrschaftsform über die neugläubigen Massen” (1975, 374f.).
Nähen zu William F. Ogburns (1964) Konzept des cultural lag, das die nicht-synchronisierte Entwicklungsgeschwindigkeit verschiedener Gesellschaftsbereiche thematisiert, sind offensichtlich. Gleiches gilt für David Riesmans bekanntes Buch Die einsame Masse (1958), das die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von Sozialstruktur und Charakterstruktur behandelt. Vor allem Talcott Parsons gebührt das Verdienst, systematisch nicht nur zwischen der Modernisierung der Kultur und der Gesellschaft, sondern auch der des gesellschaftlichen Personals unterschieden und Dissonanzen betont zu haben. In jüngerer Zeit hat Richard Münch (1995, 57) betont, daß sich mit dem Entwicklungstempo und Anforderungsdruck der modernen Welt stets das Problem einer nachhinkenden Lernfähigkeit der Subjekte verbindet.
Im Zentrum beinahe aller Entfremdungstheorien steht das als prekär, gestört oder konflikthaft erachtete Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Israel 1972). Die Annahme eines Auseinander-fallens von subjektiver und objektiver Kultur ist den Diagnosen von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber gemein.
Dieser Sicht entsprechend schreibt Geiger zu der der modernen Gesellschaft angeblich eigenen Vereinsamungstendenz: “Ich fürchte, hier wird ein Phänomen der objektiven Sozialentwicklung unserer Epoche mit einem Namen genannt, der im wesentlichen auf bestimmte subjektive Fehlentwicklungen, auf Inkongruenzen zwischen dieser Sozialtendenz und bestimmten Charaktertypen hinweist” (1931/32, 361).
Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man weiß, daß in der konservativen Kulturkritik die Idee einer invarianten conditio humana dominierte (vgl. Lenk 1989, 31). So bestreitet Karl Jaspers (1932) beispielsweise die prinzipielle Demokratisierbarkeit der Gesellschaft, da ihr die “Durchschnittsnatur” (ebd., 92) der Massenmenschen entgegenstehe. Ähnlich argumentiert später Helmut Schelsky (1964, 403), wenn er ein Spannungsverhältnis zwischen der mobil-dynamischen Gesellschaft und dem — mehr oder weniger anthropologisch-invariant gedachten — “Sicherheitsbedürfnis des Menschen” behauptet.
Geiger: “Unsere gesamte Erziehung und unser Schulunterricht sind eine einzige, planmäßige Unterdrückung des kritischen Denkens. Die Jugend wird mit ‘Gemütswerten’ vollgepfropft statt im unbestechlichen Gebrauch ihrer Geisteskräfte geschult zu werden. Ihr angeborener Verstand wird nicht geschärft, sondern vom ersten Schultage an umnebelt. Die jungen Gehirne werden mit Gott und Vaterland und höheren Werten verkleistert” (DoD, 224).
Eine ähnliche Argumentationsfigur findet sich in einer früheren Veröffentlichung, wo es heißt: “Die gleichzeitige Zugehörigkeit des Menschen zu einer nicht mehr auszählbaren Menge gesellschaftlicher Kreise und Verbindungen ist nur in dem Maße möglich, als der Mensch zu abstraktem Denken f&hig ist, als seine intellektuellen Funktionen durchgebildet sind” (1930a, 318). Auch hier bestätigen sich also die in meiner Arbeit betonten Kontinuitätslinien innerhalb der Geigerschen Soziologie.
Wenn Geiger deshalb eine “Privatisierung des Gefühlslebens” (DoD, 99) fordert, befindet er sich auch heute noch in guter Gesellschaft. Richard Sennett führt hierzu in seinem bekannten Buch Verfall und Ende des öffentlichen Lebens aus (1986): “Mit ‘Intimität’ verbindet man Wärme, Vertrauen und die Möglichkeit zu offenem Ausdruck von Gefühlen. Aber gerade weil wir dahin gekommen sind, diese psychologischen Wohltaten in all unseren Erfahrungsbereichen zu erwarten, und weil ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens, der sehr wohl von Bedeutung ist, diese psychologischen Gratifikationen nicht zu verbieten vermag, kommt es uns so vor, als lasse uns die Außenwelt, die objektive Welt, im Stich; sie wirkt dann schal und leer” (17). Auch Norbert Elias (1970, 74) kritisiert die Tendenz, daß sich viele Menschen in Anbetracht der Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaft gefühlsbetonten sozialen Glaubenssystemen und Idealen zuwenden. Er läßt allerdings offen, ob der “glaubensmäßig-ideologische” oder “wissenschaftliche” Orientierungstyp angesichts dieser Ausgangslage das bessere Gegenrezept ist. Eindeutig ist dagegen die Antwort bei Pierre Bourdieu: Die “Welt (gewönne) viel dabei, wenn die Logik des intellektuellen Lebens, die der Argumentation und Widerlegung, sich auf das öffentliche Leben ausdehnen würde” (1992, 159).
Insbesondere in der Systemtheorie wird das spezifisch moderne Erfordernis einer erhöhten kognitiven Komplexität (Willke 1991, 84ff.) und eines “Komplexitätsmanagements” (Schimank 1983, 94ff.) akzentuiert. In Anbetracht des Anpassungsbedarfs der hochkomplexen Gesellschaft spricht Willke von einem neuen Gesellschaftstypus, der “wissenschaftlichen Gesellschaft” , in der ein “wissenschaftlich reflektiertes Handeln” der Gesellschaftsakteure “in allen Bereichen” vonnöten ist. Daß der moderne Vergesellschaftungsmodus unumgänglich eine Ich-Identität einklagt, die die Zumutungen an Abstraktions- und Koordinationsleistungen durchsteht und in der Lage ist, die konfligierenden Ansprüche und Rollen in ein und demselben Individuum koexistieren zu lassen, gehört mittlerweile zum Dauerbrenner zeitgenössischer Identitätskonzepte.
Unweigerlich fühlt man sich hier an Max Webers Beschreibung des Verantwortungsethikers erinnert, der sich dadurch auszeichnet, daß er die Fähigkeit und Bereitschaft besitzt, die Realitäten des Lebens zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein.
Als Kronzeugen für eine vom Postulat ‘erkenntnisloser Wahrheit’ geleiteten “Philosophie der Emotionen” werden Karl Barth, Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger genannt; zum letzteren wird angemerkt: “Und man lasse sich nicht dadurch täuschen, dass Heidegger heute vom Nationalsozialismus bekehrt scheint — diese Virtuosen des Paradoxes können immer auch anders. Der Welt wird sichere Ruhe nicht beschieden sein, so lange ihre Philosophen aus Gefühlen Tiefsinn brauen” (DoD, 22).
Eine unter umgekehrten Wertvorgaben formulierte Perspektive findet sich in Hans Freyers (1955, 238) Kritik des technischen Zeitalters. Dort heißt es über die Anpassungsnotwendigkeiten an die Gesetzmäßigkeiten der sekundären Systeme: “Sich anpassen bis zur völligen Einklammerung, ja zur Preisgabe einer autonomen Existenz, sich soweit reduzieren lassen, daß man zum durchlässigen Element des Systems wird und daß dieses keinen Widerstand in einer Menschlichkeit findet (...), das ist eben auch eine Möglichkeit, deren der Mensch fähig ist.”
Zur Diskrepanz zwischen parlamentarischer Staatsstruktur und Persönlichkeitsstruktur siehe auch Elias (1989, 378ff).
Dieser Maßgabe entsprechend überschreibt Geiger ein unveröffentlichtes Manuskript zu dieser Problematik mit dem Titel Demokratie — die Staatsform denkender Menschen (o.J.a UN).
Seine weitergehenden gesellschaftspolitischen Ambitionen unterstreichend, schreibt Geiger: “The epistemological illegitimacy of moral value-judgements is not merely a problem affecting the theory of ethics, it is a social-educational problem of paramount importance to practical morals” (1955g, 25).
Dementsprechend findet man bei Geiger verschiedentlich die Forderung nach einer Stärkung der “solitären Lebensform” (DoD, 87) und “individuell-rationalen Seinsweise” (NLd, 457).
Daß damit eine persönliche Wertung ausgesprochen wird, ist Geiger klar. Diese ist ja auch im Sinne des Wertnihilismus durchaus zulässig. Worauf er indes verzichtet, ist die von ihm propagierte “Erlösung der Gesellschaft von Massenidealismus und Wertpropaganda als Weg zu einer objektiv als ‘richtig’ erweisbaren Weltordnung darzustellen” (DoD, 255).
Vgl. hierzu auch Käsler (1999, 34), der gerade dieses Nachsinnen zu den Grundaufgaben einer Soziologie für das 21. Jahrhundert erhebt.
Rights and permissions
Copyright information
© 2001 Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Meyer, T. (2001). Das Programm des “Intellektuellen Humanismus”. In: Die Soziologie Theodor Geigers. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89595-0_10
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-89595-0_10
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-13620-2
Online ISBN: 978-3-322-89595-0
eBook Packages: Springer Book Archive